Grundsätzlich hat das Ansehen der Politik im Ukraine-Krieg nicht gelitten, wie der „Deutschlandtrend“ der Tagesthemen ergeben hat: Demnach haben Regierungsvertreter wie Robert Habeck, Annalena Baerbock oder Christian Lindner seit Februar in ihren Zufriedenheitswerten zugelegt. Doch die Werte der SPD-Politiker in dieser Regierung sinken: Mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach sind demnach noch 44 Prozent zufrieden, 6 Prozentpunkte weniger als am Monatsanfang. Mit Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sind sogar nur noch 20 Prozent zufrieden. Ein Fall von weiteren 4 Prozentpunkten.
Auf die Gefahr hin, dass bei dem folgenden Satz manche die Wand hochgehen: Saskia Esken (60) gehört zu den erfolgreichsten Politikern und Politikerinnen der jüngeren deutschen Geschichte. Als sie Ende 2019 den Kampf um den Vorsitz in der SPD gewann, lag die Partei Willy Brandts am Boden: 9,7 Prozent in Bayern, 8,2 Prozent in Thüringen und 7,7 Prozent in Sachsen. Das waren die Ergebnisse der SPD in den Ländern. Im Bund schien es keinen Weg zu geben, die CDU aus dem Kanzleramt zu verdrängen. Die Sozialdemokraten führten ernsthaft eine Debatte darüber, ob sie überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstellen sollen.
Nun lässt sich Esken relativ leicht „runterschreiben“. Das haben viele auch schon getan: ihre bizarren Auftritte. Ihre noch bizarreren Forderungen. Ihre politische Bedeutungslosigkeit vor 2019, als die Delegierten ihr zweimal die Wahl in den Landesvorstand Baden-Württemberg verweigerten. Der Vorstand eines Landesverbandes, der an sich schon politisch abgehängt ist. Eskens schwache Erststimmen-Ergebnisse. Und dann der Blick auf ihre Berufslaufbahn: Studium abgebrochen, als Paketzustellerin gearbeitet. Als im Dezember 2021 die Regierungsämter vergeben wurden, galt sie noch nicht einmal als potenzielle Kandidatin. All das ist bestes Material, um sich in einem Artikel genüsslich über Saskia Esken auszulassen.
Doch, wer sich in dieser Rolle gefällt, der kommt an einem Fakt nicht vorbei: Saskia Esken ist erfolgreich. In der Stadt Berlin hat die SPD den Bürgermeister-Sessel verteidigt, obwohl am Wahlabend um 18 Uhr die Grünen schon dessen Eroberung feierten. In Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz konnte die Partei Staatskanzleien eindrucksvoll verteidigen. In Saarbrücken kam obendrein eine Staatskanzlei dazu – und das gleich noch mit absoluter Mehrheit.
Nun mag sich der Esken-Hasser trösten und sich selbst vergewissern. All die aufgezählten Erfolge – die seien gar nicht Eskens Verdienst: Sowohl beim Wahlkampf für den Bundestag als auch in den Ländern wurde sie marketingtechnisch eher im Hintergrund gehalten. Die Ampel hatte andere Vordenker. Olaf Scholz, aber auch Malu Dreyer, die in Rheinland-Pfalz schon seit 2016 als Ministerpräsidentin einer solchen Koalition vorsteht. Und nicht mal den Bundesvorsitz hätte Esken bekommen, ohne die Hilfe des Juso-Strippenziehers Kevin Kühnert.
Alles richtig. Und dennoch falsch. Weil es einen historischen Moment übersieht. Einen, in dem Esken die Chancen nutzte, die ihr möglicherweise nur zufällig und auch unverdient in den Schoss gespült worden sind: im Sommer 2020. Mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl. Als Esken zusammen mit dem Co-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans Vize-Kanzler Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten nominierte. Ein Schritt, der seinerzeit viele überraschte und den Esken gegen die Linken in der Partei verteidigen musste. Also gegen den Flügel, dem sie ihr Amt verdankte.
