Tichys Einblick
Die Politikerkaste verhöhnt die Bürger

Mehr als nur eine Regierungskrise: Die Demontage der demokratischen Ordnung

Fassungslos kann man derzeit den menschlichen, moralischen, machtpolitischen und fachlichen Totalausfall des politischen Establishments in Deutschland beobachten.

picture alliance / dpa | Paul Zinken

Sollte man Demokratie anhand dessen definieren, was derzeit in Deutschland geschieht, müsste man sie für eine außerordentlich wenig wünschenswerte Regierungsform halten. Sie bedeutet offensichtlich, dass sich eine Clique von Politikern gegenseitig Macht zuschachert, und Entscheidungen an der verfassungsmäßigen Ordnung vorbei ausklüngelt.

Was Demokratie augenscheinlich nicht bedeutet: Politik zum Wohle des deutschen Volkes. Dann aber zumindest zum Wohle der am Machtpoker maßgeblich beteiligten Parteien? Vordergründig vielleicht, doch der Schuss wird nach hinten losgehen, das ist absehbar.

„Weiter so“ statt Wende

Taktik statt Politik
Friedrich Merz: die menschgewordene Staatskrise
Friedrich Merz, der vielfach mundtot Gemachte, oft Totgesagte, ist nun in der einmalig vorteilhaften Situation, nicht nur einen hinterlistigen Egomanen stellen, sondern eine historische Politikwende einleiten zu können, um dem Kranken Mann Europas aufzuhelfen, ja, der desillusionierten Bevölkerung wieder Vertrauen in „die da oben“ einzuflößen, und der CDU nach Jahren des Rumgemerkels wieder zu einem klassischen konservativen Profil zu verhelfen – dem Profil einer Volkspartei, die tatsächlich abbildet, was die Mehrheit der Menschen wünscht: eine erträgliche Abgabenlast, bezahlbare Lebenskosten, stabile Sozialsysteme und Sicherheit im öffentlichen Raum. Kurz: an der Realität orientierte Politik ohne ideologische Scheuklappen.

Aber Merz will lieber „Zufallsmehrheiten“ mit politischen Gegnern vermeiden, und erweist sich damit nicht als derjenige, der den Ausweg aus der derzeitigen Krise weist, sondern als jemand, der ebenso in politelitären Denkmustern gefangen ist, wie seine Gegenspieler grüner und roter Prägung. Er will die richtige Sache fallen lassen, sobald sie von den Falschen unterstützt wird – welches Druckmittel er jenen „Falschen“ damit in die Hand gibt? Eine Frage, deren Beantwortung uns verunsichern könnte.

So will er „nur noch Dinge auf die Tagesordnung setzen, die vorher im Konsens zwischen Opposition und restlicher Regierung vereinbart“ wurden. Eine Aussage, die nicht nur einer Verhöhnung demokratischer Prinzipien gleichkommt, sondern demonstriert, dass dem kategorischen Ausschluss der AfD um jeden Preis – und damit einer signifikanten Anzahl von Wählern – für ihn schwerer wiegt als die Lösung der zahlreichen Krisen, die Deutschland beuteln.

Geklüngel statt Verfassungstreue

Auch der Neuwahltermin wird an der Verfassung vorbei verhandelt: Mit welcher Leichtfertigkeit wird hier dem Volk demonstriert, dass man sich nicht zu schade ist, den Willen des Grundgesetzes zu ignorieren, und nicht einmal für nötig zu halten, diese Ignoranz wenigstens notdürftig zu kaschieren? Die Lobhudelei über die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die alljährlich anlässlich des Geburtstags der Bundesrepublik über mediale Kanäle flutet, können sich die Herren Politiker gleich ganz schenken, wenn dies die Art und Weise ist, wie sie mit diesem kostbaren Erbe umgehen. Dem Wähler präsentiert sich eine Politikerkaste, die am eigenen Willen ebenso vorbeiregiert wie an der Verfassung.

Ein fatales Bild, das, wenn überhaupt nur noch unterboten wird von der Performance der gescheiterten Regierung: Dummerweise hat sich der designierte neue Finanzminister verplappert. Jörg Kukies wusste schon einen Tag vor dem Rauswurf Lindners Bescheid; „abstrakt“ freilich, nur „abstrakt“ habe man über die Möglichkeit des Postens für ihn gesprochen, versucht er sich zu retten.

Dabei ist derartige Diskretion gar nicht notwendig: Wir alle wissen, dass die einstudierte und druckreif abgelieferte Teleprompter-Rede des Kanzlers keine spontane Reaktion auf verantwortungsloses Verhalten vonseiten Christian Lindners war, sondern ein sorgfältig geplanter Coup. Schamlose Instrumentalisierung der Ukrainer, deren Unterstützung Lindner durch sein Festhalten an der Schuldenbremse angeblich behindert, inklusive. Dabei löst wenigstens Lindner eines seiner Worte ein, wenn auch spät: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, hatte er 2017 angesichts des Scheiterns der Verhandlungen zu einer Jamaika-Koalition gesagt.

