Falls die Ausnutzung der intellektuellen Trägheit anderer ein Zeichen von Intelligenz darstellt, muss man Angela Merkel als eine sehr intelligente Frau betrachten. Eine „Modellrechnung“ habe sie gemacht, verkündete die Kanzlerin vor einigen Tagen. Und versetzte schon durch die Verwendung dieses Begriffes viele ihrer Anhänger in pures Entzücken. Suggerierte sie dadurch doch eine Paarung von gedanklicher Tiefe mit fachlicher Expertise, die man gemeinhin nobelpreisverdächtigen Geistesgrößen in Laborkitteln zuschreibt.
Die Dame vermag also eine epidemiologische „Modellrechnung“ selbst zu erdenken und durchzuführen. Welch Glück für Deutschland, eine derartige Universalkompetenz auf dem Chefsessel zu haben, tönte es in den Kommentarspalten vieler Medien. Und welch grandiose Maulschelle für all jene, die den Umgang unserer Exekutivorgane mit dem neuen Corona-Virus skeptisch betrachten und sich schon allein deswegen der Beschimpfung „Covidioten“ ausgesetzt sehen. Eine, höflich ausgedrückt, äußerst oberflächliche Lesart eines Kanzlerinnenwortes, das bei näherem Hinsehen in Wahrheit jeglicher Substanz entbehrt.
Das aber ist weder eine „Modellrechnung“, sondern höchstens eine überschlägige Abschätzung höchster Trivialität. Und es ist auch keine gelungene Darstellung der Charakteristika exponentiellen Wachstums, sondern schlicht Mumpitz.
Selbst wenn man großzügig über die Auswahl von Extremwerten aus den betrachteten Zeiträumen hinwegsieht, eine gemeinhin als „cherry-picking“ verfemte Taktik ideologisch motivierter Dateninstrumentalisierung, so sollte doch zumindest berücksichtigt werden, dass die generische Verbindung zwischen zwei Messwerten ebenso gut eine Gerade sein könnte wie irgendeine Kurve. Und tatsächlich zeigt der Verlauf der positiven Testergebnisse in Deutschland zwischen Juni und September einen linearen Anstieg und keinen exponentiellen. Was bei einer um die Größenordnung von eins schwankenden Reproduktionszahl auch nicht wirklich überrascht.
Und selbst wenn die zu beobachtende weitere Zunahme in den ersten Oktobertagen auf eine gewisse Beschleunigung des Geschehens hinweist, so bieten doch die spezifischen Charakteristika von SARS-CoV-2 keinerlei Möglichkeit für eine exponentielle Entwicklung, die länger als einige Wochen anhält. Einerseits ist, wer auch immer das Virus trägt, schon nach einigen Tagen nicht nur nicht mehr infektiös für andere, sondern auch selbst für einen längeren Zeitraum immun. Andererseits ist die Menge an sozialen Kontakten höchst ungleich über die Bevölkerung verteilt.
Manche treffen sehr viele Menschen in sehr kurzen Zeiträumen. Andere wiederum sind eher Einzelgänger und bleiben gerne für sich. Zusammen erzeugen diese beiden Randbedingungen völlig automatisch einen Infektionsverlauf, in dem auf rasche und steile Anstiege ein stetiges Abflachen der Kurve folgt. Denn jeder Überträger kann jeden anderen in einem eng begrenzten Zeitfenster nur genau einmal anstecken, und findet schließlich niemanden mehr, an den er das Virus noch weitergeben könnte.
Gegen ein Virus, das sich über die Atemluft verbreitet, gibt es nun einmal keinen Schutz. Es sei denn, man isoliert jeden Bürger von jedem anderen und verbietet jegliche Begegnung. Alle sechzehn Corona-Verordnungen der Länder spiegeln diesen Ansatz in unterschiedlichem Ausmaß wieder. Die Fokussierung auf die Anzahl positiver Testergebnisse als entscheidendem Parameter bedingt automatisch die Notwendigkeit, die Menschen zu unbeweglichen Eremiten zu machen und jede Form der persönlichen Interaktion zu unterbinden, vom Einkauf bis zur Party, vom Arbeiten bis zum Schulbesuch, vom Gottesdienst bis zum Mannschaftssport.
