Es ist nur wenige Tage her, dass das beherzte Vorgehen der Polizei uns vor einem politischen Umsturz bewahrte. Das jedenfalls konnte man den regierungsnahen Medien wie der Süddeutschen Zeitung entnehmen, die titelte: „Sicherheitskräfte vereiteln rechten Staatsstreich!“ (7. Dezember, Titelseite) In der Tat, je mehr Details über den offenbar sorgfältig geplanten Putsch an das Licht der Öffentlichkeit dringen, desto mehr graust es einen, namentlich wenn man, wie der Verfasser dieses Artikels, nicht fern vom militärischen Kommandozentrum des Staatsstreiches lebt, denn im idyllischen Münstertal in Südbaden hatte Oberstleutnant a. D. Rüdiger von P., der anscheinend als Oberkommandierender der Bundeswehr vorgesehen war, seine Zelte aufgeschlagen.
Unter der Führung eines mitteldeutschen Adligen, Heinrichs XIII. zu Reuß aus der Linie Reuß-Köstritz (Motto von Reuß jüngere Linie: Ich bau auf Gott!), sollte die gesamte Staatsordnung der Bundesrepublik zerstört werden. Heinrich XIII. – leicht zu verwechseln mit anderen Mitgliedern des Hauses Reuß, da alle männlichen Reuße seit Jahrhunderten Heinrich heißen – hatte sich an die Spitze der sogenannten Reichsbürger gesetzt, einer Bewegung, die die Legitimität der Bundesrepublik als Staat leugnet und deren Loyalität ausschließlich einem imaginären deutschen Reich, letztlich dem Bismarckreich von 1871 gilt.
Aber unsere stets wachsame Innenministerin zusammen mit der Bundesanwaltschaft sorgte dafür, dass diese hochfliegenden Pläne in letzter Minute vereitelt wurden. Gut 3000 Polizisten begleitet von einer Heerschar von Journalisten – um den PR-Effekt der Aktion zu gewährleisten, waren zahlreiche Medien schon zwei Wochen vor der Razzia informiert worden; man will ja den mutmaßlichen Terroristen auch eine faire Chance lassen, belastende Unterlagen zu vernichten – führten eine flächendeckende Razzia durch und konnten 25 Rädelsführer der staatsfeindlichen Verschwörung verhaften. Ein großartiger Fahndungserfolg.
Nun kann man schlechterdings nicht leugnen, dass auch komplette Spinner gefährlich sein können, jedenfalls dann, wenn sie in den Besitz von Waffen gelangen. Mit terroristischen Anschlägen muss man in einem solchen Fall durchaus rechnen. Aber ein bevorstehender Staatsstreich? Diese Vorstellung war und ist absurd.
Ist die Sehnsucht nach dem Kaiserreich eine Gefahr für unsere Demokratie?
Es bleibt natürlich dennoch bemerkenswert, wie weit sich Menschen, die eher eine gesicherte soziale Stellung besitzen und auch nicht ungebildet sind, radikalisieren können. Besonders auffällig ist dabei, dass das eigentlich längst vergessene Kaiserreich in diesem freilich einstweilen recht überschaubaren Milieu der Reichsbürger als Gegenentwurf zur Bundesrepublik politisch inspirierend zu wirken vermag. Das Verhältnis der Bundesrepublik zu dem Staat, aus dem sie eigentlich hervorgegangen ist, zum Bismarckreich, ist mittlerweile vor allem ein komplettes Nicht-Verhältnis.
Umso auffälliger ist, dass eine allerdings sehr überschaubare Gruppe von Verschwörern sich in ihren Zielen auf diese Epoche der deutschen Geschichte bezieht. Allerdings war die Debatte um das Kaiserreich schon in anderer Form in den letzten Jahren wieder aufgeflammt. Das Haus Hohenzollern versucht bekanntlich, Kunstgegenstände, die nach 1945 entschädigungslos enteignet worden waren, für sich zu beanspruchen. Dass das den wütenden Widerspruch der Museumsdirektoren, die diese Kunstgegenstände zurzeit in ihren Sammlungen verwahren, provozierte und überdies zahlreiche Historiker und Journalisten gegen das Haus Preußen aufbrachte, verwundert nicht, zumal die Hohenzollern taktisch recht ungeschickt vorgingen. Aber aus dem Streit um das Erbe der Hohenzollern wurde doch bemerkenswert schnell eine Debatte über das Kaiserreich schlechthin, nicht nur über die preußische Königs-Dynastie, die ihr Ansehen freilich nach 1918 durch die zeitweiligen Versuche des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, sich bei Hitler einzuschmeicheln, ohnehin ramponiert hatte.
Einige bekannte Historiker wie etwa Eckart Conze in Marburg, aber auch in etwas weniger ausgeprägter Weise Andreas Wirsching in München, nahmen diese Debatte zum Anlass, den Deutschen noch einmal einzuhämmern, dass ihre gesamte Geschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch ein einziges Scheitern gekennzeichnet sei. Das gelte nicht nur für die Tyrannis des Dritten Reiches, sondern eben auch für das antidemokratische, illiberale Kaiserreich mit seiner umfassenden Unterdrückung politischer Opposition. Hier wird letzten Endes versucht, die alte Sonderwegsthese der 1970er Jahre wiederzubeleben. Sie hatte behauptet, dass Deutschland in Europa oder jedenfalls in Westeuropa eine Ausnahmestellung einnahm, weil hier im 19. Jahrhundert anders als etwa in England oder Frankreich die Modernisierung von Staat und Gesellschaft misslang und sich vormoderne Herrschaftsstrukturen behaupteten.
