Nachdem sich auf Bundesebene die zukünftige Rolle der SPD als eine von akademisch qualifizierten, linksbürgerlich-kosmopolitisch orientierten Aufsteigern getragene Klientelpartei mit sozialpolitischem Vertretungsanspruch für die „kleinen Leute“ inzwischen immer klarer abzeichnet, liegt die zukünftige Rolle der CDU noch stärker im Dunkeln. Während es bei der SPD inzwischen nur noch darum geht, dass ihre Führung die neue Rolle ihrer Partei als sozialpolitischer Juniorpartner zukünftiger Dreier-Koalitionen nicht mehr nur faktisch spielt, sondern endlich auch offiziell annimmt, ist bei der Union noch weitgehend offen, welchen Platz sie im sich verändernden Parteienspektrum der Bundesrepublik zukünftig einnehmen wird.
Die drei Aspiranten für den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur versprechen den Mitgliedern der beiden Unionsparteien zwar allesamt, die CDU wieder zu einer Volkspartei klassischen Typs machen zu können, die die Interessen breiter Bevölkerungs- und Wählerschichten abdeckt; dabei handelt es sich allerdings um kein wirklich realistisches Versprechen, sondern angesichts der Erosion ihrer Rollen als große Volksparteien eher um eine Beruhigungspille gegen eine Art Phantomschmerz. Dieser hat nicht nur die SPD, sondern inzwischen auch die CDU befallen, seitdem mit den letzten Wahlen immer deutlicher geworden ist, dass auch ihr die Wähler scharenweise in zwei entgegengesetzte Richtungen zu den Grünen und zur AfD weglaufen. Dies dürfte wohl das untrüglichste Indiz dafür sein, dass sich auf Bundesebene nicht nur die Volkspartei-Tage der SPD, sondern auch der Union ihrem Ende nähern. Die trotz Verlusten nach wie vor hohen Wahlergebnisse (35 Prozent) der CSU in Bayern widersprechen dieser Entwicklung ebenso wenig wie entsprechende Wahlergebnisse der SPD in Niedersachsen oder jüngst in Hamburg.
In den ersten beiden dieser Politikfelder geht es in den sich zusehends verschärfenden politischen Auseinandersetzungen um die Zielsetzungen, im dritten um die Vorgehensweisen bei der Umsetzung von Zielen. Während die progressiv-kosmopolitisch orientierten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte eine möglichst liberale, als weltoffen und multikulturell apostrophierte Asyl- und Migrationspolitik zusammen mit einer schrittweisen Auflösung des deutschen Nationalstaats in der EU anstreben, wünschen sich die konservativ-national orientierten Kräfte eine restriktive Asyl- und Migrationspolitik bei gleichzeitigem Erhalt der nationalen Souveränität und kulturellen Identität Deutschlands. In der Frage der Umwelt- und Klimapolitik sind sich beide Strömungen mit Blick auf die Ziele eines verbesserten Umwelt- und Klimaschutzes bei allen Differenzen eher einig, unterscheiden sich aber diametral in der Frage, wie diese Ziele erreicht werden sollen.
Die mit diesen Streitfragen einhergehende politische Polarisierung vollzieht sich inzwischen nicht mehr nur zwischen den Parteien, allen voran zwischen den Grünen und der AfD, sondern auch innerhalb der Parteien, und dort derzeit vor allem innerhalb der CDU. Unter ihren Funktionären, Mitgliedern, Anhängern und Wählern finden sich zahlreiche Bürger, die die fortschreitende Umgestaltung ihres Heimatlandes zu einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft ohne sichere Grenzen, die politisch nicht mehr von Berlin, sondern von Brüssel aus gesteuert wird, und bei ihrer Energieerzeugung im eigenen Land sowohl auf die Atomkraft wie auf Kohle verzichtet, befürworten und unterstützen. Ihnen gegenüber stehen diejenigen Funktionäre, Mitglieder, Anhänger und Wähler der CDU, die genau dies nicht wollen, sondern die nationale wie kulturelle Identität ihres Landes erhalten und bei dessen Energieerzeugung im eigenen Land weder auf die Atomkraft noch auf die Kohle völlig verzichten möchten.
