Tichys Einblick
Feindbild „Gegen rechts“

Ein Land im Gleichschritt

Masse macht Anziehung: Je mehr bei Demonstrationen in Deutschland dabei sind, desto mehr andere wollen auch noch mitmachen. Dabei ist der Anlass nebensächlich, denn es geht auch um die Selbstauflösung in der Menge. Der Deutsche läuft zu oft zu willig der vermeintlichen Mehrheit hinterher.

IMAGO

Vor 80 Jahren, nur einen Tag nach der Kapitulation der deutschen Besatzer, führte Charles de Gaulle eine Siegesparade auf den Champs-Élysées an: am 26. August 1944. Zeitzeugen berichteten von mehr als einer Million, die am Straßenrand standen, um dem Anführer der siegreichen „Résistance“ und seinen Widerstandstruppen zuzujubeln.

Doch de Gaulle war mürrisch. Einem Brigadegeneral, der hinter ihm ging, grummelte er zu: „Genauso haben sie genau hier beim deutschen Einmarsch der Wehrmacht zugejubelt“ (am 14. Juni 1940, Red.). Der Brigadegeneral wollte seinen Oberbefehlshaber aufmuntern und sagte: „Aber heute sind es doch viel mehr.“ Der große Menschenkenner de Gaulle widersprach nüchtern:

„Es sind nicht mehr. Und es sind dieselben.“

Obwohl unabhängig voneinander befragt, haben drei Botschafter westlicher Verbündeter in Berlin praktisch wortgleich und ungewohnt direkt das kommentiert, was derzeit in Deutschland passiert. Den erfahrenen und schon berufsbedingt wenig schreckhaften Diplomaten macht es übereinstimmend Angst, wie sich die immer noch viertgrößte Volkswirtschaft der Welt wegen der AfD in eine regelrechte Hysterie hineinsteigert.

Zum einen sorgt dabei die Bundesregierung für immer heftigeres Kopfschütteln. Die Wahrnehmung im Ausland – auch bei engen Verbündeten – ist demnach so: Die Ampel hat mit ihrer Politik weite Teile selbst der bisherigen Unterstützer nachhaltig vergrault. Da plötzlich, beinahe wie bestellt, „enthüllt“ die staatlich finanzierte linke Plattform „Correctiv“ vermeintlich Skandalöses über ein privates Treffen von ein paar Rechtsnationalen.

Das nutzen Scholz & Co. nun, um erst zu Protesten „Gegen rechts“ aufzurufen, dann höchstdarselbst an solchen Kundgebungen teilzunehmen – und so kamerawirksam davon abzulenken, dass nur durch das ureigene Versagen der Ampel die AfD in breiteren Bevölkerungsschichten überhaupt so populär geworden ist.

Zum anderen schaut man im Ausland mit wachsender Sorge darauf, wie leicht ein großer Teil der deutschen Bevölkerung sich von der Regierung, von den staatsnahen Medien und von staatlich alimentierten sogenannten „Nicht-Regierungs-Organisationen“ (NGOs) auf die Straße treiben lässt. Dieses Mobilisierungspotenzial des braven deutschen Bürgers, bekennt ein Diplomat freimütig, erschrecke ihn weit mehr als alles, was an wirklich harten Fakten über vermeintliche rechte Verschwörungen tatsächlich bekannt sei.

Was die fassungslosen ausländischen Diplomaten beim besorgten Blick auf Deutschland verkennen: Das Phänomen ist mit „Mobilisierungspotenzial“ nur halb beschrieben. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um ein Selbstmobilisierungspotenzial.

Und das ist wesentlich schlimmer.

Bei allem berechtigten Streit um die Zählung von Teilnehmern an Demonstrationen: Die Kundgebungen „Gegen rechts“ kann man bei sachlicher Betrachtung nur als Massenproteste einstufen. Manche sagen nun, dabei handele es sich um von der Regierung, den staatsnahen Medien und den NGOs orchestrierte Veranstaltungen – sozusagen um „gelenkte“ Demos. Nur deshalb würden da so viele mitlaufen.

Aber das stimmt nicht.