Merz und Scholz fügen sich indes nahtlos in das bedauernswerte Gesamtbild deutscher Politik ein: eine Bundeswahlleiterin, die, ohne mit der Wimper zu zucken, vor der Kamera Papierknappheit vorschützt, um das Hinterzimmergeklüngel nicht zu sabotieren; ein Bundespräsident, der nicht nur pikiert, sondern gleich vollauf beleidigt ist, wenn jemand statt Sonntagsreden Tacheles abliefert; ein Verfassungsschutzchef, der für die CDU in den Bundestag will, um weiter Pfründe anzuhäufen: Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Politisierung von Verfassung und Justiz
Hände weg vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz
Und all das, weil man sich hinter den Barrikaden der Brandmauer in Sicherheit wähnt. Da draußen, da türmen sich die Wählerstimmen für die AfD auf, aber die kann man ja womöglich verbieten lassen. Wohin sich dann die Millionen um ihre Teilhabe geprellten Wähler wenden werden? Was geht’s uns an? Hauptsache, man kann den linken Kurs weiterfahren, den die Mehrheit der Deutschen ablehnt.

Ja, selbst das Bundesverfassungsgericht gerät zur Zielscheibe, um die eigene Macht zu zementieren: alles freilich unter dem Vorwand, Verfassung und Justiz vor Beeinflussung schützen zu wollen. Vor der Beeinflussung derer, die nicht dem Club angehören, freilich. Dass man damit kurzsichtig ein etabliertes System unterminiert und womöglich in nicht allzu ferner Zukunft dramatisch anderen Mehrheiten und politischen Kräften ausliefert: So weit will keiner der Beteiligten denken, kann es womöglich auch gar nicht mehr, da man den Blick über die Brandmauer gar nicht mehr wagt.

Mediale Paralleluniversen

Das alles gelingt, weil sich das politische Theater in zwei beinah voneinander abgekoppelten Universen abspielt. Freilich, wer sich auf Elon Musks Plattform X bewegt, der bekommt die O-Töne, die er braucht, um sich eine halbwegs belastbare Meinung zu bilden: Der sieht ohnmächtig, wie Scholz vor den Teleprompter tritt und wird ungläubig Zeuge des schäbigen Nachtretens, ohne journalistische „Einordnung“, die am Ende Lindner als Sündenbock präsentiert. Der rezipiert fassungslos Habecks infantilen X-Auftritt, der sich in der seltsamerweise perfekt ausgeleuchteten „Küche von Freunden“ als Mann aus dem Volk inszeniert. Der bekommt Kukies selbstgefälligen Aussetzer frei Haus geliefert. Hier, auf X, bekommt der Bürger einen Eindruck von der Realität, in all ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit, sicher, durch die geringe Filterung durchsetzt auch mit einigem Unsinn, mit vorschnellen, falschen und voreingenommenen Urteilen.

Battleground Germany:
Robert Habeck und Elon Musk im Stellvertreterkrieg um die Meinungsfreiheit
In der Mainstream-Welt aber findet all dies so streng gefiltert statt, dass aus dem Koalitionssprenger Scholz der Staatsmann wird, aus Lindner, der unversehens seine Restintegrität gefunden hat, der Zerstörer der Koalition. Über Habeck, den verwuschelt-sympathischen grünen Spitzenkandidaten erfahren wir, dass bald sein neues Buch „Den Bach rauf“ veröffentlicht wird – Realsatire auf die Spitze getrieben, schließlich hat er es eigenhändig geschafft, die deutsche Wirtschaft komplett den Bach runtergehen zu lassen: Aber wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt, wie es in einem Kinderbuchklassiker Astrid Lindgrens so schön heißt, und deklarieren den Abstieg der deutschen Wirtschaft in eine Erfolgsgeschichte um. Dichterische Freiheit nennt man das.

In der konstruierten Mainstream-Wirklichkeit wird Jörg Kukies zum schlaflosen Helden gekürt und besungen, Neuwahlen werden als problematische Hürde dargestellt, nicht als vom Grundgesetz gedeckter, gut durchdachter Prozess, der trotz seines Ausnahmecharakters einen festen und wohldefinierten Platz in der demokratischen Grundordnung des Landes hätte. In dieser Parallelwelt wird einer Demokratiesimulation das Wort geredet, die den Bürger entmündigt und an den Kindertisch verweist, während die Erwachsenen das schon regeln.

Hohe Erwartungshaltungen:
Quo vadis, Trump?
Das funktioniert – noch. Aber das Informationsmonopol politisch willfähriger Medien wackelt. Insbesondere durch den Wahlsieg Trumps in den USA stehen die Zeichen auf Wandel, was die zensurbewegte Medienregulierung in der EU betrifft. Was wird passieren, wenn nicht mehr nur X-Nutzer sehen, dass der Kaiser nackt, die Demokratie verachtet und der Wähler verhöhnt wird? Werden die Menschen dies ebenso lethargisch über sich ergehen lassen wie die destruktive Ampelpolitik der letzten Jahre, und die nicht weniger zerstörerische Agenda der Ära Merkel? Oder wird dann irgendwann doch das Maß voll sein, und die AfD als Fundamentalopposition zu viele Stimmen auf sich vereinen, um weiter ignoriert und boykottiert werden zu können?

Hier zeigt sich, dass man die derzeitigen Strategien der Demokratiemissachtung nicht einmal als kühlem Machtbewusstsein geschuldet deuten kann: Am Ende werden jene, die jetzt demokratische Prinzipien ignorieren, doppelt verlieren. Das Vertrauen der Bevölkerung wird verspielt sein, nachdem man demokratische Mechanismen selbst ausgehöhlt und schadhaft gemacht haben wird. Nicht die SPD, nicht die Grünen, auch nicht die CDU werden am Ende eines solchen Prozesses der Erosion demokratischer Verhältnisse als Gewinner dastehen. Vom deutschen Volk gar nicht zu reden. Das taucht in der Milchmädchenrechnung gar nicht auf.

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