Tichys Einblick: Herr Professor Eisenberg, der Kampf um eine politisch korrekte Nutzung von Sprache treibt mitunter kuriose Blüten. So hat unlängst der Hamburger Verband LuK (Lesben und Kirche) das 238 Jahre alte „Abendlied“ von Matthias Claudius umgetextet. Aus der Schlussstrophe „So legt Euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder, kalt ist der Abendhauch. Verschon uns, Gott, mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen! Und unsern kranken Nachbarn auch!“ machten die Genderkämpferinnen: „So legt Euch, Schwestern, Brüder nieder …“ – und schafften es damit sogar ins Liederbuch des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Ist das Verhunzung oder Ausdruck sprachlicher Zivilisation?
Peter Eisenberg: Wenn man einen Text von Claudius singt, dann singt man einen Text von Claudius und nichts anderes. Die evangelische Kirche von Deutschland sollte sich zu schade sein, ihre besten Traditionen zu verhunzen. Selbst auf dem Kirchentag, der auch immer wieder mal einen komischen Liedtext hervorbringt, sollte man sich nicht an Claudius vergreifen. Und was wird aus dem kranken Nachbarn? Er bleibt stehen, denn die Nachbarin bleibt natürlich und gendergerecht gesund.
Zum Gendern gehören auch grammatische Kunstformen. Da spricht etwa Maybrit Illner in ihrer Talkshow von „Gästinnen“ oder in Behördenschriftstücken wird das große Binnen-I wie bei „ProfessorInnen“ oder „GärtnerInnen“ immer selbstverständlicher. Was halten Sie davon?
Formen wie „Gästinnen“ statt Gäste sind im Deutschen möglich. Ob man sie
benutzt, ist eine Frage der persönlichen Einstellung. Das große I gibt es hingegen nicht in der deutschen Sprache. Das Gendern ist eine höchst problematische Angelegenheit. Wer behauptet, dass das große Gender-I oder das Gender-Sternchen etwas mit Sichtbarmachung und Gleichberechtigung von Frauen zu tun hat, ist entweder vernagelt, oder er redet falsch. Ich kann es nicht fassen, wenn so etwas zum Beispiel in Berliner Behörden zur Vorschrift werden soll. Das sind sprachpolizeiliche Allüren. Es sind Verhaltensweisen autoritärer Regime, die in einer Demokratie nichts zu suchen haben. Niemand hat das Recht, in die deutsche Sprache einzugreifen.
Warum?
Wenn man sich professionell mit Sprache beschäftigt, dann hat man einen
riesigen Respekt vor dieser Sprache. Man gewinnt den Eindruck, die Sprache ist mit ihren Werkzeugen so gut ausgebaut, hat eine Struktur von so hoher Komplexität, dass sie ein Eingreifen nicht verträgt. Denken Sie nur an die Orthografiereform, wo Hunderte von Wörtern verschwunden sind. Oder an die Verdrängung von Wörtern. Ein Beispiel aus der Wirtschaft: Das Wort „Dividende“ sollte mit dem Begriff „Gewinnbeteiligung“ verdeutscht werden. Dividende ist aber eine Gewinnbeteiligung von ganz bestimmter Art. Und so können Sie den Eingriff in die Sprache an vielen weiteren Beispielen verfolgen.
Geschieht dieser Eingriff in die Sprache denn häufiger als früher?
Das war eigentlich schon immer so, aber die Gründe und das Ausmaß haben sich verändert. Zum Beispiel durfte man einst nicht mehr „DDR“ sagen und auch nicht „BRD“. Darüber haben wir Sprachwissenschaftler uns sehr geärgert. Dann gab es den Kampf um Begriffe, zum Beispiel um rechtliche Termini. Da wurde aus dem „Schusswaffengebrauch“ der „Rettungsschuss“ – ein Begriff, der es ermöglicht, auf Menschen zu schießen. Die Gegenseite setzte dem wiederum den Begriff „Todesschuss“ entgegen. Solche Dinge hat es schon immer gegeben. Im Augenblick allerdings erfolgen Eingriffe in die deutsche Sprache von ganz unterschiedlichen Seiten und sind sehr vielfältig. Ich kann mich nicht erinnern, so eine Form sozialdemokratischer Sprachpolizei, schwer unterstützt von den Grünen und der Linkspartei, früher schon erlebt zu haben.
