Tichys Einblick
Disziplin und Klopapier

Das Virus offenbart ein großes Manko dieses Landes

Das ausverkaufte Klopapier steht sinnbildlich für die Disziplinlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Ohne eine minimale Disziplin der Staatsbürger gerät eine Spaß- und Null-Risiko-Gesellschaft an den Rand des Scheiterns. Asiatische Länder zeigen uns, wie es besser geht.

imago images / Matthias Koch

Viele Bürger reagieren mit Hamsterkäufen auf die Krise, die das rasant sich ausbreitende Corona-Virus verursacht. Ausgerechnet Klopapier wird knapp, die Supermärkte und deren Lager sind leer. Dabei kennt man Mangelzustände höchstens noch aus dem Geschichtsbuch oder von Berichten aus den Elendsregionen dieser Welt. Lediglich Menschen über 80 haben noch die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt; Phasen unserer jüngeren Geschichte, in denen viele Bedürfnisse offen bleiben mussten.

Das ausverkaufte Klopapier steht dabei sinnbildlich für die Disziplinlosigkeit von Teilen der Bevölkerung, die in der Krisenlage zu Tage treten. Zahlreiche Bürger halten sich nicht an die Appelle, Hamsterkäufe zu unterlassen und schlimmer noch, zur Eindämmung der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus den direkten Kontakt mit anderen auf das unabdingbare Maß zu reduzieren. In München waren Biergärten und Straßencafes voll, die Leute scherten sich nicht um die Ansteckungsrisiken, die von diesem Verhalten ausgehen. Jeder ist sich selbst der Nächste, Partyspaß ist wichtiger.

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Zum Vergleich ein Blick nach Asien: Übereinstimmende Berichte aus China, Südkorea oder Japan belegen, dass dort zur Bekämpfung der Pandemie diszipliniert den regierungsamtlichen Anweisungen gefolgt wird. Die Straßen waren nach den entsprechenden Verfügungen der Behörden leer, die Bürger zeigen dort großes Verständnis und helfen nach Kräften mit, der viralen Bedrohung Einhalt zu gebieten. Mit Erfolg, wie bisherige Zahlenvergleiche belegen.

SPD und Disziplin

Inzwischen sind wir in Deutschland in eine Lage geraten, dass selbst der SPD-Generalsekretär die Bürger mit Blick auf generell drohende Ausgangssperren zu mehr Disziplin aufgefordert hat. SPD-Politiker und die Forderung nach Disziplin, wann hätte es das schon mal gegeben? Wir erinnern uns an den SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der sich über Sekundärtugenden[1] ausgelassen hat. Dieser äußerte im Jahr 1982 in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss, mit den von Bundeskanzler Helmut Schmidt gelobten Sekundärtugenden Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit und Standhaftigkeit könne man „auch ein KZ betreiben“. Ideologie getriebene Kurzsichtigkeit als Rezept für das Regierungshandeln, die 68er lassen grüßen. Über die Jahre hat sich diese höchst fragwürdige Einstellung verbreitet und mit dazu beigetragen, Recht und Ordnung, Disziplin und Sorgfalt in den Geruch von Unfreiheit und Despotismus zu bringen. Nun können wir in der Not in Teilen unserer Gesellschaft nicht auf Tugenden zurückgreifen, die zum Schutz von Risikogruppen gebraucht werden. Die ganze Bürgerschaft wurde von den verfügten Einschränkungen in der Lebensführung unvorbereitet getroffen, städtische Milieus rebellieren. Dass bei dieser hinlänglich bekannten Ausgangslage Bundesregierung und Landesregierungen unverantwortlich lange auf Einsicht und Freiwilligkeit gesetzt haben, um sich an umgehend gebotenen Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten vorbei zu mogeln, ist Teil des Sachstandes.

Was sagt das nun über das Funktionieren und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft aus und welche Schlüsse können aus diesem Sachverhalt gezogen werden? Einige Ursachen für dieses desaströse Verhalten der Gemeinschaft gegenüber werden unserer Geschichte zugeschrieben.

Individuelle Freiheitsrechte versus Rechte der Gemeinschaft

Die Freiheitsrechte bilden neben den Gleichheits-, den Verfahrens- und Teilhaberechten eine eigene Kategorie der Grundrechte. Ein souveräner Staat muss auf seinem Staatsgebiet die Staatsgewalt über sein Staatsvolk ausüben. Diese Macht des Staates steht in einem prinzipiellen Gegensatz zur Freiheit des Einzelnen. Zur Verhinderung staatlicher Allmacht werden in freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten daher die Eingriffsrechte des Staates begrenzt und den Menschen Individualrechte eingeräumt. Soweit so gut. Die Frage steht dabei ständig im Raum, inwieweit eine Balance gelingt zwischen der Staatsgewalt und dem Individuum, zwischen den Rechten der Gemeinschaft, die notwendig sind, damit diese halbwegs funktionieren kann und dem Freiraum des Einzelnen. Dieser soll sich individuell soweit entfalten können, bis die Rechte anderer tangiert werden. Diese Balance scheint bei uns aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Den Individualrechten in unserer Gesellschaft wurde im Laufe der Zeit eine immer höhere Priorität zuerkannt, der Gemeinsinn ging bei zu Vielen verloren. Zu den fragwürdigen Hinterlassenschaften der 68er zählt zweifellos, dass staatliche Durchgriffsrechte beschnitten wurden zugunsten von Toleranz, Freiheit, Vielfalt, Gleichheit und Weltoffenheit. Eine der Begründungen dafür waren die Erfahrungen mit der Nazidiktatur, in der der Einzelne nichts galt und den Rechten der Volksgemeinschaft absoluter Vorrang eingeräumt wurde. Von einem Extrem ins andere könnte man sagen.

