Ein wohlhabender Vater hatte seinen Sohn zum Meister geschickt, auf dass jener sein Schüler werde und etwas vom Leben lerne. Der Meister stellte dem reichen Schüler einige Fragen. Er fragte etwa, ob man lügen dürfe, um eine Gefahr zu verhindern, oder was der Sinn des Lebens sei. Der Schüler antwortete stets sehr schnell. »Nein, man darf niemals lügen«, sagte er gleich, und »man soll den Willen der Götter tun«.
Der Schüler war nicht unfreundlich, und er war auch nicht böse oder von schlechtem Charakter. Sein Fehler war nur, dass er es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, schnell zu antworten, wo es ratsam gewesen wäre, zunächst nachzudenken, und dann vielleicht gar nicht zu antworten, außer vielleicht mit einer neuen, eigenen Frage.
Dann stellte der Meister diese Frage: »Was bedeutet es, zu denken?« – Auf diese Frage wusste der Schüler keine Antwort.
Der Meister bat, den Schüler am nächsten Tag daheim besuchen zu dürfen. Der Schüler war erfreut, denn es war eine große Ehre, vom Meister besucht zu werden, selbst für eine reiche Familie wie die seine. Der Schüler sagte gern zu, der Meister sagte noch: »Ich plane, über das Denken zu sprechen. Wir wollen vom Denken reden. Werden wir einen geeigneten Raum finden, um die Kunst des Denkens zu üben?«
»Aber selbstverständlich«, sagte der Schüler, »in meines Vaters Haus sind viele Räume!«
Der Meister fragte zurück: »Gewiss sind alle Räume vorzüglich und edel, doch verschiedene Lehren brauchen verschiedene Räume. Es wäre klug, wenn wir eine Zahl von Räumen prüfen, um einen geeigneten finden.«
»Selbstverständlich«, sagte der Schüler, »wir werden morgen prüfen, welcher Raum geeignet ist! Es gibt ja mehr als eine Möglichkeit.«
Als sich der Meister am nächsten Tag dem Anwesen des Schülers näherte, wurde er bereits vom Schüler und einem Dutzend Angestellter vor dem Haupteingang erwartet. Man grüßte den Meister mit aller Höflichkeit, man verbeugte sich und man hatte kleine Geschenke vorbereitet.
»Willkommen, Meister«, sagte ein Angestellter des Vaters, und ein anderer erklärte: »Wir haben eine Reihe von Räumen vorbereitet! Lasst uns prüfen, welcher Raum für eure Lehre geeignet ist, ganz wie ihr es gestern sagtet.«
Man hielt ihm die große Türe auf, doch der Meister zögerte. Statt durch die große Türe ins Haus zu treten und die Räume zu begutachten, wie er angekündigt hatte, betrat der Meister einen kleinen steinernen Pfad, der um das Haus herum führte.
Der Schüler und die Angestellten waren überrascht, doch sie folgten ihm. Der Meister ging um das Haus herum, die Angestellten hinter ihm, an Fenstern und seitlichen Terrassen vorbei.
Eine kleine und im Vergleich zum Haupteingang ein wenig schmucklose Tür öffnete sich, ein Arbeiter trat heraus, und als er den Meister samt Schüler und dem Gefolge sah, erschrak er und wollte schnell wieder ins Haus zurücktreten, doch der Meister lächelte, grüßte, und erklärte: »Der Raum hinter dieser Tür scheint mir geeignet zu sein!«
Der Schüler wusste selbst nicht, was für ein Raum das war. Er fragte einen der Angestellten, der fragte einen anderen, und der schließlich erklärte errötend: »Das ist der Raum, wo beschädigte Türen aufbewahrt werden, bis der Handwerker die Zeit findet, das Papier zu ersetzen.«
»Das ist der einzig richtige Raum, um über das Denken zu lehren!«, erklärte der Meister.
Der Schüler und die Angestellten wollten protestieren, doch sie wollten auch höflich bleiben, und bevor sie geeignete Worte gefunden hatten, war der Meister schon durch die Tür gegangen und hatte sich zwischen losen Holzrahmen und zerrissenem Papier hingesetzt.
Der Schüler fand ebenfalls einen Sitzplatz, die übrigen Angestellten waren verunsichert, doch der Meister rief ihnen zu: »Kommt herein und setzt euch!«, und er wiederholte: »Dies ist der einzig richtige Ort!«
Niemand im Raum saß wirklich gut. Den einen stach ein Holzscheit in den Rücken, den anderen kratzte loses Papier im Gesicht, der dritte saß viel zu eng mit seinen Knien vor der Brust.
