Die Signale sind eindeutig. Sahra Wagenknecht wird in wenigen Wochen eine neue Partei gründen. Auf die Frage, ob sie es noch für möglich halte, dass es nicht dazu komme, antworte sie Mitte Juli: „Ich würde mich freuen, wenn all den Wählern, die sich zurzeit durch keine Partei mehr wirklich vertreten fühlen, bald wieder ein seriöses politisches Angebot zur Verfügung steht.“ Und vergangene Woche offenbarte sie: „Ich bekomme viel Post von Menschen, die mich dazu auffordern, eine neue Partei zu gründen“. Dem Vernehmen will sie bereits im Oktober einen Verein gründen, um bei der künftigen Wahlkampfkostenerstattung auch das Jahr 2023 berücksichtigen zu können. Im nächsten Frühjahr soll dann die Partei entstehen.
Während Deutschland über die Schulzeit eines bayerischen Wirtschaftsministers diskutiert, bahnen sich im Parteiensystem der Bundesrepublik einschneidende Veränderungen an: Die Linke wird im Bundestag noch in diesem Jahr den Fraktionsstatus verlieren. Bei den Europawahlen im Juni 2024 wird sie deutlich unter fünf Prozent fallen. Drei Monate später muss sie sogar in ihren früheren Hochburgen in Ostdeutschland um den Wiedereinzug in den Landtag bangen. 33 Jahre nach dem Ende der DDR stehen Honeckers Erben vor einem Scherbenhaufen.
Wagenknecht wollte verhindern, dass die Linke den russischen Überfall auf die Ukraine als „verbrecherischen Angriffskrieg“ verurteilt. Statt Russland erklärte sie die USA und die NATO zu Hauptverantwortlichen. Am Ende setzte sich jedoch der Vorstand mit seinem Leitantrag durch. Auch bei der Wahl der beiden Vorsitzenden blieb der von Wagenknecht unterstützte Kandidat auf der Strecke. Prompt erklärte sie, es sei ihr „ein Rätsel“, wie die Partei mit der neuen Führung wieder nach oben kommen wolle. „Nach diesem Parteitag gibt es kaum Hoffnung, dass die Linke ihren Niedergang stoppen kann.“
Zu diesem Niedergang hat Wagenknecht seitdem erheblich beigetragen. Versuche, sie wieder in die Partei einzubinden, wurden von ihr torpediert. In der Bundestagsfraktion übt sie keinerlei Amt mehr aus, zu Sitzungen erscheint sie nur noch sporadisch. Als sie vor einem Jahr im Bundestag zum Haushaltsplan des Wirtschaftsministeriums sprechen durfte, verursachte sie einen Eklat: Das „größte Problem“ Deutschlands, so erklärte sie, sei, dass die Bundesregierung einen „beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten“ vom Zaun gebrochen hätte. Gemeint waren die Sanktionen gegen Russland.
Auch die Bemühungen, Wagenknechts Anhänger einzufangen, scheiterten. Den Vorsitz des Ausschusses für Klimaschutz – der einzige Posten, den die Fraktion zu vergeben hatte – erhielt trotz heftiger Proteste der Porsche-Fan Klaus Ernst. Statt Dankbarkeit zu zeigen, revanchierte der sich mit der Bemerkung, es gebe „eine große Truppe politikunfähiger Clowns in der Partei“. Viele Mitglieder und Mandatsträger würden sich deshalb einer möglichen Wagenknecht-Partei anschließen. „Auch ich kann mir gut vorstellen, einer solchen Partei beizutreten.“
Unter diesen Bedingungen konnte sich die Linksfraktion vergangene Woche nicht einmal auf einen neuen Vorstand einigen. Die bisherigen Vorsitzenden müssen weitermachen, obwohl sie schon ihren Rückzug angekündigt hatten. In einer Erklärung hatte sich Fraktionschefin Amira Mohamed Ali gegen die eigene Partei gestellt: „Den letzten Ausschlag für meine Entscheidung hat der einstimmige Beschluss des Parteivorstandes vom 10. Juni 2023 gegeben und der Umstand, dass sich die große Mehrheit der Landesvorstände diesen Beschluss zu Eigen gemacht hat. Darin wird gesagt, Sahra Wagenknecht habe in der Linken keine Zukunft mehr und solle zusammen mit anderen Abgeordneten ihr Mandat niederlegen.“
Dass Wagenknecht – die zu der Klausur nicht erschienen war – ihr Mandat niederlegt, ist nicht zu erwarten. Sie und ihre Unterstützer werden ihren Sitz im Bundestag vielmehr dazu nutzen, um der neuen Partei von Beginn an bundesweites Gehör zu verschaffen. Außer Ernst und Mohamed Ali werden deshalb wahrscheinlich auch die Abgeordneten Sevim Dagdelen, Alexander Ulrich und Christian Leye die Fraktion verlassen. Schon bei drei Abgängen verliert diese ihren Fraktionsstatus.