Vor allem für klassisch liberale, konservative oder rechtsnationale Kreise ist es verständlicherweise bequem, an einen großen, bösen, linken Plan der Regierung zu glauben, nach dem möglichst viele manipuliert und sozusagen gegen ihren Willen (und gegen ihre Interessen) zu Massenkundgebungen getrieben werden. Tatsächlich dürften aber auch ganz ohne die weitgehend staatlich finanzierte – und streckenweise einer Gehirnwäsche ähnelnde – mediale Dauerbeschallung „Gegen rechts“ Hunderttausende auf die Straße gehen.

Nur wäre es ein großer Irrtum zu glauben, dass es der offiziell proklamierte Zweck des Protestes ist, der die Leute zu Demonstranten macht. Denn die Deutschen rotten sich nicht vorrangig für oder gegen irgendetwas Bestimmtes zu Massenveranstaltungen zusammen.

Sie machen mit, weil so viele andere mitmachen.

Der großen Menschenkennerin Elisabeth Noelle-Neumann verdanken wir die Erkenntnis, dass die Deutschen ein tiefes Bedürfnis danach haben, zur Mehrheit zu gehören. Demoskopisch spiegelt sich das darin wider, dass viele Bürger bei uns ihre Wahlentscheidung nicht nach politischen Inhalten treffen – sondern vor allem danach, wer vermutlich die Wahl gewinnen wird. Frau Noelle-Neumann brachte das einst auf die Formel:

„Deutsche wählen nach Möglichkeit so, dass sie hinterher zu den Siegern gehören.“

Es gibt also so etwas wie eine politische Gravitation: Das Lager mit der größten Masse hat auch die größte Anziehungskraft. Wo schon viele sind, dahin strömen auch noch andere besonders gerne. Bei einer Großdemonstration zusammen mit Zehntausenden macht man viel lieber mit als bei einem Mini-Protest zusammen mit nur ein paar einsamen bemitleidenswerten Figuren.

Massendemonstrationen müssen deshalb gar nicht „gelenkt“ werden. Es reicht, sie anzustoßen und den Eindruck einer großen, mächtigen Bewegung zu erzeugen. Ob es schon ganz am Anfang tatsächlich eine große, mächtige Bewegung ist, spielt dabei keine Rolle: Entscheidend ist, dass möglichst viele daran glauben.

Den Rest macht die deutsche Masse dann von ganz allein.

Allerdings wäre es unfair und auch nicht sachgerecht, uns Deutschen hier ein negatives Alleinstellungsmerkmal in Gottes vielfältigem Menschengeschlecht einzureden. Auch andere Völker folgen dem Impuls zum willigen Mitläufertum.

Der große Menschenkenner Alexis de Tocqueville hat das als „Tyrannei der Mehrheit“ beschrieben – und meinte damit die USA. Auch für sein Heimatland Frankreich sowie für die meisten anderen Nationen Europas sah er ähnliche Gefahren. Freilich beschrieb de Tocqueville auch, wie vor allem in den USA gegengesteuert wurde: maßgeblich durch eine konsequente Dezentralisierung der Macht, durch eine von jedem Bürger geradezu eingeforderte aktive Teilnahme am politischen Leben – und, horribile dictu, durch sozial dominierende christliche Verhaltensregeln.

Von alldem kann im Deutschland des Jahres 2024 natürlich keine Rede sein – im Gegenteil: Die Macht im Land wird konsequent zentralisiert, der politisch aktive Bürger als soziale Figur wird zurückgedrängt, und was christliche Werte angeht … ach, lassen wir das.

Insofern ist es zwar nicht nur bei uns schlimm. Aber bei uns ist es besonders schlimm.

Wir Deutsche haben das Gleichschritt-Gen: Wir wollen zu den Vielen gehören, zur Mehrheit, zur Masse. Das erkennt man zum Beispiel am berüchtigten „Konsens der Demokraten“. Es gibt mittlerweile keinen Spitzenpolitiker mehr, der sich nicht darauf bezieht. In Wahrheit ist dieser „Konsens der Demokraten“ aber ein totalitäres Konzept. Denn Konsens ist der natürliche Feind der Demokratie. Konsens heißt: einheitliche Interessen. Die freiheitliche Gesellschaft lebt vom Gegenteil: vom Ausgleich widerstreitender Interessen. Zur Erinnerung: Das können linke Interessen sein – aber natürlich auch rechte.