Der Schüler wagte eine Frage: »Wolltet ihr nicht zuerst einige Räume im Haus prüfen?«
Der Meister sagte: »Dies ist der beste Raum, den ich in diesem Haus kenne!«
»Aber, Meister«, sagte der Schüler verwundert, »dies ist der einzige Raum, den ihr in diesem Haus kennt!«
»Also ist es der beste Raum, den ich kenne«, sagte der Meister, »warum sollte ich denn die anderen Räume prüfen?«
»Ein anderer Raum«, sagte der Schüler, »könnte geeigneter sein! In den anderen Räumen könnte man besser sitzen, besser reden, mit besserem Licht auch besser sehen!«
»Es ist also gut, mehrere Räume zu prüfen, bevor man sich auf einen festlegt?«, fragte der Meister.
Da begriff der Schüler, dass sie bereits vom Denken redeten.
Aktuell aus Birmingham
Wem das Unglück passiert, wessen vom Staatsfunk aufgesetzte rosarote Brille gesprungen oder ganz abgefallen ist (etwa weil er regelmäßig /freie-denker/ liest), der könnte von den Bomben und Bandenkriegen in Schweden gehört haben. (Siehe etwa bbc.com, 12.11.2019: »Sweden’s 100 explosions this year: What’s going on?« – Sogar die links-globalistische BBC zitiert eine Polizistin zu den Verdächtigen derart: »many are perhaps second- or third-generation immigrants«, und sogar der linke Guardian (4.11.2019) gibt zu: »Sweden bomb attacks reach unprecedented level as gangs feud«.) Man könnte aktuell aus Birmingham mitbekommen haben, wie mit Macheten bewaffnete »junge Männer« ein Kino in Angst versetzten (mirror.co.uk, 23.11.2019). – Und wie geht es Deutschland derweil? Sagen wir mal so: Es ist ein Kommen und Gehen. Hochqualifizierte Deutsche wandern ab (nzz.ch, 6.4.2019, welt.de, 13.3.2018, usw.) – und… ach, zitieren wir einfach den Staatsfunk: »Mithilfe der Bundesregierung – IS-Frau mit Kindern zurückgekehrt« (tagesschau.de, 24.11.2019).
Doch, der »normale« Wahnsinn ist nicht der einzige Wahnsinn, der dieser Tage stattfand – es fand auch ein ganz besonderer Wahnsinn statt, nämlich der Parteitag der CDU. Es war ein Hochamt der Unterwerfung unter Merkel und ihren Klon. »Es ist die Funktionärsveranstaltung einer Kanzlerin, die sich den Staat zur Beute gemacht hat und damit ihre Ja-Sager entlohnt«, schreibt Roland Tichy bei Tichys Einblick, 22.11.2019, und viel mehr ist dazu nicht zu sagen, außer vielleicht dies: Was geht in den Köpfen von CDU-Politikern und -Delegierten vor? (Und in deren Herzen?!)
Europa brennt – teils buchstäblich – und diese Leute feiern sich dafür, was für tolle Untertanen sie sind (sie nennen es »loyal«). Man hat es ja beinahe schon aufgegeben, von etablierten Politikern ein erkennbares Gewissen einzufordern, das über dumpfe Parteidisziplin hinausgeht, doch ein Minimum an Denken, soll das auch schon zu viel sein?
Weil wir nicht Gutmenschen sind
Wer heute in Deutschland keinen Ärger bekommen will, der muss sich flexibel und anpassbar zeigen, was man heute »Haltung« nennt. Wer besonders feige wirkt und besonders laut nachplappert, was der Staatsfunk heute hören will, der wird für seinen »Mut« gepriesen. Aktuell wurde etwa Udo Lindenberg für seine »Courage« ausgezeichnet, siehe gala.de, 22.11.2019: »für den Klimaschutz und gegen Rechtsextremismus«, »Haltung« (nicht weiter erörtert wurden Ausführungen über »ostasiatische Genetik«, siehe fnp.de, 14.12.2018).
»Haltung« bedeutet Gehorsam bis in den Tod durch »Toleranz« (wobei der Tod nicht der eigene sein muss, man nimmt auch den Tod der sozial Schwachen in Kauf, siehe etwa »Gutmenschen riskieren das Leben anderer Leute«, »Aus Gutmenschen, die es selbst betrifft, werden schnell Bösmenschen«). Um zur bestmöglichen »Haltung« in der Lage zu sein, ist es notwendig, alle relevante Denktätigkeit einzustellen (was besonders deutschen »Kulturschaffenden« immer wieder auffällig samtig gelingt, siehe etwa »Kulturschaffende 1934, 1976, 2018«).