Lange Zeit ist es der CDU noch gelungen, diese Strömungen unter einem Dach zu halten. Beginnend mit der EURO-Krise und beschleunigt durch die Migrationskrise gelingt ihr dies aus naheliegenden Gründen aber immer weniger. Die Interessen der sich zusehends polarisierenden gesellschaftlichen und politischen Strömungen sind inzwischen so divergent, dass es immer schwieriger wird, die damit zwangsläufig einhergehenden Interessenkonflikte innerhalb einer Partei auszutragen und zu kanalisieren, ohne dass es sie zerreisst. Unter Merkel wurde daher versucht, die eine, als „rechts“ apostrophierte Strömung gar nicht mehr zu Wort kommen zu lassen, an den Rand zu drängen und auszugrenzen. Seitdem dies aber dazu geführt hat, dass die so Abgedrängten in Gestalt der AfD eine neue Partei gegründet haben, die zusehends Wähler der CDU an sich zog, kann dieses Vorgehen nicht fortgesetzt werden, ohne weiteren großen Schaden anzurichten.
Nicht nur in Gestalt der WerteUnion melden sich mittlerweile vermehrt Stimmen in der CDU, die deutlich machen, dass sie mit dem unter Merkel eingeschlagenen Kurs nicht einverstanden sind und eine deutliche Kurskorrektur wünschen. Ihr Anführer ist inzwischen Friedrich Merz, der seine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz mit der Ankündigung eines Aufbruchs und einer Erneuerung der Partei verbindet, mit der er vor allem Wähler der AfD für die CDU zurückgewinnen möchte. Genau dies wollen hingegen die als modern und weltoffen apostrophierten Strömungen unter den Mitgliedern und Wählern der CDU aber nicht. Sie wollen vielmehr unter der Führung von Armin Laschet Merkels Kurs in Richtung sozialdemokratischer und grüner Ziele und Inhalte weiter fortsetzen und so Wähler, die von der CDU zu den Grünen abgewandert sind, wieder für die CDU gewinnen.
Beide Strategien bergen Chancen und Risiken in sich. Merz kann mit seiner liberal-konservativen Strategie Wähler der AfD wieder zurückgewinnen, läuft aber Gefahr, das, was er auf der AfD-Seite gewinnt, auf der anderen Seite an die Grünen wieder zu verlieren. Seine Ankündigung, die Grenzen für illegale Migranten zu schließen, sollten diese weiterhin weitgehend ungehindert die europäischen Außengrenzen übertreten können, wird viele Wähler der CDU ebenso zu den Grünen treiben wie seine Ankündigung, die derzeitige Energiewende auf den Prüfstand zu stellen. Hierbei handelt es sich um politische Forderungen, die inzwischen nicht nur bei sozialdemokratischen, grünen und linken Stammwählern, sondern auch bei den zahlreichen, unter Merkel zur Union abgewanderten rot-grünen Wechselwählern als ein absolutes „No-Go“ gelten. Der Co-Vorsitzende der Linken, Bernd Riexinger, freut sich daher nicht zu Unrecht auf einen neuen CDU-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Merz, der bei ihm Hoffnungen auf eine grün-rot-rote Koalition im Bund wachsen lässt.
Beide Kandidaten laufen mit ihren Rückholstrategien somit Gefahr, weitere Wähler an Grüne und AfD zu verlieren. Im Falle von Merz Richtung Grüne, im Falle von Laschet Richtung AfD. Gleichzeitig besteht für sie aber auch das Risiko, dass viele Wähler ihre jeweiligen Ziele und Inhalte zwar teilen, für deren Realisierung aber nicht die CDU, sondern die für sie glaubhafteren Originale wählen. Im Falle von Merz die AfD, im Falle von Laschet die Grünen. Diese ausgesprochen schwierige Ausgangslage macht es höchst unwahrscheinlich, dass Laschet oder Merz das gelingt, was beide angesichts des desolaten Zustands der Partei den Parteitags-Delegierten, die sie wählen sollen, notgedrungen versprechen müssen: die Wiederauferstehung der CDU als strömungsübergreifende, große Volkspartei klassischen Typs.
