Von der Denkfabrik Republik 21 in Berlin wussten bisher nur wenige. Der kleine Verein, gegründet von dem Mainzer Historiker Andreas Rödder und der Unternehmensberaterin und früheren CDU-Familienministerin Kristina Schröder, gehört immer noch zu den kleinen Organisationen in der Hauptstadt – was zum einen daran liegt, dass sie sich ohne staatliches Geld nur mit privat aufgebrachten Mitteln finanziert. Und zum anderen an ihrem Profil: Sie versteht sich nach eigener Definition als „Thinktank für eine neue bürgerliche Politik“. Also für etwas, was sich speziell in Berlin mit einer gewissen Exotik verbindet.
Sie bescheinigen darin auch den Parteien des bürgerlichen Lagers, diese aggressive Bewegung gegen die westliche Kultur aus „Unkenntnis, Desinteresse und Naivität“ zu fördern. Davon mussten sich etliche in der Hauptstadt angesprochen fühlen, ob nun FDP-Abgeordnete, die kürzlich mit Ferda Ataman eine der Hauptfiguren der Identitätspolitik ins Amt der Antidiskrimierungsbeauftragten wählten, und noch immer zusehen, wie aggressive illiberale Vereine wie die „Neuen Deutschen Medienmacher“ üppige Steuergelder erhalten. Und auch die CDU von Friedrich Merz, die sich auf ihrem letzten Parteitag gerade zur Frauenquote und zur Gleichstellung (statt Gleichberechtigung) bekannte.
Gleichberechtigung meint Chancengleichheit. Gleichstellung Ergebnisgleichheit, Quotierung und eine Orientierung an einer Gruppe statt an Individuen. Zu einer Partei mit bürgerlichem Anspruch passt nichts davon. Gastgeber Andras Rödder vermutete in seinem Vortrag, viele Delegierte hätten den Unterschied möglicherweise nicht verstanden. Oder er sei ihnen egal gewesen. Die Konferenz in Berlin fiel in eine Zeit, in der sich an mehreren Stellen eine bürgerliche Gegenbewegung zu den gerade vorherrschenden Zeitströmungen formiert. Am heutigen 9. November plädieren Wissenschaftler im Bundestag für die weitere Nutzung der Atomkraft in Deutschland. Dieses Recht hatten sie sich durch eine Petition erzwungen, die wiederum aus einem Appell von 20 überwiegend bürgerlich-liberalen Forschern hervorging.
„Der aus den USA stammende Begriff ‚woke‘ bedeutet so viel wie ‚wach sein‘ und bezog sich anfangs allein auf rassistische Diskriminierung. ‚Stay woke!‘ hieß so viel wie: ‚Schau hin und tu was, wenn Schwarze schlecht behandelt werden!‘ Im Laufe weniger Jahre erweiterte sich die Bedeutung auch auf andere Minderheiten. Zuletzt lag der Fokus stark auf Transmenschen. Wer sich heute in Deutschland dazu bekennt, ‚woke‘ zu sein, hat den Anspruch, einen geschärften Blick für Ungerechtigkeiten aller Art zu haben. Unter Umständen fallen dann Dinge auf, die vorher nie infrage gestellt worden sind. Zum Beispiel: Warum läuft im Fernsehen ganz viel Männer- und nur sehr wenig Frauensport?“
Die subkutane Botschaft der DPA lautet also: Was wollen die Gegner der wohlgesinnten Woken eigentlich?
In einer ganzen Reihe von Vorträgen zeichneten Wissenschaftler und Praktiker im Axica-Forum am Pariser Platz ein realistisches Bild der Tugendbewegung, die sich eben nicht mit der Forderung nach mehr Frauensport im Fernsehen befasst, sondern an etlichen Hochschulen ernsthaft die Wissenschaftsfreiheit bedroht. Und nicht nur das: Der Kern der woken Ideologie besteht darin, die Gesellschaft in angeblich Privilegierte einzuteilen, die zu vielen Themen zu schweigen hätten – und in vorgeblich Marginalisierte, denen mehr Rechte in der öffentlichen Debatte zustehen sollen als anderen.