Viele von uns werden mir darin zustimmen, dass »Haltung« und Denken sich ausschließen – und auch ich selbst stimme mir zu. Wir alle wissen, wie die Abwesenheit von Denken aussieht – es genügt, sich mit einem Bürger zu unterhalten, der dem Staatsfunk glaubt, der die Heute Show witzig und Böhmermann auch nur akzeptabel findet. Doch die erkennbare Abwesenheit eines Vorgangs bedeutet noch nicht, dass man den Vorgang selbst verstanden hat.
Weil wir nicht Gutmenschen sind, weil unsere Parole weder »Wir sind mehr!« noch »Gehirn aus, Haltung an!« ist, wollen wir uns die schwierige Frage stellen: Was ist Denken?
Denken – gemeint: Nachdenken
Im Text »Non-Player Characters (NPCs) und das automatisierte politische Denken« habe ich den Typus des nicht-denkenden Mitläufers beschrieben, der mit »automatisiertem Denken« und Nachplappern der »moralischen« Parolen aus dem GEZ-TV seine »Haltung« beweist, aber eben nicht denkt. Doch, so berechtigt unsere Kritik an diesen Leuten sein kann, können wir auch angeben, was wir meinen, wenn wie »Denken« sagen?
Ich wage an dieser Stelle eine Reihe aufeinander aufbauender Arbeitshypothesen zur Bedeutung von Begriffen – alle öffentliche Denkarbeit findet so statt, und ich will es offenlegen.
Wenn wir, die wir ja keine Biologen oder Neurologen sind, vom Denken reden, dann reden wir von Inhalten, also von der Bedeutung der Vorgänge in unserem Kopf – und im Kopf der vielen Einzelnen (wir gehen an dieser Stelle nicht darauf ein, was die »Bedeutung von Bedeutung« ist).
Denken (in unserem, nicht-biologischen Sinn!) ist eine bestimmte Art, unsere Informationen über die Welt zu verarbeiten und oft auch Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten (für uns selbst und gelegentlich für andere).
Wenn ich in meinen Essays über Denken rede, meine ich ein Nachdenken. Man könnte es etwa so formulieren: Nachdenken bedeutet, die vielen möglichen Umstände und Konsequenzen einer Veränderung zu bedenken, im Gegensatz zur Angewohnheit, nur eine kleine Auswahl der Umstände und Konsequenzen zu bedenken, und diese Auswahl vom Zufall bestimmen zu lassen (etwa der Kultur, in die man geboren wurde, oder dem Freundeskreis) oder von der pragmatischen Nützlichkeit, diese oder jene Annahmen zu treffen (wer »wir schaffen das« glaubt und »Haltung«).
Das Leben, des Einzelnen wie das der Gesellschaft, ist wie ein Schachspiel, und mit jedem Zug des Gegners ändern sich die möglichen Konsequenzen des eigenen Zuges. Ein Denkender ist wie ein Schachspieler, der immer wieder die Lage auf dem Schachbrett neu bedenkt und entsprechend handelt, ein Bürger mit »Haltung« ist wie ein Schachspieler, dem irgendwer irgendwann einen lächerlich einfachen Grundstock an »guten« Zügen empfahl, woraufhin er diese und nur diese spielt, egal was der Gegner zieht, und wenn er dann verliert, dann schimpft und flucht er, und gibt allen Menschen die Schuld außer sich selbst.
Ein Mensch, der sich das (Nach-) Denken zur Angewohnheit machte, der geht gewohnheitsmäßig innerlich die möglichen Umstände und Implikationen einer Handlung durch. Ein Mensch, der nicht (nach-)denkt, übernimmt und reproduziert wie »automatisch« die Standpunkte, die er nur deshalb angenommen hat, weil etwa seine Religion oder der Staatsfunk ihm sie vorgaben – hätten seine Religion oder der Staatsfunk eine andere Meinung vorgegeben, würde er eben diese »denken«.
In der Meistergeschichte verweigert sich der Meister, um seine Botschaft spürbar zu machen, dem ursprünglichen Plan, die Räume des Hauses zu begutachten und einen geeigneten Raum auszuwählen, und er besetzt den erstbesten Raum, den er zufällig über einen Seiteneingang ausgewählt hat, wie unpraktisch die Wahl dieses bestimmten Raumes auch sein mag.