Ob Laschet und Merz diesem Versprechen selbst glauben, werden wir bis zum Parteitag am 25. April, wahrscheinlich sogar bis zur nächsten Bundestagswahl nicht erfahren. Möglicherweise wissen beide nach den innerparteilichen Erfahrungen mit Annegret Kramp-Karrenbauer, dass es nicht mehr darum geht, zwei auseinanderdriftende Parteiströmungen zu integrieren, sondern eine dieser Strömungen innerparteilich so stark und für die Wähler so attraktiv zu machen, dass die andere sich unterordnet oder die Partei verlässt. Armin Laschets Verlautbarung, „Der Feind steht rechts“, mit dem er in erster Linie zwar die AfD meint, richtet sich unverkennbar auch gegen die innerparteilichen Gegner, die einen liberal-konservativen Kurswechsel der Partei fordern und deswegen von Laschets Anhängern auch schon als „Krebsgeschwür“ abqualifiziert worden sind.
Eine entsprechende Erfahrung hat unlängst die scheidende Vorsitzende der CDU, Kramp-Karrenbauer, machen müssen. Sie meinte, als eine Art Moderatorin oder Mediatorin den längst in Gang gekommenen Richtungskampf zweier feindlicher Strömungen in ihrer Partei durch das bei Zusammenarbeits-Konflikten in Unternehmen und Organisationen gebräuchliche Instrument des „Teambuilding“ beenden zu können, und ist damit krachend gescheitert. Angesichts der desaströsen Wahlergebnisse der CDU geht es nicht um eine verbesserte innerparteiliche Zusammenarbeit, sondern um die weitere Existenz der Partei, ihre zukünftige Rolle im deutschen Parteiensystem und ihre dieser Rolle zugrundeliegende programmatische Ausrichtung. Der neu zu wählende Parteichef muss die Partei aus ihrem desolaten Zustand herausführen, ihr dafür eine Richtung vorgeben und dafür sorgen, dass die gesamte Führungsmannschaft der Partei wie auch ihre Mitglieder dieser Richtung folgen.
Der offene Richtungsstreit in der CDU ist vor diesem Hintergrund gleichermaßen Ausdruck einer sich nicht nur in Deutschland vollziehenden Re-Politisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch ein längst überfälliger Akt der Re-Politisierung und programmatischen Profilbildung der CDU selbst. Beide haben unter Merkel schwer gelitten, so dass aus der CDU eine profillose und streitarme Allerwelts-Partei geworden ist. Da die weitere Entwicklung der Partei, egal in Richtung welcher Strömung sie geht, zwangsläufig mit der Anpassung oder Ausgrenzung der jeweils anderen Strömung einhergehen muss, wird eine Wiedergeburt der CDU in ihrer bisherigen Gestalt als lagerübergreifende Volkspartei kaum mehr möglich sein. Dafür sind die Interessengegensätze, die sich zwischen den verschiedenen inner- und außerparteilichen Gruppen und Strömungen in den letzten Jahren aufgetan haben, inzwischen schon zu groß geworden.
Eine Koalition mit den Grünen müsste Merz als Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat hingegen kategorisch ausschließen, will er, wie von ihm angekündigt, tatsächlich AfD-Wähler in großer Zahl zur CDU zurückholen. Das tut er bislang unter Verweis auf Sebastian Kurz und dessen Koalition mit den Grünen in Österreich zwar so nicht, würde im Wahlkampf aber zusehends unter Druck geraten, es zu tun. Dann stellte sich spätestens aber am Wahlabend die Frage, mit wem er eine Regierung bilden will, die es ihm erlaubt, seine politischen Ziele und Inhalte in die Tat umzusetzen. Für ihn kämen dann nur die SPD und die FDP als mögliche Koalitionspartner in Frage, solange die Unvereinbarkeitsbeschlüsse seiner Partei gegenüber der AfD und der Linken bestehen bleiben. Möglicherweise schwebt ihm eine solche Koalition auch tatsächlich vor, für die er allerdings nicht nur viele Wähler der AfD, sondern auch der Grünen für die CDU zurückgewinnen müsste.