Seit Esken Scholz zum Kanzlerkandidaten nominiert hat, herrscht in der SPD ein Burgfrieden. Einer, der möglich ist, weil die Linken in der SPD einen Ausgleich bekommen haben: zum einen die Wahl Eskens zum Bundesvorsitz. Zum anderen – und vor allem aber – die Wahl Rolf Mützenichs im Herbst 2019 zum Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Eigentlich ein Sozialpolitiker, der sich in seinen 20 Jahren im Bundestag aber auch als Außenpolitiker einen Namen gemacht hat. Dabei immer mit einem selbst für die SPD stark pazifistischen Drall.
Das ist die Situation in der SPD. Seit jenem Sommer 2020, in dem die Würfel gefallen sind. Ein Burgfrieden. Auf der einen Seite der wirtschaftsnahe Regierungschef. Der als Hamburger Bürgermeister einen G20-Gipfel gegen den militanten Widerstand Linksradikaler durchgesetzt hat. Der sich im Wirecard-Skandal – gelinde gesagt – nicht gerade für die Anleger stark gemacht hat. Und auf der anderen Seite eine Partei, deren Schlüsselposten mit Esken und Mützenich von ausgewiesenen Linken gehalten werden. Eine ähnliche Situation hat die SPD schon einmal erlebt: 1998, als der Parteivorsitzende und „Superminister“ Oskar Lafontaine meinte, Bundeskanzler Gerd Schröder führen zu können.
Doch so leicht, wie Lafontaine im März 1999 dem „Genossen der Bosse“ den Weg frei gemacht hat, so leicht wird es Scholz dieses Mal nicht haben. Die Linken in der SPD sind stärker geworden. In ihrer Phase als Interimsvorsitzende der Partei hatte Malu Dreyer ausgegeben, dass die SPD linker, weiblicher und internationaler werden solle. Das haben die Verbände bei den Listenaufstellungen zur Bundestagswahl berücksichtigt. Das Ergebnis: 206 Mitglieder hat die neue Fraktion – ein Drittel davon ist jünger als 40 Jahre.
Mit dieser Generation im Rücken muss Scholz nun Realpolitik machen. Auch wenn sich die Identitätspolitiker alle Mühe geben, ihre Phantastereien etwa übers Dreadlock-Tragen wieder in den medialen Mittelpunkt zu rücken. Themen, in denen sie sich wohlfühlen. Die Realpolitik drängt sich von ganz alleine wieder zurück. Und das immer heftiger: Inflation. In Frage stehende Energieversorgung, benötigte Wohnungen, die nicht gebaut werden können. Zuschüsse, die für die Modernisierung von Wohnungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Entwertung des Euro gegenüber dem Dollar. Und allem voran der Krieg zwischen Russland und der Ukraine.
Wegen dieser Konflikte verkündet Scholz eine Zeitenwende. Um sie dann zu verschleppen. Wegen dieser Konflikte verspricht er einen harten Boykott, um trotzdem Russlands wichtiger Abnehmer für Rohstoffe zu bleiben. Wegen dieser Konflikte warnt er davor, dass Panzerlieferungen zum Atomkrieg führen würden, um kurz darauf Panzer zu liefern. Scholz hofft damit, bei den Linken in der Partei mit seiner Warnung vor dem Atomkrieg in Erinnerung zu bleiben – und bei allen anderen außerhalb der Partei, inklusive der internationalen Verbündeten, als zuverlässiger Waffenlieferant.
Eine gewagte Strategie: Scholz setzt auf die Dysfunktionalität der Öffentlichkeit. Auf Wähler, die seine Tricks nicht durchschauen können oder wollen. Und auf Medien, vor allem öffentlich-rechtliche, die sein Vorgehen nicht kritisch hinterfragen können oder wollen. Absurderweise heißt das: Scholz‘ Strategie könnte also ein Erfolg werden. Politisch. Für Scholz, die SPD und Esken. Was es dann für das Land bedeutet, steht auf einem ganz anderen Blatt.