Der Meister und der Schüler saßen auf der Terrasse. Vor ihnen lag der Garten, den sie betrachteten. Neben ihnen, auf der Terrasse, stand ein kleiner Tisch.
»Welche Zukunft«, grübelte der Schüler, »wird dieses Land haben?«
Der Meister schaute in den Garten. »Der Bambus hier«, sagte er, »wird wachsen. Die Kastanie dort wird bald blühen. Heute Nacht wird es wohl kühl werden.«
Der Schüler seufzte. Das war nicht, was er gemeint hatte.
Der Meister lächelte. Er zog den kleinen Tisch zu sich heran.
Auf einmal hatte er einen Apfel in der Hand, und der Schüler wusste nicht, woher der Apfel kam. Hatte er ihn in einer Tasche getragen? Hatte der Apfel die ganze Zeit auf dem kleinen Tisch gelegen, und der Schüler hatte ihn nur nicht bemerkt?
»Lass uns ein Spiel spielen, ein einfaches Rätsel!«, sagte der Meister. Er legte den Apfel auf den Tisch und hob diesen an einer Seite an. Der Apfel rollte abwärts, doch bevor er vom Tisch fallen konnte, hielt der Meister ihn mit der anderen Hand fest.
Der Meister fragte: »Wenn ich den Apfel nicht angehalten hätte, wohin wäre er gerollt?«
»Der Apfel wäre weiter abwärts gerollt und dann hier vom Tisch gefallen«, sagte der Schüler, und er zeigte auf die Seite des Tisches, die nicht angehoben war.
»Sehr richtig«, sagte der Meister. Nun hob er die andere Seite des Tisches an und ließ den Apfel wieder hinab rollen. Wieder hielt er den Apfel auf halbem Weg mit der anderen Hand fest. Er fragte: »Wohin wäre der Apfel dieses Mal gerollt?«
Der Schüler zeigte auf die Seite des Tisches, die nun unten stand, während der Meister die andere Seite anhob. Dort wäre der Apfel herunter gefallen, wenn er nicht aufgehalten worden wäre.
»Welche Zukunft wird dieses Land haben?«, fragte der Meister, nachdem er den Tisch zurück auf alle vier Beine gestellt hatte.
Der Schüler nickte, und er murmelte: »Der Apfel wird herunterfallen.«
»Nein«, sagte der Meister, »eben ist er ja auch nicht heruntergefallen.«
Der Schüler war unsicher, was das bedeutete.
»Die Frage nach der Zukunft hat stets viele Teile«, sagte der Meister, »die erste Frage ist, wohin der Apfel rollen wird. Die zweite Frage ist, ob man ihn auffängt, bevor er vom Tisch fällt, und eine weitere Frage ist, wie man das Fangen und Aufhalten des Apfels überhaupt anstellen soll. Manche sagen, man solle auch noch fragen, wer den Tisch angehoben hat, doch dem Apfel ist diese letzte Frage meist reichlich egal.«
Auf einmal hatte der Meister nicht mehr nur einen, sondern zwei Äpfel in der Hand, und dazu ein Tuch, mit dem er beide Äpfel abwischte. Er gab einen Apfel dem Schüler.
»Wenn man den Apfel einmal vorm Fallen bewahrt hat, dann sollte man ihn bald essen«, sagte der Meister, und er biss in seinen Apfel.
Eine Nachricht, ein Witz
Wenn Sie schon einmal einen deutschen Flughafen betreten haben, kann es gut sein, dass sie durch eine Drehtür hineingingen – es ist weit symbolischer, als uns vielleicht bewusst ist.
Wir lesen heute in den Nachrichten: »Fast 30.000 Asylsuchende, die Deutschland verlassen mussten, sind hierher zurückgekehrt.« (welt.de, 1.12.2019) – Die meisten der Wiederkehrer sind »erst« zum zweiten Mal da, einige aber zum dritten oder vierten Mal da, und einige versuchten es sogar noch öfter – so weit man offiziell weiß.
Muss man weitere Nachrichten zitieren? Man kann, ja, aber man muss nicht. Was muss man denn heutzutage überhaupt, also jetzt mal außer Klappe zu halten (wenn man frei genug ist, selbst zu denken) und Steuern zu zahlen (wenn man idealistisch genug ist, noch zu arbeiten).
