Tichys Einblick
Niemand versteht das

Das Wahlrecht geht so lange „zum Brunnen“, bis es bricht

Offensichtlich muss ein Wahlrecht nur kompliziert und widersprüchlich genug, aber ein Vorteil für alle Parteien sein, damit nicht einmal das Bundesverfassungsgericht den Bundestag dazu bringt, das offenkundige Unrecht zu korrigieren.

© Carsten/Koall/Getty Images

In den Bundestag, der im Normalfall 598 Mitglieder hat, zogen 709 Abgeordnete ein. Diese exorbitante Aufblähung der Mandate trifft in einer breiten Öffentlichkeit auf Unverständnis und Ablehnung. Insbesondere hat Bund der Steuerzahler dagegen Front gemacht und schon in der 18. Legislaturperiode beim Deutschen Bundestag vorsorglich eine Petition mit mehr als 87.000 Unterschriften eingereicht, mit dem Ziel einen „XXL-Bundestag“ zu verhindern. Selbst Otto Hermann Solms hat in seiner Rede als Präsident der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestags am 24. Oktober die Aufblähung des Bundestages mit Blick auf die steigenden Personalkosten kritisiert und eine Rückkehr zum früheren Wahlgesetz verlangt, im dem es noch keine Ausgleichsmandate gab.

Das Verfassungsgericht hatte in seiner Grundsatz-Entscheidung vom 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) die „Überhänge“ gedeckelt: „Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien sind bei eine Anfall von Überhangmandaten von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke verletzt.“ Mehr als 15 Überhangmandate sind demnach unzulässig. Bei der Wahl vom 24.9. 2017 sind 46 Überhänge entstanden, ein nie dagewesener Rekord. Der Überhang wurde ausgeglichen, aber nicht durch 46, sondern durch 65 nachgeschobene Ausgleichsmandate. Der Ausgleich ist also größer als der Überhang.

Inwieweit die Überschreitung der Zulässigkeitsgrenze von 15 Überhängen durch nachgeschobene Aufstockungsmandate geheilt werden kann, ließ das Gericht offen. Nirgendwo und niemals hat es seine Zustimmung gegeben, dass die nachgeschobene Aufstockung der Mandate den Überhang sogar noch übersteigt. Schon gar nicht hat das Gericht in Karlsruhe gebilligt, dass für diesen nachträglichen und über jedes Ziel hinausschießenden Eingriff in das Wahlergebnis eine konkret auf den Ausgleich bezogene Nachwahl fehlt, weil die Wähler gar nicht über den Ausgleich abgestimmt haben.

Ein überfrachtetes Konstrukt

Das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen ist ein vollkommen überfrachtetes Konstrukt: Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Soweit die Doppelwahl nicht durch die unmittelbare Personenwahl gedeckt ist, kann sie vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben. Denn die unmittelbare, d.h. namentliche Wahl der Abgeordneten gehört zu den in Erz gegossenen Grundsätzen der Abstimmung über die personelle Besetzung des Deutschen Bundestages, wie sie in Art. 38 Abs. 1 GG garantiert wird. Die gewählten Abgeordneten sind „nur ihre Gewissen unterworfen“. Im zweiten Absatz der gleichen Verfassungsnorm heißt es ausdrücklich: „ (…) wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Steine oder Tiere können nicht zu Abgeordneten gewählt werden. Es müssen volljährige, zu Gewissensentscheidungen befähigte Personen sein, die auf dem amtlichen Stimmzetteln namentlich gekennzeichnet werden.

Das Wahlgesetz des Bundes führt in § 15 Abs. 1 BWahlG näher aus: „Wählbar ist, wer am Wahltag erstens Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist und zweitens das 18. Lebensjahr vollendet hat.“ Wählbar ist also nur eine natürliche Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, die ihrer Aufstellung als Kandidat zustimmt. Das alles kann auf politische Parteien auch dann nicht zutreffen, wenn sie als eingetragene Parteien juristische Personen sind, die im Übrigen nur durch ihre Organe, d.h. den Vorsitzenden und den Vorstand handeln könnten. Kurzum erfolgt die persönliche Wahl, wie sie das Grundgesetz garantiert, auf amtlichen Stimmzetteln durch unmittelbare Kennzeichnung einer natürlichen Person (Personenwahl).

Der Deutsche Bundestag besteht regulär aus 589 Mitgliedern. Davon werden 299 mit der Erststimme unmittelbar gewählt. Insoweit ist auch in Deutschland die klassische Direktwahl in 299 überschaubaren Wahlkreisen nach dem „Westminster-Modell“ verwirklicht und so im Wahlgesetz verankert. Mindestens 299 Abgeordnete gelangen jedoch über die Landeslisten in den Bundestag, die von den Parteien in 16 Bundesländern aufgestellt werden. Sie werden nicht unmittelbar, sondern mittelbar gewählt.