Ist dieses Phänomen etwas typisch Deutsches?
Nein. Man sieht das in vielen Ländern. Die politisch korrekte Sprache ist ja in den USA den Verhältnissen in Deutschland weit voraus und wird dort schon viel länger im Rahmen einer Politik der Gleichmacherei vertreten. Auch was sich in Frankreich abspielt, grenzt schon ans Groteske: Dort gab es vor einiger Zeit zum Beispiel eine dem Schulministerium unterstellte Kampagne zur Feminisierung der Sprache. Nur verhält sich der Franzose, der von Kind an zu Sprachaufmerksamkeit erzogen wird, da etwas gelassener als wir.
Entsteht Neusprech zufällig oder absichtlich? Zum Beispiel, wenn neuerdings nicht mehr von „Studiengebühren“ sondern von „Studienbeiträgen“ gesprochen wird.
Das ist kein Zufall, sondern es handelt sich um Euphemismen. Studiengebühren zahlen Sie so ungern wie Rundfunkgebühren – wenn Sie „Beiträge“ zahlen, hat das ganz andere Konnotationen. Sie zahlen das nicht gern, aber akzeptieren den Touch von Gerechtigkeit. Die Leute von der Bertelsmann-Stiftung, die sich den Begriff ausgedacht haben, sind ja nicht auf den Kopf gefallen.
Wie würden Sie Neusprech definieren?
Das Wort muss man gar nicht definieren, es ist ja selbst ein erfundenes Wort. Lassen Sie uns lieber über politische Korrektheit reden: Sie bezieht sich auf das Gendern, aber auch auf das Vokabular, das gegenüber Migranten und Flüchtlingen verwendet werden soll. Sie bezieht sich teilweise auf Fremdwörter und auf verschiedene andere Bereiche, die politisch heikel sind. Der Antidiskriminierungswahn ist in den letzten Jahren sehr viel größer geworden. Und das ist im Prinzip natürlich völlig richtig. Man kann nicht zu jemandem mit schwarzer Hautfarbe „Nigger“ sagen, ohne zu wissen, was damit angerichtet wird. Ich sollte vielleicht auch heutzutage nicht mehr das Wort „Zigeuner“ verwenden, das in unserer Kindheit ganz gebräuchlich war. Viele Wörter sind von ihrer Bedeutung und ihrem Gebrauch her, die sie bisher im Deutschen hatten, heute beleidigend, diskriminierend.
Ein Begriff, um den sich heutzutage auch sehr hin und her gewunden wird, ist „Flüchtling“. Da heißt es plötzlich „Geflüchtete“ oder „Schutzsuchende“. Wie ordnen Sie diese Mühe um den korrektesten Terminus ein?
Das Wort Flüchtling gibt es im Deutschen seit ein paar Hundert Jahren. Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg sind geflohen – nicht geflüchtet. Und so hat sich auch niemand selbst als Geflüchteter bezeichnet, sondern als Flüchtling. Das Wort Flüchtlinge kann auch nicht gegendert werden. Ich habe immer wieder darum gebeten, dass die jenigen, die das Wort Geflüchtete einführen wollen, einmal erklären, warum sie das tun. Das ist, milde ausgedrückt, offenbar eine Herausforderung. Wenn Leute etwas am Sprachgebrauch ändern wollen, brauchen sie gute Gründe. Ich habe noch keine gehört.
Unlängst gab es in einer Flüchtlingsunterkunft eine Massenschlägerei. In den Medien wurde die Sprache des Polizeiberichts übernommen: „Schutzsuchende“ hätten sich in einer „Notunterkunft“ eine Schlägerei geliefert. Was steckt hinter diesem Sprachgebrauch?
Die Polizei benutzt ja intern bestimmte Ausdrücke, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen. Zum Beispiel das Wort „Nafri“. Darüber sollte man sich nicht allzu sehr aufregen, aber dieser Jargon führt vielleicht andererseits zu Überkorrektheiten, wie den Begriff „Flüchtlinge“ durch „Schutzsuchende“ zu ersetzen. Ein Hochwort, das die Assoziation auslöst, es handle sich um vollkommen hilflose Leute, die unseren Schutz brauchen. Wenn diese Leute sich gegenseitig verprügeln und verletzen, gehört das Wort „Schutzsuchende“ da bestimmt nicht hin.