Um möglichst viele von einem Übertritt zu überzeugen, muss Wagenknechts Partei allerdings erst einmal einen erfolgreichen Start hinlegen. Mit ihrem Versuch, unter dem Slogan „Aufstehen“ eine soziale Protestbewegung zu initiieren, war sie 2019 kläglich gescheitert. „Die Erwartung, man könnte – selbst wenn man sich entschieden hätte – mal eben so eine Partei aus der Taufe heben, von einer Woche zur nächsten, das wäre zum Scheitern verurteilt,“ erklärte sie im März. In Interviews hat sie seitdem angekündigt, bis zum Jahresende über die Gründung zu entscheiden. In Wirklichkeit geht es ihr freilich nicht um das Ob, sondern nur um das Wie, Wann und Mit wem.
Bei den Landtagswahlen im September 2024 sind die Hürden höher. In Thüringen müsste die Wagenknecht-Partei bereits Anfang Juni ihre Kandidaten übermitteln. In Sachsen hätte sie vier Wochen länger Zeit, in Brandenburg bis Anfang August 2024. Je mehr Zeit für die Nominierung bleibt und je mehr Linken-Funktionäre bis dahin übertreten, desto größer sind die Erfolgschancen.
Umfragen zufolge könnte die Wagenknecht-Partei auch in den Ländern reüssieren. In Thüringen erklärten im Juli 25 Prozent der Befragten, sie wählen zu wollen. In Sachsen hielten dies im August 29 Prozent für möglich. Auch bundesweit zogen dies 18 Prozent in Erwägung, drei Prozent wollten es sogar „auf jeden Fall“ tun. Vor allem Linken-Anhänger (22 Prozent) zeigten sich entschlossen, aber auch fünf Prozent der AfD-Sympathisanten.
Wenn die neue Partei keine gravierenden Fehler macht, bedeutet dies vor allem eins: das Ende der Linkspartei in Deutschland. Bereits am 8. Oktober wird diese in Hessen Umfragen zufolge aus dem Landtag fliegen. Sie ist dann in keinem westdeutschen Flächenstaat mehr im Parlament vertreten. Im Bundestag wird sie nach den Wahlen im Herbst 2025 bei gegenwärtiger Rechtslage im Höchstfall mit einem oder zwei direkt gewählten Abgeordneten sitzen.
Die Spaltung der Linken hat erhebliche Auswirkungen – zum Beispiel auf ihre Ressourcen. Da die staatlichen Zuschüsse von den letzten Wahlergebnissen und den Eigeneinnahmen abhängen, wird sie bald deutlich weniger Geld bekommen. Auch die Zahl der Mitglieder wird weiter zurückgehen. Mit 54.000 verzeichnet die Partei schon jetzt den niedrigsten Stand in ihrer Geschichte. Ohne Mandat werden sich zudem die alten DDR-Kader wie Dietmar Bartsch (SED-Mitglied seit 1977), Petra Sitte (SED-Mitglied seit 1981) oder Petra Pau (SED-Mitglied seit 1983) wohl bald zur Ruhe setzen. Die Rest-Linke wird sich noch mehr zur linksalternativen Klientelpartei entwickeln, die nur noch in Großstädten bei Wahlen eine Chance hat.
Die Verklärung der DDR verliert damit ihre wichtigste organisatorische Stütze. Ob Wagenknechts Partei in diese Lücke springen wird, ist bislang nicht abzusehen. Ungewiss ist aber auch, ob ihre Partei überhaupt langfristig überlebt.
Denn um eine Partei erfolgreich führen zu können, muss man integrieren und organisieren –Fähigkeiten, die Wagenknecht ersichtlich fehlen. Wer so egozentrisch veranlagt ist, dass er in der eigenen Partei deutlich mehr Feinde als Freunde hat, dürfte auch in einer neuen Organisation Schwierigkeiten haben. Wagenknecht wäre nicht die erste Parteigründerin, die am Ende auf dem politischen Abstellgleis landet.
Der Autor arbeitet am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg und ist Verfasser des Buches „Die Wahrheit über die Linke“.