Immerhin blüht es. Die Temperaturen steigen. Denjenigen, die in der Quarantäne auch noch mit einem gestörten Serotoninhaushalt zurechtkommen müssen, hilft jedenfalls das Ende der Kälte draußen. Oder nicht?
Manchen Depressiven geht es dann besser, aber nicht allen. Das Winterende ist tückisch, das wissen Depressive und Ärzte schon länger. In diesem Jahr kommt Corona dazu. „April is the cruelest month“, damit beginnt T. S. Eliots „The Waste Land“. Er nannte den Monat nicht zufällig. Seit Jahrzehnten kennen Fachleute das Phänomen des Suicide Spring Peak.
Den meisten Selbsttötungen wiederum geht eine psychische Krankheit voraus. Etwa fünf Millionen in Deutschland leiden unter Depressionen. „Fünf Millionen Depressive“, meint Harald Schmidt: „das kann nicht nur am Fernsehprogramm liegen.“ Das stimmt; für eine psychische Krankheit ist nicht das Fernsehen verantwortlich oder die Gesellschaft, sondern der Hirnstoffwechsel. Es spricht nichts dafür, dass die tatsächliche Zahl der Kranken in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen wäre. Eher suchen mittlerweile mehr Kranke professionelle Hilfe, und bekommen sie auch. Die Suizidrate sinkt mit leichten Schwankungen, seit 1980 halbierte sich die Zahl.
Wer als Depressiver merkt, dass sich seine Symptome im Frühjahr verschlechtern (und meist muss jemand nicht lange in sich hineinhören, die Zeichen lassen sich so wenig ignorieren wie ein kranker Zahnnerv), der sollte nicht warten, sondern sich Hilfe suchen. Die kann mit einem Anruf bei der Telefonseelsorge beginnen. Außerdem gilt in diesen Frühlingszeiten für schwer Depressive erst recht die möglicherweise lebensrettende Regel: Du sollst keine Angst vor der Psychiatrie haben. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser mit psychiatrischen Abteilungen arbeiten auch in Zeiten der Quarantäne. Alles, vom Anruf bei einem Notfalltelefon bis zum Gang in die Psychiatrie ist besser als der Versuch, allein mit einer Lage fertig zu werden.
Das führt zu der Frage, wie Depressive in Quarantänezeiten zurechtkommen. Wahrscheinlich schlechter, vermutet der Depressionsforscher Ulrich Hegerl, einer der wichtigsten Forscher auf dem Gebiet seelischer Erkrankungen und Vorsitzender der Deutschen Depressionshilfe. Hegerl erwartet nicht, dass sehr viel mehr Menschen depressiv werden, weil sie ihre Arbeit verlieren, das Einkommen oder ihre Firma. Sondern umgekehrt, dass sich bei Depressiven, die sich in Corona-Zeiten naheliegende Sorgen machen oder tatsächlich in die wirtschaftliche Krise geraten, die Krankheit verschlechtert. Es kommen also zwei Momente zusammen, das tückische Frühjahr und die Corona-Quarantäne mit ihren unvermeidlichen Wirtschaftsfolgen.
Das versteht besser, wer weiß, was Depression bedeutet. Depressive sind nicht traurig. Sie erleben, falls das Wort erleben hier passt, einen Zustand der Gefühlslosigkeit. Die Welt verengt sich. Ein Kranker sitzt in einer Kapsel, die ihn von der Außenwelt trennt. Auch vom Frühling. Seine Gedanken laufen im Kreis. Er kann nicht mehr durchschlafen, oft wacht er morgens um drei auf. Farben verschwinden. Beziehungsweise, wie Winston Churchill, der lebenslang mit wiederkehrenden Depressionen kämpfte, in einem Brief schrieb:
„All die Farben kommen zurück in das Bild.” Für ihn war es das Zeichen, dass es aufwärts ging nach einer Phase, in der ihm wieder einmal der schwarze Hund nachgelaufen war, wie er seine Krankheit nannte.
Auf diejenigen, die in dieser Kapsel stecken, wirkt der Verlust der Arbeit, der Routine, die Sorge um das Einkommen ganz anders als auf Gesunde, ihm fehlt das seelische Immunsystem, das Nichtdepressive ganz selbstverständlich besitzen, ohne es zu merken. Bei vielen, die neben ihrer Krankheit noch in eine schlechte wirtschaftliche Lage rutschen, kommt auch irrationales Schuldgefühl dazu, selbst wenn es Tausenden ringsum nicht anders geht. Auch in Zeiten ohne Corona ziehen sich viele Kranke in eine Art Quarantäne zurück. Sie vermeiden selbst den Kontakt zu guten Freunden. Sie weichen Familienmitgliedern aus. Das verstärkt ihren Zustand. Bei demjenigen, der sich zurückzieht, fressen sich die Gedankenkreisläufe erst recht ins Gehirn.
Erstens: Du (apropos, Depressive dürfen einander wie Bauarbeiter ruhig duzen*), also: Du bist nicht schuld daran, dass sich deine wirtschaftliche Lage in der Wirtschaftskrise verschlechtert.
Halte den Kontakt mit Freunden, auch wenn dir eine Stimme einredet, dass du dich in deiner Kapsel noch am besten fühlst.
Zögere nicht, dir medizinische Hilfe zu holen, siehe Nummern und Adressen unten. Es ist eine normale Reaktion, Hilfe zu suchen, wenn du hilfsbedürftig bist.
Fürchte dich nicht vor Psychopharmaka. Sie ersetzen keine Therapie, aber sie können zumindest bei zwei Dritteln der psychisch Kranken den Zustand verbessern oder zumindest stabil halten.
Sage dir als Mantra, dass die Krankheit ein Zustand ist, dass du aber trotzdem immer noch du selbst bist, mit einem Leben vor der Einkapselung und einem Leben, das es danach geben wird.
Noch etwas, zugegebenermaßen geht es nicht ohne weiteres, aber es geht: Versuche, dich über die Depression lustig zu machen. Nicht über deinen Zustand (der ist ernst zu nehmen), sondern über dieses Etwas, das versucht, dein Leben zu okkupieren. Gib deiner Depression einen Namen. Das kann helfen, sie eine Armlänge auf Abstand zu halten.
Und geh nach draußen, auch wenn du es eigentlich nicht möchtest. Das hilft am ehesten gegen das Gedankenkreisen. Der Beginn von T. S. Eliots „Waste Land“ spielt übrigens in einer Stadt und ihrer Umgebung, die im Frühjahr zugegebenermaßen schöner leuchtet als andere:
„Summer surprised us, coming over the Starnbergersee
With a shower of rain; we stopped in the colonnade,
And went on in sunlight, into the Hofgarten.“
Nicht jeder kann nach München, erstens sowieso und zweitens grade jetzt. Aber fast jeder kennt seine Variante des Hofgartens. Hier gilt das gleiche wie in Kontaktanzeigen: Alter und Aussehen egal.
Irgendwann, wenn die Phase vorbei ist, kommen die Farben wirklich wieder ins Bild. Es fühlt sich an wie ein LSD-Ausflug ohne Chemie. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.
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* Von dem Autor: Du Miststück. Meine Depression und ich