Die heutige Gesellschaft hat ein paradoxes Verhältnis zu den Idealen menschlicher Autonomie und Selbstbestimmung. Als ideelle Fundamente der rechtsstaatlichen Demokratie werden diese Begriffe rhetorisch hochgehalten. In der Praxis jedoch wird das Prinzip der Autonomie häufig als Mythos abgetan oder zu einem wenig herausragenden Prinzip zweiter Klasse reduziert. Heute wird wie ehedem die Autonomie von einer elitären und paternalistischen Warte kritisiert: Es mangele uns Menschen an Fähigkeiten, Zeit, Ressourcen oder Gelegenheiten zur Selbstbestimmung.
Kritikern der Autonomie zufolge ist der Durchschnittsmensch durch Kräfte wie die Medienmacht, die Konsumgesellschaft oder verbreitete Ideologien viel zu überfordert, um für sich selbst zu denken und im Einklang mit den eigenen Interessen zu handeln. Seit der Antike werden diese antiliberalen Argumente in der einen oder anderen Form gegen aufgeklärte Denker ins Feld geführt.
Die Vorstellung von Autonomie ist historisch mit dem Streben verbunden, menschlicher Entwicklung und menschlichem Potential einen Sinn zu verleihen. Im Laufe der Jahrhunderte führte diese Suche zur Herausbildung des aufklärerischen Menschenbildes – zu der Vorstellung, das Menschsein durch die Ausübung persönlicher Handlungsfreiheit und Autonomie verwirklicht wird. Autonomie wurde als Ausdruck unseres persönlichen, subjektiven und individuellen Selbst verstanden.
Seit der griechischen Antike war der Wert der Freiheit in seiner Entwicklung untrennbar mit dem Versuch verbunden, ein Ideal der Selbstregierung zu formulieren. Das Streben nach Selbstbestimmung führte über die Jahrhunderte zu der Überzeugung, das menschliche Handeln und Verhalten sei nicht ausschließlich von Kräften bestimmt, die außerhalb des Individuums liegen. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine optimistische Sichtweise auf das Menschsein, verbunden mit einer moralischen Perspektive, die praktizierte Autonomie –Individuen, die Entscheidungen treffen – als Voraussetzung für das Gedeihen der Menschheit begriff.
„Durch die Ausübung von Autonomie können Menschen ihre Persönlichkeit entwickeln, indem sie Verantwortung für ihr Leben übernehmen.“
Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts betrachtet die Autonomie als Attribut einer Person, die sich als aktives, vernünftiges und bewusstes Individuum in der Welt bewegt. Die Etymologie des Wortes – autos (Selbst) und nomos (Regel oder Gesetz) – vermittelt die Bedeutung der Selbstbestimmung. Der Begriff wurde erstmals in den griechischen Stadtstaaten verwendet: Einer Quelle zufolge besaß eine „Stadt Autonomie, wenn ihre Bürger ihre eigenen Gesetze machten, anstatt unter der Kontrolle einer fremden Macht zu stehen.“
Dieser, durch die Griechen entwickelte, wichtige Begrifft erlangte mit der Entwicklung einer auf Rationalität basierenden Moralphilosophie im 18. Jahrhundert eine stringentere Ausformung. Diese Philosophie arbeitete eine auf Selbstbestimmung basierende Moral aus, die die transformative Kraft der Vernunft anerkennt. Dies war eine optimistische kulturelle Haltung, die vom Potential aller Menschen ausging, das moralisch Wertvolle zu erkennen. Ihre Annahme, dass auch Gemeinschaften von Selbstbestimmung profitieren, hat die Entwicklung des modernen Autonomie-Ideals auf den Weg gebracht.