Die Woken, so Susanne Schröter, Islamwissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt, wollten eben nicht bei echten oder angeblichen Ungerechtigkeiten „hinschauen“ und ihre Meinung äußern. Sondern diktieren, wer worüber öffentlich sprechen darf. Und vor allem, wer nicht. Schröter erlebte das zum ersten Mal, als sie den Polizeigewerkschafter Rainer Wendt an die Universität einlud, um mit ihm über Sicherheitspolitik zu diskutieren. Dagegen empörten sich linke Studenten, aber auch Kollegen. Ihr Argument, so Schröter, habe gelautet: „Bei Rassismus endet die Wissenschaftsfreiheit. Und Rainer Wendt ist ein Rassist. Einen Beleg dafür gab es nicht.“ Die Professorin – das sieht sie heute selbstkritisch – knickte damals ein und lud den Polizeigewerkschafter wieder aus.
Der wesentlich gefährlichere Angriff auf die Freiheit, meinte die Historikerin und Migrationsforscherin Sandra Kostner von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, finde öffentlich kaum sichtbar statt: „Viel wichtiger ist das, was unterhalb des Radars geschieht.“ Auch in Deutschland, so Kostner in ihrem Vortrag, würden Wissenschaftler einen immer größeren Einfluss gewinnen, die sie als „Agendawissenschaftler“ bezeichnet – Akademiker, die ihre Position an Hochschulen nutzen, um ihre eigene politische Agenda voranzutreiben, beispielsweise durch die ständige Ausweitung des Rassismusbegriffs oder die postkoloniale Theorie, nach der die gesamte westliche Kultur „strukturell rassistisch“ sei und den „globalen Süden“ immer noch kolonial unterdrücke.
Diese Dogmen, kritisierte sie, würden inzwischen auch die institutionelle Forschungsförderung stark bestimmen. Mittlerweile würde an Hochschulen und in Forschungsförderungsorganisationen beispielsweise die in „Nature“ im Juni 2022 veröffentlichte Forderung ernsthaft diskutiert, Forschungsresultate müssten so ausfallen, dass sie niemand „Schaden zufügen“, wobei schon als Schaden gilt, dass sich eine Gruppe oder Vertreter einer Gruppe davon beleidigt fühlen könnten. Zum anderen, so Kostner, spiele bei der Vergabe von Forschungsmitteln die identitätspolitische Quotierung eine immer größere Rolle, also die Forderung, Wissenschaftler nach Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung dabei nach einem bestimmten Schlüssel zu berücksichtigen. „Dann“, so Kostner, „werden andere Merkmale wichtiger als wissenschaftliche Ergebnisse“. Diese schon sehr weit fortgeschrittene Praxis, meinte sie, sei „Teil einer gesellschaftlich-politischen Transformationsagenda“.
Nachdem eine ganze Reihe von Wissenschaftlern die Unterwürfigkeit der Humboldt-Universität kritisiert hatten – auch das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ – durfte Vollbrecht ihren Vortrag später doch halten. Aus einer Selbstverständlichkeit wurde eine Staatsaktion. Allerdings begann ein Kesseltreiben gegen die Naturwissenschaftlerin: Der Tagesspiegel versuchte in einem Beitrag, sie mit einem gefälschten Screenshot in die Nähe der NPD zu rücken. Eine studentische Gremienvertreterin der Ruhr-Universität Bochum sinnierte öffentlich, Vollbrecht werde wohl Probleme mit ihrer akademischen Karriere bekommen – schließlich gebe es bei der Stellenvergabe „Hintergrundchecks“.
Die Journalistin Judith Sevinc Basad sprach auf der R 21-Konferenz über Wokismus in den Medien – und bei diesem Thema zwangsläufig auch über die Kampagne gegen Vollbrecht. Die Wissenschaftlerin gehörte nämlich auch zu einer Gruppe von Medizinern und Naturwissenschaftlern, die das meist kritiklose Werben der Öffentlich-Rechtlichen Medien für die Transgender-Therapie mit Pubertätsblockern und Operationen selbst an sehr jungen Menschen kritisieren. Die Welt druckte diesen Text (wie auch eine dagegen gerichtete Polemik des Queerbeauftragten der Bundesregierung Sven Lehmann). Für den Abdruck der Kritik an den Öffentlich-Rechtlichen hatten zahlreiche Politiker, andere Journalisten und Vollzeitaktivisten den Axel-Springer-Verlag heftig angegriffen und ihm ohne jeden Beleg auch Homophobie vorgeworfen.