Offensichtlich haben die politisch Handelnden einen Weg eingeschlagen, der einerseits nur bei konsequenter Befolgung zum Erfolg führt, dessen Umsetzung andererseits in der Realität aber aussichtslos ist. Was wiederum Kompromisse erfordert, die eine Zielerreichung unmöglich machen. Man begrenzt beispielsweise die Zahl der Gäste bei Festivitäten in verwirrender Weise ortsabhängig, erlaubt zwar Kaffefahrten für Senioren, schließt aber Discotheken, erdreistet sich gar zu seitenlangen Ausführungen über die Art und Weise, wie das älteste Gewerbe der Welt nun funktionieren soll und wie nicht. Wann wo wie viele Zuschauer in ein Stadion dürfen, wann wo welche Gaststätte öffnen und was ausschenken darf, welches Hotel welche Gäste wann beherbergen darf, über all dies zerbrechen sich Regierungen und Verwaltungen ununterbrochen den Kopf. Aber gegen ein Virus, das sich über die Atemluft verbreitet, bewirkt dies alles nichts. Es richtet nur zusätzliche Zerstörungen an, gesellschaftlich wie ökonomisch, die die durch das Virus entstehenden Probleme bei weitem übertreffen.
Die Diskrepanz zur Perspektive der meisten Exekutivorgane, die blind für die alltägliche Realität in einer Katastrophe angekommen zu sein glauben, könnte größer nicht sein. Es ist schon eine merkwürdige Pandemie, in der die meisten Infizierten das Virus nicht einmal bemerken, nur sehr wenige schwer erkranken und eine noch viel kleinere und noch dazu ziemlich genau definierbare Gruppe tatsächlich mit einem hohen Sterberisiko konfrontiert wird. Es ist schon eine merkwürdige Notlage, in der gemäß aller Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung autoritäres Handeln der Regierungen zwar begrüßt, es aber gleichzeitig als erforderlich ansieht, die noch bestehenden Freiräume so weit und so intensiv wie möglich auszunutzen. Und es ist ein bezeichnender Beleg der Hilflosigkeit, wenn eine Regierungschefin anhand zweier Datenpunkte einen Infektionsverlauf erfindet, der so nie stattgefunden hat, um die Zukunft möglichst düster erscheinen zu lassen und sich den Beifall der Ängstlichen zu sichern.
Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter und offensichtlich vermag selbst ein neuartiges Virus eine hochtechnisierte, wohlhabende und medizinisch gut versorgte Gesellschaft nicht übermäßig zu beeinträchtigen. Zumal es die auf individueller Ebene in hohem Ausmaß differierenden Lebensumstände jedem Einzelnen gestatten, einen für sich persönlich optimalen Pfad im Umgang mit dem Erreger zu finden. Die Politik mag Empfehlungen aussprechen und die Rahmenbedingungen setzen, unter denen sich das Gesundheitswesen auf die Lage einstellen und sich Risikogruppen besonders gut schützen können. Mehr jedoch ist weder erforderlich, noch verbessert es die Situation.
Die Coronakrise endet nicht, wenn eine Kanzlerin oder ein Ministerpräsident das verkünden. Sie endet auch nicht, wenn Forscher einen Impfstoff entwickelt haben und dieser flächendeckend zur Verfügung steht. Sie endet dann und nur dann, wenn sich die Bürger dieses Landes mehrheitlich dazu entscheiden, das Virus einfach als eine weitere der Komplikationen hinzunehmen, die das Leben nun einmal mit sich bringt. Und dazu braucht es keine als Modellrechnung verkauften Zahlentricksereien, sondern nur die Rückkehr der Vernunft.