Einer autonomen Person wird moralische Unabhängigkeit zugeschrieben – das heißt, sie kann in moralischer Verantwortung handeln. Durch die Ausübung von Autonomie können Menschen ihre Persönlichkeit entwickeln, weil sie Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Die Kultivierung der moralischen Unabhängigkeit setzt die Freiheit des Menschen voraus, über die Ansichten und Meinungen, die er hört, nachzudenken und zu seinen eigenen Schlussfolgerungen zu kommen. So schreibt der Philosoph Ronald Dworkin:
„Der Staat beleidigt seine Bürger und leugnet ihre moralische Verantwortung, wenn er verordnet, dass man ihnen nicht zutrauen kann, Meinungen zu hören, die sie zu gefährlichen oder beleidigenden Überzeugungen bewegen könnten. Wir behalten unsere Würde als Individuen nur, wenn wir darauf bestehen, dass niemand – kein Beamter und keine Mehrheit – das Recht hat, uns eine Meinungsäußerung mit der Begründung vorzuenthalten, dass wir nicht in der Lage seien, sie zu hören und zu betrachten.“
„Indem wir frei über Meinungen reflektieren und selbst entscheiden, was gut und was schlecht ist, lernen wir, uns als verantwortungsbewusste und unabhängige Bürger zu verhalten.“
Indem wir frei über Meinungen reflektieren und selbst entscheiden, was gut und was schlecht ist, lernen wir, uns als verantwortungsbewusste und unabhängige Bürger zu verhalten. Bei solchen Überlegungen formen Menschen nicht nur ihre eigene Meinung, sondern beeinflussen auch die Meinung anderer. Der Ausübung der moralischen Verantwortung wohnt somit eine aktive Dimension inne, insofern wir versuchen, unseren Mitbürgern unsere Ansichten zu veranschaulichen.
Die Ausübung der moralischen Autonomie verlangt von Menschen, sie selbst zu sein, nach ihren Neigungen und ihrem Geschmack zu handeln und sich frei zu fühlen, einen Lebensstil anzunehmen, der es ihnen erlaubt, ihre Persönlichkeit auszudrücken. In den Worten Dworkins: „Die Bürger haben ebenso das Recht, zur Bildung des moralischen oder ästhetischen Klimas in der Gesellschaft beizutragen, wie sie sich in die Politik einbringen können“. Um die moralische Autonomie der Menschen zu respektieren, ist also Toleranz gegenüber gesellschaftlichen Einstellungen von ebenso entscheidender Bedeutung wie Toleranz gegenüber Überzeugungen und Meinungen. Oder, wie es ein anderer Philosoph, Joseph Raz, formuliert hat: „Autonomie verlangt, dass einem Menschen viele moralisch vertretbare, wenn auch unvereinbare Lebensarten zur Verfügung stehen“.
Wert auf Autonomie zu legen, bedeutet nicht, dem naiven, populistischen Glauben anzuhängen, die Öffentlichkeit könne niemals falsch liegen. Millionen von Menschen fallen nach wie vor Verschwörungstheorien, Vorurteilen und irrationalen Einflüssen zum Opfer. Selbst zu den besten Zeiten bleibt individuelle Autonomie ein Ideal, das nur unvollständig verwirklicht werden kann. Menschen leben in einer Welt, die nicht von ihnen selbst geschaffen wurde und unter Umständen, die ihrem Streben nach Selbstbestimmung oft im Weg stehen. Schon immer stieß die Ausübung von Autonomie an äußere Grenzen – natürliche Hindernisse, wirtschaftliche Zwänge, Kriege, Konflikte und soziale Verwerfungen. Heute ist sie auch mit einem kulturellen Klima konfrontiert, das dem Streben nach autonomem Verhalten zutiefst misstrauisch gegenübersteht.
„Moralische Unabhängigkeit ist, wie alle Ideale, die mit Freiheit verbunden sind, nicht selbstverständlich.“
Aus der Anerkennung der Autonomie als etwas moralisch wertvollem und dem Respekt gegenüber dem menschlichen Verlangen, ein eigenständiges Leben führen zu wollen, folgt nicht, dass Menschen immer die richtigen Entscheidungen für sich treffen. Auch sollte man ein Ideal nicht mit dem Streben verwechseln, es zu verwirklichen. Diejenigen, die ihre Lebensgeschichte selbst schreiben wollen, sehen sich auf ihrem Weg immer enormen Hindernissen ausgesetzt.