Doch selbst unsere großen linken Theoretiker haben sich aus ihrem Deutschtum nicht emanzipiert. Überall sonst auf der Welt gibt es anarchistische Denkschulen, die den Staat skeptisch sehen, Ordnung für überbewertet halten und das Individuum in den Mittelpunkt rücken. Aus Deutschland, dem Land von Karl Marx, kommt – nur Karl Marx. Bei dem ist von Individualität, Staatsskepsis oder gar Anarchie nun wirklich keine Spur.

Es ist leider nicht zu leugnen: Mehr als andere Nationen streben wir Deutschen nach Konformität. Heinrich Mann hat das erkannt wie kein anderer und daraus sein bestes und beklemmendstes Werk gemacht: „Der Untertan“.

So kommt es auch zu den großen Lebenslügen, die wir als Nation mit uns herumschleppen. Der 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ ist so eine Lebenslüge. Denn natürlich haben damals viel mehr mitgemacht, als es hinterher wahrhaben wollten. Dasselbe gilt für die DDR, die – anders, als viele rückblickende Erzählungen heute nahelegen – nicht eben überfüllt war mit Dissidenten und Regimegegnern.

Die lustvolle Bereitschaft, mitzumachen und dabei zu sein, wenn eine mutmaßliche Mehrheit etwas vormacht, hat sich fast unverändert gehalten.

Allzu viele Deutsche mussten nicht erst groß dazu gedrängt werden, um ihre ungeimpften Nachbarn als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Und allzu viele Deutsche haben sich ohne Not zu willfährigen Erfüllungsgehilfen einer autoritären Corona-Maßnahmen-Industrie gemacht.

Der Deutsche will, so scheint es, eintauchen in das Kollektiv. Emotionales Ziel ist die Selbstauflösung in der Masse. Dieselben, die jetzt auf die Straße gehen, waren schon bei den Großdemonstrationen gegen die Kernkraft dabei, dann beim kollektiven Deutschland-Rausch während des Sommermärchens der Fußball-WM 2006 – und jetzt eben bei der neuesten Mode von deutschem Massenwahn: „Gegen rechts“.

Ohne es zu merken, reproduzieren die Demonstranten von heute auf den zeitgenössischen Massenveranstaltungen dabei exakt den kollektiven Charakterzug ihres Landes – von dem sie aber lustigerweise (und fälschlicherweise) glauben, dass sie ihn hinter sich lassen. Auf einer Demo „Gegen rechts“ in Köln hielt eine junge Frau ein handgeschriebenes Plakat, auf dem stand:

„Jetzt können wir endlich herausfinden, was wir anstelle unserer Urgroßeltern getan hätten!“

Abgesehen vom an Peinlichkeit nicht mehr zu überbietendem Gratismut der jungen Dame bildet sie auch ziemlich genau den Zustand unseres Bildungswesens ab. Denn erstens ist der historische Bezug zu Oma und Opa nur, nun ja, so mittelkorrekt. Damals bei den Großeltern stand an jeder Ecke halt ein SA- oder SS-Mann mit einem Gummiknüppel in der Hand, während die mutige Plakathalterin von heute nach der Demo von Mutti oder Vati im SUV sicher nach Hause gebracht wird (Köln ist ja sooo gefährlich am Abend).

Zweitens fehlt erkennbar jedes Verständnis für die zwangsläufige Folge von Inflation. Die heißt: Entwertung. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, wo Inflation das Geld entwertet. Es gilt auch für die Politik, wo der inflationäre Gebrauch von Begriffen die Konzepte hinter den Begriffen entwertet. Wenn alles „Nazi“ ist, ist sehr schnell eben nichts mehr „Nazi“.

Leider steht zu vermuten, dass die junge Dame mit dem Plakat nichts von alldem verstehen würde. Und selbst wenn, wäre es ihr auch egal: Denn was wirklich zählt, ist doch dieses grandiose Gemeinschaftsgefühl auf der Großdemo am Kölner Heumarkt, gell?

Im Drama „König Lear“ lässt der große Menschenkenner William Shakespeare den Grafen Gloucester (nach einer modernen Übersetzung) sagen: „Es ist der Fluch unserer Zeit, dass die Irren die Blinden führen.“ Das war 1606.

Im Kern hat sich nicht viel geändert seitdem.

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