Erlauben Sie mir also, statt weiterer Nachrichten, einen Witz zu zitieren – doch vorm Witz erscheint mir eine »Witzeinleitung« notwendig: Ein Witz kursiert im Internet, seit einigen Jahren schon, und aktuell in einer ganz ausgezeichneten Fassung eines Witze-Erzählers namens Nizar. Er hat das, was man heute »Migrationshintergrund« nennt, und so genießt er eine ganze Reihe an Freiheiten, deren Ausprobieren »gewöhnliche« Deutsche schnell ins Visier gewisser Kräfte bringen könnte, doch vor allem ist Nizar ziemlich gut im Witze-Erzählen (er betreibt einen eigenen Channel auf YouTube). Ein besonders »unkorrekter« Witz von Nizar ist im »Witze-Mix 80« zu finden, wo er bei 2:35 einsetzt. Ich erlaube mir, den Witz nachzuerzählen, allerdings mit Gruppen, zu denen ich selbst gehöre (oder einst gehörte, und dazu etwas gekürzt):
»Ein tschechischer Asylbewerber geht durch Nürnberg, trifft einen Mann, und sagt: Danke, dass ich hier leben darf, dass ich Krankenversicherung, Unterkunft und Geld erhalte! – Der Mann antwortet: Ich bin selbst aus dem Ostblock! – Oh, sagt der Tscheche, geht weiter und spricht den nächsten an, und er hört wieder Ähnliches. – Schließlich, nach mehreren Anläufen, fragt er einen Polen: Wo sind denn die ganzen Deutschen hin? – Die Antwort: Um diese Uhrzeit? Die arbeiten!« (Nochmal: Ich stamme unter anderem von Tschechen und Polen ab, ich darf das so erzählen – Nizar erzählt das anders.)
Aus dem Schmerz heraus
Zuerst einmal, als wiederholende Zusammenfassung: Die Witzigkeit eines Witzes entsteht durch die Verfremdung (etwa durch Übertreibung) eines gemeinsamen Schmerzes, der durch den Unterschied zwischen Begriff und Welt entsteht. Ein Witz ist witzig, indem er einen vorhandenen Schmerz »auf den Punkt bringt«. (Daher können politisch korrekte Comedians nicht wirklich witzig sein, und vor demselben Hintergrund führt politische Korrektheit einen Kampf gegen den Humor: Politische Korrektheit besteht in der aggressiven Leugnung der Schmerzen, die aus der Differenz zwischen Wunsch und Realität entstehen. Staatsfunk-Comedians versuchen gelegentlich, durch das Niedermachen von Abweichlern eine »simulierte Witzigkeit« zu erzeugen, man lacht gewissermaßen, nicht weil da ein Schmerz ist, sondern um einen zum Narrativ passenden Schmerz zu erzeugen.)
Der Witz mit dem tschechischen Asylbewerber (wie wir auch einst welche waren), der sich durch die Stadt fragt, um sich zu bedanken, ist erfolgreich, weil er witzig ist, und er ist witzig, weil und indem er einen Schmerz auf den Punkt bringt: Ein Land kann nur funktionieren, wenn alle im Land, nach bestem Können, an einem Strang ziehen, wenn sie alle versuchen, nicht nur kurzfristig für sich selbst etwas abzuzweigen, sondern das Land zu erhalten und immer weiter aufzubauen. Ein Land, in dem eine Gruppe bis zur Erschöpfung und darüber hinaus arbeitet, um eine andere Gruppe zu finanzieren, wird nicht funktionieren. Ich kann Ihnen versichern, dass wenn wir Ausländer solche Witze erzählen, wir das auch aus dem Schmerz heraus tun, mit ansehen zu müssen, wie das Land, das doch die neue und letzte Heimat sein sollte, sich selbst fertig macht.
Wohin der Apfel rollt
»Welche Zukunft«, grübelte der Schüler, »wird dieses Land haben?«
Der Meister legte einen Apfel auf den Tisch und hob den Tisch an – und es war leicht für den Schüler, vorherzusagen, wohin der Apfel rollen würde.
Wenn Deutschland ein Tisch wäre (um nicht »Tafel« zu sagen), auch dann könnte man fragen: Wohin rollt der Apfel? Und wenn Europa ein Tisch wäre, wer würde den rollenden Apfel auffangen – und warum steht der Tisch überhaupt so schräg?!
Nicht immer im Leben ist es uns gegeben, zu verhindern, dass der ganz große Tisch gefährlich schräg steht. Wenn die Bürger von Staatsfunk und Propaganda manipuliert werden, sich selbst zu schaden und auch noch danke zu sagen, wenn ihre Zukunft verschenkt wird, dann können wir Propaganda-Allergiker nur begrenzt viel ausrichten. Ein anderer Witz geht so: Wer nichts aus der Geschichte lernt, der ist gezwungen, sie zu wiederholen – und wer doch aus der Geschichte lernt, der ist gezwungen, mit anzusehen, wie die, die nichts aus der Geschichte lernten, eben diese Geschichte wiederholen – ja, als Farce.
Wenn wir sehen, dass der Apfel auf den Boden zu kullern droht, könnte man tatsächlich fragen, wer den Tisch anhebt, doch dem Apfel ist das, wie der Meister in der Geschichte auch sagte, reichlich egal.
Wir selbst sind der Apfel. Unsere Gesellschaft kullert auf den Rand des Tisches zu – all die schönen Äpfel! – und es liegt auch am Einzelnen, ob er mit vom Tischrand fällt. Unsere erste Aufgabe ist es, den Apfel davon abzuhalten, auf den Boden zu fallen, kaputt zu gehen und ungenießbar zu werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.