Der gesunde Menschenverstand ist der natürliche Feind der Linken. Sie hat ihm den Krieg erklärt. Einfache Lösungen gibt es nicht. Wir leben in einer „immer komplexer“ werdenden Welt. Konservatives Denken gilt schon deswegen als rückwärtsgewandt, weil man den Rezipienten unterstellt, mit schwierigen Sachverhalten überfordert zu sein. Von „unterkomplexen“ Lösungen oder Gedankengängen ist dann die Rede. Wer kein Experte ist, betreibt Stammtischgerede. Nur das Establishment hat aus mysteriösen, gut gehüteten Gründen einen Zugang zur Wahrheit. Dass ein Gordischer Knoten nur mit einem Schwerthieb zu lösen sei, gehört ins Reich der Legenden. Dazu gehört auch die Einsicht, dass komplexes Denken unbestritten komplizierter ist, aber nicht zwangsläufig klüger.
Hier liegt einer der Gründe des neugewählten Feindbildes. Der zurückgebliebene Nazi, der Wendeverlierer aus dem Osten, der grölende Deutschlandbejubler – kurz: das Zerrbild des AfD-Wählers – ist eine Karikatur, mit der es sich gut leben lässt. Abgehängt, auf dem Land lebend, ohne akademische Bildung, jemand, der auf Fake News im Internet hereinfällt. Es tut gut zu wissen, als weltoffener Städter mit Universitätsabschluss überlegen zu sein. Das Europa des 19. Jahrhunderts glaubte der restlichen Welt wegen Technologie, Kultur, später der Rasse wegen überlegen zu sein. Die Kommunisten glaubten sich im Besitz der Wahrheit und dachten, über das Wissen der letzten Tage zu verfügen. Dass die Karikatur des „Dunkeldeutschen“ selbst ein unterkomplexes Klischee ist: geschenkt.
Bei der Bewertung des Impfgegners zeigt sich die linke Suprematie. Die Hippie-Events der Querdenker mit Indianertrommeln und esoterisch angehauchten Unterstützern fallen aus dem Rahmen. Es kann nicht sein, dass Heilpraktiker, Waldorf-Lehrer und Akademikerpärchen aus dem Schwäbischen gegen Corona-Maßnahmen protestieren und sich gegen eine Impfpflicht aussprechen. Dass im anthroposophischen Südwesten, aber auch in Prenzlauer Berg die Impfwilligkeit schon vor Corona wenig ausgeprägt war, ist kein Geheimnis. Masernausbrüche in Waldorfschulen sind mit Sicherheit nicht darauf zurückzuführen, dass die Eltern arm, ungebildet oder abgehängt sind. Richten wir also besser die Kamera wieder auf die Reichsbürger am deutschen Parlament und sparen aus, dass die Initiatorin des vermeintlichen „Sturms“ eine alternative Heilpraktikerin war.
Komplexe Sachverhalte sind immer dann problematisch, wenn sie nicht der Ideologie in die Hände spielen. Die Möglichkeit, Impfgegner und AfD-Wähler gleichzusetzen, erscheint insbesondere Medienvertretern als gefundener Festschmaus. Dass das Thema in der Partei und bei ihren Wählern weitaus umkämpfter ist als angenommen – wer stört sich an den Details? Der Kampf für die Spaltung der Gesellschaft war immer Ziel der Linken. Dafür braucht es keine Zeit-Kolumne, die einen „scharfen Keil“ fordert, nachdem sie gegen alle möglichen Bevölkerungsteile gehetzt hat, nur, um am Ende zu behaupten, dass Hetze keine berechtigte Sorge sei. Man muss dabei nicht wieder auf die praktische Umsetzung bei den buchstäblichen „Bolschewiken“ oder der RAF schauen. Die Verengung des Meinungskorridors in Gestalt der „Cancel Culture“ ist zuletzt nur eine Rückkehr der Verhältnisse von 1968. Der eigentliche Papst der 1968er war dabei Carl Schmitt. Die Verabsolutierung des politischen Gegners zum „absoluten Feind“, gegen den der Krieg geführt wird, ist zum Hauptziel geworden. Ihm wird alles untergeordnet.
In einem solchen totalen Krieg gibt es Kollateralschäden. Denn es gibt eine weitere Gruppe, die bei den Ungeimpften kaum angesprochen wird. Es handelt sich um die Milieus der Zuwanderer.
Unter jenen Migranten, die früher die vorbehaltslose Unterstützung der Linken genossen, ist die Impfbereitschaft geringer ausgeprägt. Sofort fahren die Experten dazwischen: Der niedrige Bildungsgrad und Sprachbarrieren seien der Grund dafür. Es träfe die Einkommensschwachen. Der Berliner Amtsarzt Nicolai Savaskan warnte deswegen bereits vor der pauschalen Aussage, Migranten ließen sich seltener impfen. Das sei „ein Fehlschluss à la Thilo Sarrazin“. Höher gebildete Migranten ließen sich impfen. Das ZDF hatte in der letzten Woche einen ähnlichen Ansatz. Schon länger ist bekannt, dass auf den Intensivstationen überproportional viele Bürger mit arabischem und türkischem Migrationshintergrund liegen. Sprachbarrieren, Arbeitslosigkeit und Armut seien dafür die Hauptgründe. Mitgeliefert wird die deutliche Warnung, das Problem nicht zu „ethnisieren“ und zu „kulturalisieren“.