Sprechende Parallelen
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Bevor jedenfalls in unserem Lande die individuellen Rechte beschnitten und der Gemeinschaft, um nicht zusagen der Staatsgewalt, mehr Möglichkeiten eingeräumt werden, muss schon einiges passieren. An dieser Stelle sind wir nun im Zuge der Corona-Pandemie angelangt. Staatliche Instanzen beschneiden inzwischen rigoros die Bürgerrechte auf freie Gestaltung des Tagesablaufes, der Bewegungsfreiheit wie auch von Sozialkontakten. Zur Eindämmung des Virus wird dies nun erforderlich sein, ganze Bevölkerungsschichten vornehmlich in den großen Städten verweigerten sich aber dieser Einsicht. Die Folge ist eine generelle, von Polizei und Ordnungsdiensten überwachte Ausgangsbeschränkung. Das beispiellose Herunterfahren nahezu aller wirtschaftlichen Aktivitäten wird gewaltige volkswirtschaftliche Einbußen mit sich bringen und alle treffen: die bisher bereits alle Einschränkungen aus Einsicht mitgemacht haben, zum Glück auch die Verweigerer.

Vollbremsung eines ganzen Landes

Mit mehr Disziplin wäre diese gesellschaftliche Vollbremsung zu vermeiden gewesen. Disziplin wird allerdings in unserer pazifistisch geprägten Republik in die Nähe von Befehl und Gehorsam gerückt. Dabei ist darunter keine Knechtschaft zu verstehen, sondern die Selbststeuerungskompetenz aus Einsicht im Kontext unserer Wertvorstellungen. Diszipliniertes Verhalten verlangt immerhin, sich Geboten, Verboten und Anweisungen zu unterwerfen. Da liegt der Hase im Pfeffer. Dem Militär wird dies nolens volens zugebilligt, für freie Bürger in einer überindividualisierten Gesellschaft wird dies zum Teufelszeug. Militärische Einheiten funktionieren ohne Disziplin und Gehorsam zweifellos nicht. Sogar Drill gehört dazu, um in Gefechtssituationen auf automatisierte Abläufe zurückgreifen zu können, die für rasche und einheitliche Reaktion unabdingbar sind. Die bürgerlichen Freiheitsrechte werden dadurch aber nicht aufgehoben.

Am Rande: Über den Erfolg im Leben entscheiden nicht allein Intelligenz oder Durchsetzungsvermögen. Wichtiger sind oft unterschätzte, altbekannte Eigenschaften wie Geduld und Disziplin. Charakterliche Merkmale, die es im Sinne des Einzelnen wie auch der Gesellschaft zu fördern gilt. Nicht zuletzt steht Disziplin in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Moral und Wohlbefinden.

Spaß- und Null-Risiko-Gesellschaft in der Bredouille

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Nun aber sind wir in eine Lage geraten, in der diszipliniertes Verhalten mit Polizeigewalt durchgesetzt werden muss, dem Bürger wird bis zu einem gewissen Grad Gehorsam gegenüber staatlichen Weisungen abverlangt. Ein tolles Ergebnis des gemeinschaftswidrigen Verhaltens egoistischer Toleranzprediger. Wenn es nur die Verweigerer träfe, könnte man klammheimlich Freude darüber empfinden. Die eigentlich Leidtragenden der Entwicklung aber sind die Älteren und Schwächeren in unserer Gesellschaft.

Und was lernen wir daraus? Ohne eine minimale Disziplin der Staatsbürger gerät auch eine Spaß- und Null-Risiko-Gesellschaft an den Rand des Scheiterns. In einer Pandemie-Situation wird diszipliniertes Verhalten rasch zur Grundbedingung, um Risiken zu begrenzen. Diese Erkenntnis verlangt nach Konsequenzen in der ganzen Breite der Gesellschaft. Von den Elternhäusern über die Schulen bis zu den Betrieben und nicht zuletzt auf allen politischen Ebenen. Asiatische Länder sind uns diesbezüglich meilenweit voraus, es wird Zeit, daraus zu lernen und der Gemeinschaft wieder einen höheren Stellenwert einzuräumen im Vergleich zu den Rechten des Individuums. Sonst fehlen uns Bürgern am Ende nicht nur das Klopapier, sondern die gemeinschaftliche Kraft zur Bewältigung großer Herausforderungen. Einsicht ist gefragt anstelle ideologischer Vorbehalte, die Zukunft wartet nicht auf uns.

Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat vor Jahren bereits die passenden Worte gefunden: „In unserer Zeit besteht keine Gefahr eines Übermaßes an Disziplin, Pflichtgefühl und Gemeinschaftsdienst. Heute herrscht weit eher ein Mangel an der Fähigkeit, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, sondern sich zugunsten von anderen zurückzustellen.“

Wir haben kein Erkenntnisproblem in unserer Gesellschaft, sondern die Aufgabe, endlich gebotene Regelungen gegen den Widerstand einzelner Gruppen durchzusetzen. Die Corona-Krise bietet die Chance dazu.

[1] Zu den bürgerlichen oder auch Sekundärtugenden werden insbesondere Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin, Pflicht­bewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnungsliebe, Höflichkeit, Sauberkeit u. a. m. gezählt.

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