Um vorab Eines klarzustellen: Noch – und die Betonung liegt hier aus gutem Grund auf dem „Noch“ – verfügt Deutschland über eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Wenn man die Einfachheit des Zugangs, die Wahlfreiheiten der Versicherten, den Leistungsumfang und die Qualität der Versorgung betrachtet, ist es jedenfalls unter den G20 der weltweit bedeutendsten Länder wahrscheinlich sogar das beste und damit nach wie vor ein wichtiger Garant für den sozialen Frieden in unserem Land. Noch ist das Jammern über eine Zwei-Klassen-Medizin ein Jammern auf hohem Niveau. Mehr als 95% der Menschheit wären glücklich, an unserer „2. Klasse“ partizipieren zu dürfen.
Grund für unsere bislang beneidenswerte Situation ist der Bismarck´sche Geniestreich aus dem Jahr 1883: die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), die paritätisch von Versicherten und Arbeitgebern finanziert und von deren Vertretern selbstverwaltet wird. Sie war bis zuletzt – anders als die staatlichen Gesundheitsdienste z.B. in Großbritannien, Italien oder Spanien – weitgehend unabhängig von den Nöten eines Finanzministers.
Krankenversicherung vor dem Offenbarungseid
Seit 2005 jedoch drängt der Staat zunehmend in die Finanzierung der GKV. Der „Bundeszuschuss“, ursprünglich als Ausgleich für die Übernahme versicherungsfremder Leistungen auf dauerhaft 4,2 Milliarden Euro festgelegt, wird zu einem zunehmend wichtigen Finanzierungsbaustein. Um den durchschnittlichen Zusatzbeitrag der Versicherten auf 1,3% stabilisieren zu können, stieg er bereits 2022 auf stolze 28,5 Milliarden Euro.
Um das Loch zu stopfen, soll neben einigen Sparmaßnahmen der Zusatzbeitrag der Versicherten um weitere 0,3% auf dann 1,6% erhöht werden. Das bringt den durchschnittlichen Gesamtbeitrag auf den neuen Rekordwert von dann 16,2%. Zusätzlich soll ein Darlehen über 1 Milliarde Euro aufgenommen werden, das in 2026 zurückzuzahlen ist. Auch der Bundeszuschuss soll um weitere 2 Milliarden auf dann 30,5 Milliarden Euro steigen. Dies alles zeigt: Die GKV pfeift finanziell aus dem letzten Loch.
Aber noch schlimmer. Ohne Steuerfinanzierung wird ab sofort in der GKV nichts mehr funktionieren. Damit droht dem einstigen Erfolgsmodell der technische k.o. Der Finanzminister hat künftig das Sagen, ganz wie heute schon in den staatlichen Gesundheitssystemen Europas. Wer – wie die Verbraucherverbände – in dieser Situation nach noch mehr Steuerfinanzierung ruft, um angeblich die Versicherten zu entlasten, hat die Dramatik nicht verstanden: Ein weitgehend staatliches Gesundheitswesen, bei dem Gesundheit künftig mit Bundeswehr und Autobahnen konkurriert, ist das letzte, was Patienten und „Verbraucher“ sich wünschen sollten.
Die drei Stellschrauben
Was kann man tun, wenn in der GKV die Ausgaben den Einnahmen davonlaufen? Im gesundheitspolitischen Instrumenten¬kasten gibt es seit jeher drei Stellschrauben zur Gegensteuerung: die Finanzierung, die Leistungen und die Versorgungsstrukturen. Bei der Finanzierung scheint das Ende der Fahnenstange erreicht, wenn man eine unzumutbare Belastung von Beitragszahlern und Arbeitgebern oder ein noch stärkeres Abdriften der GKV in ein staatsfinanziertes Gesundheitswesen vermeiden will.
Bereits bei den Leistungen, der zweiten Stellschraube, bieten sich zahlreiche Interventionsmöglichkeiten an, vor allem im Bereich der politischen Geschenke ohne Bezug zum Versorgungsbedarf. So wurde den Apothekern mit den „Pharmazeutischen Dienstleistungen“ ein Ausgleichsgeschenk für das Scheitern des Versandhandelsverbots zugeschoben. Seit letztem Oktober werden 20 Cents pro Kassenrezept in einen Apotheker-Fonds eingezahlt bis auf vorläufig 150 Millionen Euro. Eine einfache Blutdruckmessung wird dem Apotheker jetzt mit stolzen 11,90 Euro vergütet, was jedem Kassenarzt beim Vergleich mit seinen Vergütungssätzen die Zornesröte ins Gesicht treibt. Aber niemand weiß, welcher Apotheker solche freiwilligen Leistungen überhaupt anbietet. Auch gibt es keinen korrespondierenden Leistungsanspruch des Versicherten, so dass es sich um ein ebenso teures wie unkoordiniertes und damit auch unsinniges Projekt handelt, das sofort beendet werden sollte.