Das ist der Unterschied zwischen Nachdenken und Haltung, zwischen innerer Freiheit und unfreiem Gehorsam: Der denkende Mensch prüft, immer wieder aufs Neue die Möglichkeiten und Implikationen, der unfreie Mensch besetzt eine Haltung, ungeachtet der Möglichkeiten und Konsequenzen.
So rätselhaft wie dringend
Die Konsequenzen logischen Nachdenkens und der Betrachtung der Welt zu äußern kann in Staaten wie China, Iran oder Deutschland zu Strafen, Ächtung und sozialer Ausgrenzung führen – das Denken selbst aber ist noch legal – und doch tun es erstaunlich wenige!
Einige der von Ihnen am häufigsten gelesenen Texte ringen mit der Frage, warum Menschen sich dem Denken verweigern, warum Menschen sich »freiwillig dumm« benehmen, etwa »Es gibt kein Recht auf Dummheit« oder »Dummheit ist keine Meinung«.
Diese Frage ist mir so rätselhaft und zugleich so dringend, dass ich sogar ein T-Shirt- und Kapuzenpulli-Design dazu anbiete: »Denken darf jeder – warum tun es nur so wenige?!«
Man könnte sich ja einige Deutungen zurechtlegen und einige Möglichkeiten abgehen, warum Menschen so ungern denken – anders gesagt: Auch übers Denken und Nichtdenken kann man nachdenken – also sollte man es auch tun!
Denken tut weh!
Nachdenken über einen Sachverhalt und seine Konsequenzen kann demütigend sein, etwa wenn man erkennt, dass man falsch lag und die eigenen Handlungen zu Leid führen (deshalb haben Gutmenschen solche Angst vorm Nachdenken). Nachdenken kann einem Angst einflößen, etwa weil man auf Gefahren stößt, die man beim Nachplappern der Staatsfunk-Slogans nicht bedacht hatte. Und: Nachdenken ist eine körperliche Tätigkeit, und wie alle Tätigkeiten, die man nicht gewohnt ist, kann sie anstrengend sein und weh tun. Manche von Ihnen, liebe Leser, kennen den sarkastisch-liebevollen Spruch meiner Großmutter: Denken tut weh!
Wir können niemanden zum Denken zwingen, und ganz sicher nicht, wenn selbst zu denken einen in berufliche und finanzielle Schwierigkeiten bringen kann, während die Propaganda ihm einredet, wie böse es ist, selbst zu denken und die Konsequenzen aktueller Entwicklungen nicht zu leugnen.
Selbst zu denken kann den Vorteil haben, dass man sich früher vor Gefahren in Sicherheit bringt als die Bürger mit »Haltung«, doch bis dahin ist das Leben so viel anstrengender. Selbst zu denken ist anstrengend, gefährlich und vielleicht auch gruselig.
Wir können niemanden überreden, selbst zu denken, wir haben ja genug damit zu tun, uns selber immer wieder Mut zuzusprechen, selbst zu denken, selbst die Konsequenzen zu bedenken, und dann doch nicht den Mut zu verlieren, sondern zu kämpfen und immer wieder einen Weg zu finden, wie es weitergehen kann.
Es gibt Nützlichkeitsgründe für und gegen das eigene Denken, doch ich glaube zutiefst, dass das Denken sein eigener Preis ist. Wer selbst denkt, wer selbst die vielen Räume der Möglichkeiten abgeht statt im erstbesten sitzen zu bleiben, dessen innere (und oft auch äußere) Welt ist reicher und vielfältiger, bereits im Akt des Nachdenkens selbst.
Wer – wie so viele – nicht denkt, weil es nützlich ist, nicht zu denken, bei dem habe ich gewisse Zweifel, ob er mangels Übung überhaupt in der Lage wäre, sein Denken wieder einzuschalten, wenn es dann doch nützlich wäre (oder ob er dann jammern wird, »dass das ja niemand wissen konnte«).
Ja, Denken ist sein eigener Lohn, und zwar einer, über dessen Höhe (und Tiefe!) wir frei bestimmen können. Denken darf jeder – warum tun es nur so wenige?! Ich weiß es nicht mit Sicherheit, doch ich habe so meine Vermutung. Ich versuche, täglich neu, meinen inneren Schweinehund niederzuringen, nicht faul zu werden und der »Haltung« zu verfallen. Ich gebe mein Bestes, täglich neu mein eigenes Motto zu leben: Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.