Eine berühmte sprachliche Neuschöpfung ist Angela Merkels „Menschen, die schon länger hier leben“. Hat sich die Kanzlerin mit diesem viel monierten Ausdruck einen Gefallen getan?
Zunächst mal: Früher hat man von Personen oder Leuten geredet, heute spricht man nur von Menschen. Es menschelt ganz furchtbar in der Sprache der Politik. Angela Merkels Formulierung ist noch dazu hochproblematisch. Das eigentliche Problem ihrer Flüchtlingspolitik ist ja die eine Million Zuwanderer im Jahr 2015. Warum das Land die auf nehmen musste, hat Merkel nie erklärt. Wenn sie dann von den „Menschen, die schon länger hier leben“ spricht, tut sie das vielleicht, um von dem Problem abzulenken. Und um ihren Zuhörern einzureden, dass derjenige, der etwas gegen ihre Flüchtlingspolitik sagt, etwas gegen Menschen sagt, die schon länger hier leben.
Merkel benutzt auch gern das Wort „wir“, wobei man nicht immer weiß, wen sie damit meint. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff sprach wiederum gern von „man“, und Exminister Karl-Theodor zu Guttenberg wandte gern das Passiv an, zum Beispiel zu seinem Plagiatsvorwurf: „Es wurde nicht bewusst getäuscht.“ Ist das jeweils sprachliche Marotte oder ganz bewusstes Agieren?
Ich glaube nicht, dass sprachliche Unbeholfenheit dahintersteckt. Dass Passiv bei Guttenberg ist schon ein ganz bewusster Trick, um den Täter, nämlich ihn selbst, nicht zu nennen. Das „man“ bei Wulff hat den Touch, etwas als allgemeingültig hinzustellen. Wie „Man tut das nicht“ oder „Man wird das ja wohl noch sagen dürfen“. Ich glaube nicht, dass Angela Merkel etwas aus Versehen sagt. Sondern sie drückt mit ihrem „wir“ aus: Sie gehört auf jeden Fall dazu. Ansonsten mal der, mal jener.
Auch die Medien sind sprachlich erfinderisch, zum Beispiel neuerdings mit dem Begriff „Männergruppe“ – wann immer über eine Gewalttat von mehreren Zuwanderern berichtet wird. Dieses Wort tut mir ein bisschen weh. In einer Fußnote eines wissenschaftlichen Aufsatzes habe ich mal geschrieben: „Ich danke der Berliner Männergruppe.“ Eine Gruppe von Freunden, die sich einmal im Monat trifft, schön zusammensitzt und sich über Wissenschaft unterhält. Dann sagt einer aus der Gruppe: „Das kannst du heute nicht mehr machen. Frauengeburtstag ist okay, aber Männergruppe? Männer sind heute schon so verunsichert, dass man das nicht mehr schreiben sollte.“ Da wird deutlich, wie man es mit dem politischen Korrektsein auch übertreiben kann. Es gibt übrigens in der Politsprache nur Intensivtäter und Gefährder – aber keine Intensivtäterinnen oder Gefährderinnen. Obwohl junge Frauen in Einbrecherbanden als Intensivtäterinnen ganz vorn mit dabei sind. Aber im Berliner Koalitionsvertrag sehen Sie nur das maskuline Wort. Sie sehen, wie schnell man es schafft, ein Wort negativ zu besetzen.
Die Nationale Armutskonferenz will 23 sogenannte soziale Unwörter aussortieren. Zum Beispiel soll statt von „bildungsfernen Schichten“ künftig von „vom Bildungswesen nicht erreichten Menschen“ gesprochen werden. Übertrieben oder nicht?