Dabei könnte man die Kompetenz der Apotheker durchaus nutzen, um über sie das so wichtige „De-Prescribing“ zu fördern, also den Abbau einer teilweise sogar gefährlichen medikamentösen Übertherapie. Das würde Kosten sparen bei gleichzeitiger Steigerung des Patientennutzens. Aber offensichtlich traut sich niemand, den Apothekern ein Vergütungsangebot für solche Beratungsleistungen zu unterbreiten, die zwar zu Umsatzverlusten führen, aber auch zur Versorgungsverbesserung beitragen würden.
Bei den Leistungsvergütungen sind die politischen Spielräume vergleichsweise gering. Der in Lauterbachs aktuellem Entwurf eines „GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes“ vorgesehene „Solidarbeitrag“ der pharmazeutischen Industrie in Höhe von 1 Mrd. Euro scheint durchaus vernünftig. Denn die „innovativen“ Pharmakonzerne haben sich anstelle des Ausbaus eigener Forschung seit Jahren darauf verlegt, von ihren Markt-Scouts vielversprechende Innovationscluster identifizieren zu lassen, um sich diese dann im Stil von Private-Equity-Unternehmen einzuverleiben. Da solche Cluster häufig an öffentlich geförderten Einrichtungen entstehen, sichern sich die Pharmakonzerne auf diese Weise die Lizenz, von den Steuerzahlern mitfinanzierte Forschungsergebnisse zu Geld zu machen.
Versorgungsstruktur als immerwährende Herausforderung
Die größte Baustelle und gleichzeitig die wichtigste der drei genannten Stellschrauben bleibt die Versorgungsstruktur. Auch hier musste man in jüngster Zeit zu viele Fehlentwicklungen konstatieren. Dies gilt etwa für eine der wichtigsten Größen der Versorgungsstruktur, nämlich die Zahl der Ärzte. Einmütig beklagen Ärztekammern und Gesundheitsminister einen drohenden Ärztemangel. Dabei handelt es sich jedoch ausschließlich um einen „gefühlten Mangel“ und nicht etwa um einen zahlenmäßig belegbaren. Denn seit Jahren liegt Deutschland weltweit unter den Top 3 der Ärzte pro Einwohner.
Doch es gibt bei den Ärzten eine geradezu groteske Fehlallokation. Es werden immer mehr ärztliche Subspezialisierungen ausgewiesen, in die jede neue Ärztegeneration ungefiltert hineinströmt, während insbesondere die ambulante Basisversorgung austrocknet. Das wirkt sich auf die Leistungsangebote und die Behandlungskosten aus. So gibt es in Deutschland 100% mehr Linksherzkatheter als in der Schweiz und 60% mehr als in Österreich, obwohl beide Länder Deutschland bezüglich der Qualität der kardiologischen Versorgung in nichts nachstehen.
Anstatt jedoch diese groteske Fehlallokation zu adressieren, zielt z.B. der aktuelle schwarz-grüne Koalitionsvertrag in NRW auf die Schaffung von 20% mehr Studienplätzen. Im Ergebnis gibt es dann in 15 Jahren vielleicht 150% mehr Linksherzkatheter als in der Schweiz mit entsprechend hohen Mehrkosten, ohne dass sich die Qualität der Versorgung auch nur um ein einziges Prozent verbessert hätte.
In dieser grundsätzlichen Orientierungslosigkeit tragen selbst auf Ordnung angelegte Projekte mangels politischer Führung zur Unordnung bei. So werden mit dem Innovationsfonds seit 2016 Projekte zu innovativen und vor allem sektorübergreifenden Versorgungsformen gefördert. Ein interessanter Ansatz ist seither die Etablierung von „Lotsenfunktionen“ im unübersichtlichen Gesundheitswesen. Doch da diese Projekte zumeist nur regional und auch nur von einzelnen Kassen aufgelegt werden, ist ein regelrechtes Lotsenchaos entstanden. Inzwischen gibt es über alle Kassen und Regionen hinweg sage und schreibe 43 Lotsen-Projekte, wobei vom Onkolotsen über den Cardiolotsen bis zum Leberlotsen alles dabei ist.