Aber die Schwierigkeiten, die der Verwirklichung der persönlichen Autonomie im Weg stehen, sprechen nicht gegen das Ideal. Menschen besitzen das Potenzial, ihr Leben selbst zu gestalten. Wie bei allen Freiheiten hängt es von den spezifischen Umständen ab, wie die Autonomie ausgeübt und wie ihr Potenzial verwirklicht wird. Wie Dworkin betont, ist klar zu unterscheiden zwischen dem „allgemeinen Sinn oder Wert der Autonomie und ihren Folgen für eine bestimmte Person bei einer bestimmten Gelegenheit“.
Gerade weil Autonomie so schwer zu verwirklichen ist, muss eine demokratische Gesellschaft ein Klima kultivieren, das für individuelle, soziale und politische Experimente offen ist. Auch unter schwierigsten Umständen ist es wichtig, auf die Annahme der Autonomie der Menschen zu setzen. Warum? Obwohl wir uns nicht aussuchen können, wer wir sind, können wir dennoch ein gewisses Maß an Freiheit besitzen, um zu entscheiden, was wir tun. Moralische Unabhängigkeit ist, wie alle Ideale, die mit Freiheit verbunden sind, nicht selbstverständlich. Dass Individuen manchmal keine Autonomie ausüben oder Entscheidungen treffen, die ihren Interessen zuwiderlaufen, entwertet dieses Prinzip nicht. Das Streben nach Autonomie ist untrennbar mit der Entwicklung des menschlichen Potentials verbunden.
„Aus unserem Recht auf freie Entscheidung folgt logisch die Bereitschaft, sich für seine Entscheidungen von anderen zur Verantwortung ziehen zu lassen.“
Die enge Verbindung von Menschlichkeit und Autonomie hat der griechische Philosoph Aristoteles erkannt. Seine Vision vom menschlichen Wachstum betonte die Selbststeuerung und Wahlfreiheit. Aristoteles zufolge ermögliche es gerade die selbstgesteuerte Tätigkeit, Entscheidungen zu treffen und Erfahrungen auszuwerten, die für ein gutes Leben notwendigen Tugenden zu kultivieren.
Allzu oft banalisieren Kritiker die Bedeutung der Entscheidungsfreiheit. Sie gilt ihnen als funktionales Äquivalent zum Einkaufen, wo man zwischen verschiedenen Marken wählen kann. Kritiker der Wahlfreiheit argumentieren auch gelegentlich, dass die meisten Menschen keine wirkliche freie Wahl hätten und dass Autonomie daher eine Illusion sei. Die Kritiker der Autonomie begreifen jedoch nicht, dass die Menschheit – unabhängig von den Hindernissen, die dem freien Handeln im Wege stehen – nur durch das Streben nach Autonomie verantwortungsvoll handeln kann. Es ist schwierig, andere oder sich selbst für Entscheidungen Rechenschaft zu ziehen, die nicht selbst getroffen wurden. So gesehen ist das Recht auf freie Entscheidung nicht nur für die Entwicklung des Einzelnen wichtig. Freies Handeln entwickelt unsere Fähigkeit, Urteile zu treffen und sich dementsprechend zu verhalten. Im Gegenzug werden wir für unser Handeln von anderen zur Rechenschaft gezogen. Aus unserem Recht auf freie Entscheidung folgt logisch die Bereitschaft, sich für eigene Entscheidungen von anderen zur Verantwortung ziehen zu lassen.
Moralische Unabhängigkeit, die durch das Recht auf Wahlfreiheit erzielt wird, ist ein entscheidender Bestandteil einer wahrhaft menschlichen Vorstellung von Freiheit. Autonomie, die durch eine unabhängige Urteilsbildung verwirklicht wird, kann nur in einer Gesellschaft gedeihen, die ihren Bürgern vertraut. Deshalb hängt die Frage, wie sehr wir die freie Entscheidung schätzen, letztlich davon ab, ob wir einander als Mitglieder eines gemeinsamen moralischen Universums vertrauen.
Dieser Beitrag ist zuerst bei NOVO erschienen, zuvor beim Partner-Magazin Spiked.