Ungeklärt blieb die Frage des Moderators Alexander Kissler, Redakteur der NZZ, warum die woke Ideologie auch in privaten Medien Fuß fasst, obwohl die bei den Konsumenten nicht mehrheitsfähig ist. Eine Antwort darauf, warum zumindest viele Unternehmen sich an die illiberale Strömung hängen, versuchte der Dramaturg und Autor Bernd Stegemann in seinem Referat über „woken Kapitalismus“ zu geben. Die woke Ideologie, so Stegemann, habe kein Problem mit dem Kapitalismus. „Und der Kapitalismus glaubt, dass die woke Ideologie kein Problem für ihn ist.“
Damit würden die Unternehmen allerdings einen „Pakt mit dem Teufel“ eingehen. Zwar könnten sich Firmen durch ein Bekenntnis zu der Erwachtheits-Lehre moralisch immunisieren; es komme ihnen auch ganz recht, klassische Verteilungs- durch identitätsfragen zu ersetzen: „Amazon ist diskriminierungsfrei und ohne Gewerkschaften“, so der Wokness-Kritiker aus dem linken Lager. Allerdings führe diese Ideologie auch in eine tribalistische Gesellschaft und zerstöre die Möglichkeit zur rationalen Debatte. Die Beschwörung des ständigen Ausnahmezustandes – in der Klima- genauso wie in anderen Debatten – werde sich auch gegen Unternehmen und Unternehmer wenden.
Die Konferenz brachte Kritiker zusammen, die linke Identitätspolitik aus unterschiedlichen Perspektiven attackieren. Gestritten wurde deshalb in dem Axica-Forum am Pariser Platz nicht. Die Veranstaltung besaß eher den Charakter einer Bestandsaufnahme. Bisher gab es schließlich keine größere Veranstaltung in Deutschland, die sich überhaupt mit dem Phänomen befasste. Dafür aber eine Menge identitätspolitische Veranstaltungen, viele davon mit Steuergeldern gefördert – etwa die der „Neuen Deutschen Medienmacher“.
Nur eine aktive Politikerin saß in Berlin auf dem Podium: die FDP-Bundestagsabgeordnete und frühere Generalsekretärin Linda Teuteberg. Sie konstatierte: „Liberale bürgerliche Positionen sind in der Defensive.“ Und: „Die Gesellschaft in Opfer und Privilegierte einzuteilen – das ist zutiefst illiberal.“
Die stellvertretende Vorsitzende von R21 Kristina Schröder gehört der CDU nach wie vor an. Sie sagte, ihre Partei sei „gesellschaftspolitisch unmusikalisch“, sie habe den Kulturkampf von links lange ignoriert. „Der bürgerliche Glaube, diese Ideologie wird sich wegen ihrer offensichtlichen Beklopptheit von selbst erledigen“, meinte sie, sei falsch gewesen. „Die bürgerliche Politik muss den Kulturkampf aufnehmen.“ Dafür plädierte auch der Historiker Andreas Rödder. Es sei wichtig, den öffentlichen Debattenraum wieder auszuweiten: „Wir müssen begreifen, dass Demokratie keinen Konsens herstellen will. Demokratie ist die Fähigkeit, andere Meinungen auszuhalten.“
Zur Schlussrunde auf dem Podium gesellte sich auch der Kabarettist Dieter Nuhr. Er war heftig von mehreren Medien und auf Twitter attackiert worden – bis zu Forderungen nach einem Boykott durch das Fernsehen – ,weil er sich erlaubt hatte, in sein Bühnenprogramm ein paar Scherze über Greta Thunberg unterzubringen. Die Angriffe, so Nuhr, hätten ihn am Anfang sehr getroffen. Er habe damals überlegt, ob er überhaupt noch zum Metzger und in den Supermarkt gehen könnte, „wenn alle mich so hassen“. Seine Erfahrung sei dann aber gewesen, „dass die Leute alle unfassbar freundlich zu mir sind“. Er höre immer wieder zwei Sätze: „Machen Sie weiter, und lassen Sie sich nicht unterkriegen.“ Daraus folgerte er, dass die geschilderte Welt in vielen Medien und die Realität außerhalb kaum noch etwas miteinander zu tun hätten. Für die gesellschaftliche Kommunikation sei das ein Problem.
R21-Gründer Rödder berät auch die CDU in Grundsatzfragen. Spät am Montagabend kam auch der stellvertretende CDU-Chef Carsten Linnemann – nicht als Referent, sondern als Zuhörer. Beim letzten Parteitag hatte er an die Delegierten appelliert, für Gleichberechtigung statt Gleichstellung zu stimmen. Bei der Abstimmung gehörte er zur Minderheit.