Über die Listen der Parteien wird „en bloc“ abgestimmt. Aus ihnen kann keine namentliche Auswahl der Abgeordneten getroffen werden (geschlossene Listen). Die Listen sind unvollständig. Auf ihnen werden nur die Namen der ersten fünf Listenbewerber aufgeführt. Die restlichen Bewerber sind den gewöhnlich anzutreffenden Wählern unbekannt. Auf den Stimmzetteln wird mit der Zweitstimme der Name einer Partei gekennzeichnet. (Parteienwahl) Und dazu hat das BVerfG in der Nachrücker-Entscheidung v. 26.2.1998, (BVerfGE 97, 317 (323)) festgehalten: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Diese Rechtsauffassung ist schon in Vier-zu-vier-Grundsatzentscheidung des BVerfG v. 10.4.1997 (BVerfGE 95, 335) anzutreffen.

Die Rechtsfolge liegt auf der Hand: Die Zweitstimme ist für sich alleine genommen nicht verfassungskonform. Sie bedarf der Personalisierung durch eine vorgeschobene Entscheidung mit der Erststimme. Doch niemand kann 598 Listenplätze, die sich aus den Zweitstimmen ergeben, durch eine gleichzeitige Erststimmen-Wahl personifizieren, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch bei einer Doppelwahl mit zwei Stimmen muss die Zahl der Sitze im Parlament zwingend mit der Zahl der Wahlkreise deckungsgleich sein. Das war bei der Bundestagswahl vom 24.9.2017 offensichtlich nicht der Fall.

„Negative“ Stimmengewichte: eine gesetzgeberische Absurdität

Das Verfassungsgericht hat die „negativen“ Stimmengewichte schon zweimal untersagt. Trotzdem ist dieses paradoxe Phänomen beim Mandatsausgleich, der 2013 auch im Bund eingeführt wurde, regelmäßig anzutreffen. 2017 hat die SPD in zwei Bundesländern zusammen drei „Überhänge“ (Direktmandat ohne Listenplatz) erzielt, zwei in Hamburg und eines in Bremen. Gleichwohl wurden der Partei insgesamt 19 nachgeschobene Aufstockungsmandate zugeteilt, ein „Verfahrensgewinn“ von 16 Sitzen.

2013 hatte die CDU in vier Bundesländern – in Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und im Saarland – jeweils einen Überhang erzielt und ging als alleinige Verursacherin der 4 Überhänge mit 13 von insgesamt 29 Aufstockungsmandaten zugleich als der größte Ausgleichsprofiteur aus der Wahl hervor. Das waren „netto“ 9 Zusatzmandate. Zwei Stimmen sind zwei Wahlen, und zwar mit unterschiedlichen Wahlergebnissen. Es kann aber nicht sein, dass der Wahlgesetzgeber das schlechte Abschneiden einer Partei bei den Zweitstimmen durch einen nachgeschobenen Bonus an Listenplätzen belohnt.

Weil das 2017 bei der SPD und 2013 bei der CDU der Fall war, ist das Paradox der „negativen“ Stimmengewichte offensichtlich nicht ausgeschlossen worden, wie es das Verfassungsgericht höchstrichterlich angeordnet hat. Wenn auch in anderer Gestalt als zuvor, tritt das „negative“ Stimmengewicht nach der Wahlrechtsreform von 2013 beim Mandatsausgleich deutlicher in Erscheinung als jemals vorher. Und das ist mit dem Urteil vom 3.7.2008 unvereinbar.

Verbundene Abstimmung mit unverbundenen Stimmen?

Die unverbundene Abstimmung, d.h. das sog. Stimmensplitting, ist ungesetzlich. Nach dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG werden die Abgeordneten, „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt“. Das schließt die unverbundene, die gespaltene, die getrennte Vergabe beider Stimmen natürlich aus. Trotzdem gehört die gespaltene Abstimmung seit 1953 millionenfach zum gewohnten Erscheinungsbild aller Wahlen und ist die Hauptursache für die leidigen Überhangmandate.

Zieht man die Erststimmen von den Zweitstimmen ab – oder umgekehrt – ergibt sich für die Bundestagswahl vom 22.9.2017 das nachfolgende Bild:

Rechtshistorisch taucht das Phänomen der gespaltenen Abstimmung überhaupt erst bei der zweiten deutschen Bundestagswahl im Jahre 1953 auf. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 konnte der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden. Die unverbundene Abstimmung war 1949 ausgeschlossen.