Mit diesen Leuten muss man ernsthaft reden. Von der Bundesregierung geförderte Broschüren über das, was man sagen oder nicht sagen soll, sind voll von Dingen, die man nicht hinnehmen darf. Da wird etwas in einem Ausdruck gesucht, was bestimmte Leute damit assoziieren könnten. Die Mühe mit einem sprachlich angemessenen Ausdruck macht man sich gar nicht. Behinderte heißen da „psychisch oder mental herausgefordert“, das Wort „Migrationshintergrund“ gilt plötzlich als abfällig, weil es angeblich auf ein niedriges Einkommen hinweist. Also dümmer geht es kaum mehr. In vielen Fällen haben die, die so was einführen, nicht die sprachliche Expertise. Und dann gibt es eben immer Leute, die irgendein Haar in der Suppe finden, aber selbst keine Suppe ohne ein Haar kochen können.
Was halten Sie vom Wort des Jahres 2016: „postfaktisch“?
Der Schriftsteller Theodor Fontane hat in einem wunderbaren Roman festgestellt, dass man Fremdwörter benutzt, wenn Wörter, die jeder kennt und benutzt, zu anschaulich sind. Das Wort „Geschlecht“ ist zum Beispiel kolossal anschaulich, deshalb nehmen wir lieber „Gender“. Das Wort „Lüge“ ist ebenfalls kolossal anschaulich, deshalb nehmen wir „postfaktisch“ oder „alternativfaktisch“. Sie können mit so einem diffusen Wort eine Weile ganz gut operieren. Aber irgendwann kommt einer und sagt: Das sind des Kaisers neue Kleider, das ist dasselbe wie „Lüge“. Und nach ein paar Tagen geht es den Leuten auf die Nerven, wenn jemand sagt, das ist „postfaktisch“.
Was stört Sie besonders an der Verhunzung der deutschen Sprache?
Ich will eigentlich nur zweierlei. Zum einen: nicht etwas in die Sprache hineinzwingen, was nicht zu ihr gehört. Das Zweite: Man darf niemandem vorschreiben, wie er zu sprechen hat. Das sind die beiden roten Linien für mich. Innerhalb derer kann man streiten, sollte den Leuten aber nicht den Mund verbieten. Das verstieße zutiefst gegen Persönlichkeitsrechte, ist arrogant und eine Anmaßung. Wenn man dann noch Begriffe erfindet, die es nicht gibt, macht das alles noch schlimmer.
Abschließend: Zur politisch korrekten Sprache gesellt sich „leichte Sprache“, von Behördentexten bis zu Wahlunterlagen. Was bedeutet das?
Die „leichte Sprache“ ist eine reduzierte Form des Deutschen, in der fundamentale Strukturen und Begriffsmengen untersagt sind. Zum Beispiel Genitive, Nebensätze, Metaphern, Passive. Vielleicht hat die leichte Sprache für Personen mit einer starken Sprachbehinderung eine gewisse Bedeutung. Aber wenn man zu vieles mechanisch abschneidet, was nach der Grammatik möglich ist, kommt dabei kein verständliches Deutsch mehr heraus. Die Gefahr besteht, dass sich die leichte Sprache epidemisch ausbreitet. Es gibt Lehrer, die bereits in und nach leichter Sprache unterrichten, und es gibt Leute, die behaupten, Flüchtlinge würden einfacher in leichter Sprache unterrichtet. Das ist ein schwerer Irrtum. Es ist auch ein Wahnsinn zu behaupten, annähernd die Hälfte der Deutschen könnten die Normalsprache nicht beherrschen. Ein Rumpfdeutsch zu verwenden ist eine Beleidigung für unsere wunderbare und weit ausgebaute Sprache. Fast alle Parteien haben ihre Programme bei den letzten Wahlen in leichter Sprache ins Netz gestellt. Das ist grober Unfug. Ich habe mir den Spaß erlaubt, die Homepage von Anton Hofreiter sprachlich auseinanderzunehmen. Jetzt stehen seine Texte nicht mehr so. Ob es mit meiner Kritik zusammenhängt, weiß ich nicht. Aber als Sprachwissenschaftler kann ich nur appellieren: Respekt vor der deutschen Sprache! Wir haben keine bessere, brauchen keine bessere und werden durch bewusste Eingriffe keinesfalls eine bessere bekommen.
Peter Eisenberg ist emeritierter Professor für Deutsche Sprache der Gegenwart.
Dieses Interview ist in der Ausgabe 09/2017 von Tichys Einblick Print erschienen.