So wird eine eigentlich sinnvolle Innovation lächerlich gemacht. Ein auf Koordination angelegter Ansatz steigert die Unübersichtlichkeit des Gesamtsystems. Daneben wird die Funktion des einzigen wirklich erforderlichen Lotsens im Gesundheitswesen entwertet, nämlich des Hausarztes.
Digitalisierung und Krankenhäuser sind Megabaustellen
Besonders dramatisch sind die Defizite der Versorgungsstrukturen im Bereich der Digitalisierung, die für die Zukunft der Krankenversorgung von überragender Bedeutung ist. Der Rückstand zu anderen Ländern wird hier von Jahr zu Jahr größer. Beim zentralen Projekt einer elektronischen Patientenakte (ePA) beträgt der Rückstand zu den führenden Ländern bereits 17 Jahre. Die Ursache für den Abstieg Deutschlands in die digitale Drittklassigkeit trägt einen bekannten Namen: Datenschutz. Es ist ein spezifisch deutsches Phänomen, das Recht an den eigenen Daten allein als Abwehrrecht zu verstehen und nicht – wie inzwischen international üblich – gerade auch als Teilhaberecht des Patienten am medizinischen Fortschritt.
Nicht nur, aber vor allem deswegen ist das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich schlecht auf die Organisation innovativer Prozesse vorbereitet. In der Corona-Pandemie wurde das deutsche Meldewesen zur internationalen Lachnummer. Doch auch im Versorgungsalltag stört die digitale Trägheit an allen Ecken und Enden. So würden inzwischen 50% der deutschen Kassenärzte am liebsten nur noch elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausstellen. Aber viele Arbeitgeber und Arbeitsagenturen können weiterhin nur analoge Bescheinigungen verarbeiten.
Besonders eklatant sind die strukturellen Defizite im Krankenhausbereich. Die Corona-Pandemie hat keineswegs etwa die Notwendigkeit kleiner Häuser in ländlichen Regionen bewiesen. Vielmehr zeigte sich, dass die spezifischen Herausforderungen der Covid-Behandlung fast nur in Krankenhäusern der Schwerpunkt- und der Maximalversorgung gemeistert werden konnten. Eine qualitativ hochstehende Versorgung bedarf eben des Vorliegens entsprechender Fallzahlen. Wer nur 20mal im Jahr einen Dickdarm operiert, kann es in aller Regel nicht so gut wie jemand, der dies 200mal macht.
Allerdings geht es bei der Anpassung der Krankenhausstrukturen an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts keineswegs um den bloßen Abbau nicht überlebensfähiger Häuser. Vielmehr kann im Regelfall eine Umwidmung organisiert werden, wobei an die Stelle der unwirtschaftlichen stationären Versorgung z.B. ein multiprofessionelles ambulantes Versorgungszentrum und eine stationäre Pflegeeinrichtung treten können. Gleichzeitig werden wichtige ärztliche und pflegerische Ressourcen freigesetzt, die an den notwendigen Klinikstandorten dringend gebraucht werden.
Überhaupt hat die Pflegeversicherung ein noch größeres Finanzproblem als die Krankenversicherung. Der Bundeszuschuss ist bereits aufgebraucht. Jetzt werden Darlehen aufgenommen, die nicht zurückgezahlt werden können. Dadurch kommt es zwangsläufig zu weiteren Beitragssatzanhebungen, ohne dass irgendwelche Verbesserungen eingetreten wären.
Ein Funken Hoffnung
Man mag angesichts der Vielzahl der ungelösten Probleme fast verzweifeln. Doch es gibt durchaus auch Tröstliches und sogar noch Hoffnung. Denn es mangelt im System der Gesundheitsversorgung weder an Problemanalysen und Erkenntnissen noch an Verbesserungsideen. Und es gibt mitunter sogar brillante Vorschläge. Hier ragt der Sachverständigenrat Gesundheit hervor, der bereits seit 1985 die Politik regelmäßig mit exzellenten Gutachten zu verschiedensten Themen der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems berät.
Doch es führt kein Weg daran vorbei: Wenn die finanzielle Kernschmelze der gesetzlichen Krankenversicherung und das Abdriften in ein staatsfinanziertes und damit zweitklassiges Gesundheitssystem verhindert werden soll, müssen dringend überfällige Strukturreformen angepackt werden. Die Vorschläge liegen alle auf dem Tisch. Es bedarf nur des entschlossenen Handelns. Mit einem monoman auf Corona fixierten Gesundheitsminister, der selbst dort keine gute Figur macht, wird das nicht gelingen.
Dr. med. Lothar Krimmel, Facharzt für Allgemeinmedizin, war von 1992 bis 2000 Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und damit ein genauer Kenner des Medizinsektors.