Am Fall dieser besonderen Impfverweigerer zeigt sich die dünne Trennlinie zwischen Gut- und Herrenmenschentum. Ähnlich wie die Kolonialherren Afrikas der Überzeugung waren, dass die dort lebenden Menschen ohne westliche Erleuchtung nicht überlebensfähig wären, sind die heutigen Erzieher der Nation der Meinung, dass Araber, Türken, aber auch die Bewohner des Balkans nicht so recht wissen, was gut für sie ist. Der AfD-Wähler hat sich in einer bewusst bösen Entscheidung gegen die Gnade des Kollektivs gewehrt. Der Gemüsehändler aus der Schweigelstraße, die Putzfrau von der Reinigungsfirma und der Gastarbeiteropa, der am Ende doch nicht in der Heimaterde begraben werden wollte, sind nicht verantwortlich für ihr Tun. Die können gar nicht anders. Der AfD-Wähler wird als dämonischer Gegenspieler wahrgenommen, aber ihm zumindest menschliche Intelligenz unterstellt. Ob Gastarbeiter vom Balkan, türkischer Familienpatriarch oder iranischer Flüchtling: Ihnen wird jedweder Respekt für ihre eigene Entscheidung verwehrt.
Früher stand der Begriff der Parallelgesellschaft im Zentrum hitziger Zuwanderungsdebatten. Die Schaffung von Parallel- und Gegengesellschaften ist das zwangsläufige Resultat der Spaltung der Gesellschaft. Der Mediensturm auf den „Ungeimpften“ ist nur eine neue Facette eines alten Kampfes. Traditionell christliche Gemeinden haben seit Jahren ähnliche Probleme, dass sie sich in der radikaljakobinischen Umwelt eigene Katakomben suchen müssen. Auch der Angriff auf das alternativlinke, früher mehrheitliche grüne Milieu dürfte Folgen haben. Es ist aber nicht vergleichbar mit diesem berserkergleichen Zorn gegen alles und jeden, der sich gegen die Nadel im Arm wehrt, weil mit der Opferung des migrantischen Milieus eine Heilige Kuh geschlachtet wird. Ironische Spitze dessen ist, wenn vermeintliche Menschenretter genau gegen diese Menschen agieren, die sie angeblich unterstützen. Sie wollen gegen Horst aus dem Erzgebirge austeilen. Aber der Schlag erreicht auch jenes Milieu, das weitaus mehr als die vornehmlich vergeistigten Deutschen mit beiden Füßen auf dem Boden jenes gesunden Menschenverstandes steht, den die linke Intelligenzia mehr hasst als alles andere.
Für Konservative gehört eine Taxifahrt zu den angenehmeren Teilen Berliner Aufenthalte, weil man sich dort offener über Missstände aussprechen kann als anderswo. Die Scharfschüsse in der Impffrage sind ein Integrationsgift, das bisher kaum jemand anzusprechen wagt. Dieselben Leute, die sich für grenzenlose Zuwanderung aussprechen und die „neuen Deutschen“ bejubeln, drängen die einst so protegierten Schäflein von der Parallel- in die Gegengesellschaft. Offensichtlich ist Deutschland tatsächlich eine strukturell-rassistische Gesellschaft. Aber eben anders, als die Linken und Linksextremen postulieren. Sie selbst sind Antreiber eines suprematistischen Gedankens, der jeden ausgrenzt, so er sich nicht an der Jagd auf den politischen Feind beteiligt. Es ist zu viel Ehre für Wladimir Putin, wollte man ihm ganz allein die Destabilisierung der europäischen Gesellschaft ankreiden.
Auf dieser Mission kommen auch die Vertreter jener Parallelgesellschaft unter die Räder, die sich als Reaktion noch weiter zurückziehen und deren moderatere Vertreter sich bestätigt fühlen dürften, dass eine Abkapselung vernünftiger als eine Assimilation ist. Man kann es ihnen nicht verdenken. Vielleicht werden die Geifernden in den nächsten Wochen ihren Fehler einsehen – und ihn nach ihren Prämissen korrigieren. Als in den USA auffällig wurde, dass die Impfquote unter Schwarzen geringer ausfiel als im Rest der Bevölkerung, scheute die New York Times nicht davor zurück, die lange Diskriminierung von Schwarzen im US-Gesundheitssystem als Grund anzuführen. Dass man sich nicht impfen lasse, sei also wieder eine Bestätigung des latenten Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft. Dass damit zum Spott auch noch Hohn für die Zuwanderer dazukäme, können sich die verantwortlichen „Almans“ in ihren nicht-binären Wolkenschlössern kaum vorstellen.
Die Eigenschaft des Teufels ist, dass er nichts schaffen kann. Alle seine vermeintlichen Schöpfungen sind Illusionen: Die vermeintlich schöne Frau entpuppt sich als hässlicher Succubus, die angebliche Speisetafel offenbart sich als dreckiger Tisch mit verfaultem Rinderkadaver. Er ist nur an der Zerstörung interessiert. Aber durch seine Verführung und seine Abschreckung kann der gefallene Mensch erst merken, dass er gefallen ist. Goethe hat es prägnant gesagt: eine Kraft, die das Böse will, aber (ungewollt) das Gute schafft. Es ist ein Paradoxon. Ein Paradoxon, wie es auch die politische Linke betreibt, wenn sie durch die Zerstörung der Gesellschaft den Milieus aus dem jenseitigen Mittelmeer vor Augen führt, dass sie immer nur politische Verfügungsmasse waren – und bleiben werden. Die vorgespielte Menschlichkeit bricht zusammen. Übrig bleibt die Heuchelei, die man immer geahnt hat, aber nie beweisen konnte. Aber oft ahnt der Menschenverstand Dinge, bevor andere sie wissen.