Diese These ist seit den 80er Jahren zunehmend demontiert worden, unter anderem mit dem Argument, dass es einen „Normalfall“ von Modernisierung nicht gebe und schon deshalb Deutschland nicht als radikale Ausnahme betrachtet werden könne, von den vielen durchaus modernen Zügen des Kaiserreiches einmal abgesehen. Aber das scheint Conze und andere nicht zu beirren. Sie sind offenbar davon überzeugt, dass nur ein kompletter Bruch mit der älteren deutschen Geschichte, also mit allen Traditionslinien, die etwa in das 19. Jahrhundert oder noch länger zurückreichen, so etwas wie Demokratie im heutigen Deutschland möglich mache. Eine solche rein negative Sicht auf die gesamte ältere deutsche Geschichte ist heute nicht weit davon entfernt, das vorherrschende politische Narrativ zu sein, wenn man sich einschlägige Reden des Bundespräsidenten anhört oder zur Kenntnis nimmt, wie unsere Außenministerin versucht, alle Spuren, die im Auswärtigen Amt an das Bismarckreich oder an Bismarck selber erinnern könnten, zu beseitigen.
Verstärkt wird diese Tendenz durch Rufe nach einer Dekolonialisierung der deutschen Geschichte. In dieser Perspektive erscheinen Bismarck, der ja in Wirklichkeit ein distanziertes Verhältnis zur kolonialen Expansion hatte, und andere führende Figuren des Kaiserreiches als klassische Vertreter von „white supremacy“, die in den deutschen Kolonien ein Schreckensregiment errichteten. Daher, so die Dekolonisierer, müssen im öffentlichen Raum alle Spuren ihres Wirkens beseitigt werden. Eine solche Sicht auf die Geschichte des Kaiserreiches hat zumindest im Umfeld der offiziellen Politik deutlich an Einfluss gewonnen, ihr Idealbild ist ein Land, das im Grunde genommen ohne geschichtliche Wurzeln auskommt, mit der Geschichte schlechterdings gebrochen hat.
Das historische Vakuum, das die offizielle Geschichtspolitik schafft, lässt Raum für die skurrilsten Phantasien
Allerdings schafft diese Geschichtspolitik ein Vakuum der Erinnerung, eine tabula rasa; in diesen leeren Raum können dann offenbar auch marginale Gruppen wie die Reichsbürger vorstoßen, um sich freihändig eine Vergangenheit nach ihrem Geschmack zu konstruieren. Die Berliner Republik wäre eigentlich gut beraten, zu einer kritischen, aber eben nicht vollständig ablehnenden Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kaiserreiches zurückzukehren, wie sie in der Bonner Republik durchaus noch vorherrschte. Wichtig wäre es vor allem, die Reichsgründung von 1871 als Teil der Vorgeschichte des heutigen Staates anzuerkennen.
Dazu müsste man allerdings erst einmal bereit sein, den Nationalstaat als solchen zu akzeptieren, wozu die Grünen meist gar nicht und die SPD nur unter großen Vorbehalten bereit ist, da man sich doch die möglichst baldige Selbstauflösung Deutschlands in einem Vereinten Europa wünscht. Dass man bei solchen Versuchen den eigenen Staat abzuschaffen, erhebliche Teile der Bevölkerung nicht mehr mitnehmen kann und diese dann anfällig werden für radikale, aber auch skurrile Formen des Protestes, sollte einen freilich nicht wundern.
Die Lage wird verschärft durch andere Faktoren. Sehr viele etablierte Politiker begegnen mittlerweile den eigenen Bürgern mit einem tiefen Misstrauen, das zuweilen an Paranoia grenzt. Sie leben in der ständigen Furcht, dass eine nicht ganz kleine Minderheit sich gegen sie auflehnt, zu außerparlamentarischem Protest Zuflucht nimmt und die Regierungspolitik in dieser oder jener Form sabotiert, wie es sich während der Corona-Krise in der Tat andeutete. Der Verfassungsschutz hat sich auch schon auf diese Fährte begeben und eine Tendenz entwickelt, bereits harte polemische Kritik an der jeweiligen Regierungspolitik als „Delegitimierung“ des gesamten Staates zu sehen, die entsprechend eingedämmt werden müsse. Im Hintergrund zeichnet sich das Konzept einer gelenkten Demokratie ab, dem die jetzige Regierung sicher viel abgewinnen kann, wie schon ihr neues Demokratieförderungsgesetz demonstriert.
Aber dem Misstrauen, mit dem die Regierenden ihren Untertanen, denen man jederzeit einen wilden Bauernaufstand oder – wie jetzt – die Unterstützung eines veritablen Staatsstreiches zutraut, begegnet, entspricht das mangelnde Vertrauen der Bürger in den Staat und die politische Klasse. Mag die Mehrheit sich noch damit begnügen, der Politik keine Kompetenz zur Lösung der anstehenden Probleme mehr zuzutrauen, sieht eine wachsende Minderheit das radikaler. Für sie wird mittlerweile jeder staatliche Eingriff, sei er nun zum Beispiel gesundheitspolitisch oder energiepolitisch motiviert, als feindseliger Akt wahrgenommen und entsprechend scharf ist ihre Anti-Haltung.
Gesund ist dieses umfassende Misstrauen nicht, aber wollte man es bekämpfen, müsste man in einem echten Dialog eine neue Kultur des Vertrauens schaffen. Dazu ist man aber auf Seiten der Regierenden oft gar nicht bereit und hofft stattdessen durch permanente Beschwörung der Gefahr von Rechts und durch die Niederschlagung imaginierter Staatsstreiche genug Legitimität gewinnen zu können. Dass das auf Dauer ein Erfolgsrezept ist, muss bezweifelt werden.