Dass Merz dies gelingen kann, ist angesichts der geschilderten politischen Interessenlagen und Kräfteverhältnisse allerdings höchst unwahrscheinlich. Es ist daher nicht auszuschließen, dass eine von ihm in den Bundestagswahlkampf geführte Union am Ende ohne die Grünen nicht mehrheitsfähig ist. Sie könnte dann vor der Frage stehen, entweder mit den Grünen zu koalieren oder das Versprechen, nicht mit der AfD zu koalieren, zu brechen, sollte die AfD erneut mit einem guten Ergebnis in den Bundestag einziehen. Wofür sich Merz in einem solchen Fall entscheiden wird, muss man dann sehen. Koaliert er mit den Grünen, stößt er viele seiner möglicherweise von der AfD zurückgekehrten Anhänger und Wähler vor den Kopf und treibt sie wieder zur AfD zurück, öffnet er die CDU zur AfD, dann führt dies wahrscheinlich zur unwiderruflichen Spaltung der Partei.
Erkennbar weniger riskant und damit erfolgversprechender ist nach derzeitiger Lage der Dinge in dieser Hinsicht Laschets Strategie zur Eroberung der Mehrheitsfähigkeit für die Union. Die Grünen sind gemäß aktueller Umfragen und Wahlergebnisse für ihn eine weitgehend sichere Bank. Er muss allerdings fürchten, dass sein grüner Wunschpartner möglicherweise mit der SPD und der Linken fremdgeht oder ihm, wenn es schlecht läuft, wie schon in Baden-Württemberg die Koalitionsführung wegnimmt. Sollte es für eine Zweier-Koalition mit den Grünen unter Führung der Union nicht reichen, stehen die FDP und die SPD, notfalls sogar die Linke als zusätzliche Koalitionspartner parat. Sie zählt für Laschet ja ausdrücklich nicht zu den politischen Gegnern, die er zu Feinden der CDU erklärt hat und kann in seinem „Kampf gegen rechts“ für ihn notfalls eine zusätzliche Stütze sein.
Dieser Prozess wird dann wohl, mit etwas Zeitverzögerung, auch die bayerische Schwesterpartei miterfassen. Sie hat sich nach den dramatischen Wählerverlusten in Richtung Grüne und AfD bei den letzten Landtagswahlen entschlossen, Merkels politischen Kurs nicht mehr zu kritisieren, sondern sich ihm anzuschließen. Ob dies bei zukünftigen Wahlen dazu führt, dass grüne Wähler wieder die CSU wählen, ist ebenso wenig gewiss, wie dass die zur AfD abgewanderten CSU-Wähler wieder zu ihr zurückkehren. Welche erneute politische Wende Markus Söder vollziehen wird, wenn die CSU bei der anstehenden Bundestagswahl weitere Stimmen an die Grünen und/oder die AfD verliert, darf man deswegen gespannt sein. Armin Laschet kann derzeit allerdings noch darauf setzen, dass er bei seinem Kampf um den Parteivorsitz und die Ausrichtung der CDU Söder an seiner Seite hat.
Diese Unterstützung kann Merz nicht für sich in Anspruch nehmen und hat wohl nicht nur deswegen auf dem Parteitag am 25. April die geringeren Chancen als Laschet. Sollte er erneut nur knapp unterliegen, wird die Frage sein, ob sich die hinter ihm stehenden Strömungen in der Partei Laschets Zielen und Inhalten unterordnen oder nach anderen Wegen suchen, um ihre eigenen politischen Ziele und Inhalte nicht endgültig aufgeben zu müssen, sondern weiter verfolgen zu können. Merz spielt derweil schon jetzt, wie er sagt, nicht auf Platz, sondern auf Sieg. Damit hat er für den Fall seiner zweiten Niederlage im Kampf um den Parteivorsitz einen Platz im Team des Siegers Laschet schon einmal ausgeschlossen. Ob er sich dann als Politiker zur Ruhe setzt oder in anderer Rolle für seine Überzeugungen im anstehenden Bundestagswahlkampf weiterkämpft, wissen wir erst nach dem Parteitag im April. Es ist aber nicht auszuschließen, dass er als politischer Überzeugungstäter nach Wegen suchen wird, um Laschets Marsch Richtung grün-rot eine liberal-konservative Alternative entgegensetzen zu können.