Niemand kann physisch zweimal im Bundestag sitzen. Wer mit beiden Stimmen, also zweimal gewählt wurde, hat kein doppeltes Mitwirkungsrecht an der parlamentarischen Willensbildung. Werden beide Stimmen unverbunden abgegeben, richtet sich die gespaltene Abstimmung im Endergebnis nicht mehr auf ein Mandat sondern auf zwei. Die unverbundene Abstimmung führt zu einer Verdoppelung des Stimmenerfolgs, und das ist die Hauptursache für die leidigen Überhänge. Diesen Sachverhalt hat das BVerfG schon 1957 (BVerfGE 7, 63 (74 f)) missbilligt, allerdings hinzugefügt, die damit verbundenen „Manipulationsmöglichkeiten“ müssten „im Falle des Missbrauchs angezweifelt werden“. Dies ist mit der Wahlanfechtung geschehen, die Axel Schlicher, Kaiserslautern, und andere beim Deutschen Bundestag anhängig gemacht haben.

Vom Regen in die Traufe geraten: der Mandatsausgleich

Der Mandatsausgleich, der mit dem 22.Wahlrechts-Änerungsgesetz auch im Bund eigeführt wurde, ist grob verfassungswidrig. Bei der Wahl vom 24.9.2017 sind 46 „Überhänge“ entstanden. Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 46 sondern durch 65 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich ist also größer als der Überhang. Insgesamt sind 19 überhanglose Ausgleichsmandate entstanden. In diesen Fällen stand dem Ausgleich – unsinnigerweise – gar kein Überhang gegenüber. Die 65 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Aufstockungsmandat bekleiden, sind nicht in allgemeiner, nicht in unmittelbarer, nicht in gleicher, nicht in geheimer und schon gar nicht in freier Wahl gewählt worden. Sie sind überhaupt nicht gewählt worden. Und das ist grob verfassungswidrig.

„Ausgleichsmandate sind Zusatzmandate“. Über sie kann nicht in, sondern erst nach der Wahlhandlung entschieden werden. Erst wenn die Stimmen ausgezählt wurden und sich gezeigt hat, dass „Überhänge“ (Direktmandate ohne Listenplatz) entstanden sind, können diese ausgeglichen werden. Es gibt aber 299 direkt gewählte Mandatsträger, keinen weniger, vor allem aber auch keinen mehr. Und gewählt ist gewählt.

Die Zahl der Direktmandate steigt also gar nicht um irgendwelche gesetzwidrig gewählten Mandatsträger an. Direkt gewählte Abgeordnete, denen ihr Mandat in Wahrheit gar nicht zusteht, die gibt es nicht. Das Überhangmandat ist kein konkretes Mandat, und schon gar nicht ein Mandat, das einem bestimmbaren Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zusteht. Das Überhangmandat ist eine Differenz. Deshalb hat sogar der Wahlgesetzgeber selbst die „Überhänge“ (in § 6 Abs. 4, Satz 2 BWahlG) auch dann uneingeschränkt für zulässig erklärt, wenn eine Partei in einem Bundesland mit den Zweitstimmen weniger Listenplätze erreicht, als sie mit den Erststimmen Direktmandate erzielen konnte. Es liegt daher gar kein gesetzlicher Rechtsgrund für den Mandatsausgleich vor.

Ein Treppenwitz der Demokratie

Der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag fehlt die erforderliche Normenklarheit und Verständlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung zum „negativen“ Stimmengewicht vom 3.7.2008 (BVerfGE 121, 266) angeordnet, „das für den Wähler nicht mehr nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue und normenklare Grundlage zu stellen“. Diese höchstrichterliche Anordnung muss der Gesetzgeber befolgen, hat es aber nicht getan. Er ist damit seit nunmehr 9 Jahren im Verzug.

Zu allem Überfluss hatte schon Bundestagspräsident, Norbert Lammert in der 18. Legislaturperiode gegenüber der Presse vorgetragen, „nicht einmal eine Handvoll Abgeordneter ist in der Lage, unfallfrei die Mandatsverteilung zu erklären“. Das geltende Wahlrecht habe „die Mindestanforderungen an Transparenz“ nicht erfüllt. Die Deutschen wählen nach einem Verfahren, das in einem zentralen Punkt nicht einmal von den Abgeordneten, die es im Parlament beschlossen haben, „unfallfrei“ erklärt werden kann? – Ein Treppenwitz der Demokratie.

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