Der Lockdown war allein zur Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems geplant, das muss man sich immer wieder vor Augen führen. An der Frage, wie wahrscheinlich dieses immer wieder bemühte Szenario, die „Triage“, tatsächlich ist, entscheidet sich letztendlich auch die Frage nach dem Lockdown. Immer wieder gezeigt werden die Statistiken des DIVI-Intensivregisters, die einen dramatischen Rückgang der freien Intensivbetten offenbaren:
Ursache dafür ist aber im Wesentlichen nicht die Zunahme der belegten, sondern der Rückgang der überhaupt einsatzbereiten Intensivbetten insgesamt. Woran das im einzelnen liegt und was das bedeutet, ist eine relativ komplizierte Frage, bei der man es sich mit der bloßen Analyse derartiger Statistiken zu einfach macht. In den letzten Wochen sprach TE mit Krankenhausmitarbeitern und Pflegern und wollte wissen: Wie sieht man die Sache aus der Praxis-Perspektive? Ein Ergebnis vorne weg: Es ist frappierend, wie weit sich politische Debatten über dieses Thema von der Realität entfernt haben. Wir führen Schein-Debatten über Schein-Debatten.
Aber warum sinkt die Zahl der existierenden Intensivbetten nun?
Ein Effekt ist sicherlich der, dass ein Corona-Patient nicht wie ein anderer Patient behandelt werden kann und darf. Umfassende Isolationsmaßnahmen und Schutzkleidungen bedeuten für Pfleger in der Praxis einen deutlichen höheren Aufwand – das führt dazu, dass Personal gebunden wird und weitere Intensivbetten nicht mehr betreibbar werden. Zumindest in der Theorie werden die dann gesperrt und „gehen vom Netz“.
Es gab auch Intensivstationen, die tatsächlich geschlossen wurden – einerseits durch die Schließung von Krankenhäusern in der Provinz, andererseits durch die vorübergehende Betriebseinstellung von privaten Fachkliniken, die ebenfalls zum Teil über Intensivbetten verfügen. Und natürlich werden immer wieder Stationen aufgrund von Corona-Fällen unter Quarantäne gestellt.
Wie sehr man diese Zahlen quantifizieren kann und was mehr oder weniger Einfluss hat, lässt sich nur schätzen, Brancheninsider vermuten aber, dass vor allem ein Effekt im Zentrum steht:
Insbesondere über den Einbruch der Zahl der deutschen Intensivbetten am 1. August letzten Jahres wurde viel gerätselt. Genau am 1. August wurde nach mehreren Monaten die Aussetzung dieses Pflegeschlüssels beendet – heißt, die Kliniken mussten sich wieder an höhere Standards halten. So fielen in der Meldestatistik viele Betten weg:
Diese Personalschlüssel-Verordnung ist vom Ansatz her erst mal nicht falsch, da Intensivstationen an der absoluten Belastungsgrenze arbeiten und oftmals nur noch funktionieren, weil sich systematisch über jedes Arbeitsrecht hinweggesetzt wird.
Mehrere Pfleger berichten gegenüber TE allerdings, dass diese Verordnung in der Realität nie wirklich ankam. „Wenn ein Rettungswagen mit einem schwerverletzten Unfallopfer an der Einfahrt steht, wird niemand die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung nachschlagen.“, erzählt uns einer. Wie sollte es auch anders sein: Durch eine bloße Verordnung steigt ja nicht die Kapazität des Systems, und keiner wird einfach aufhören, schwer Kranke zu behandeln.
Die Triage findet täglich statt – seit Jahren
Ein Pfleger berichtet uns von einer Szene, die die Notfallreserve auf sehr plastische Weise beschreibt. Seine Klinik erhielt wegen der Pandemie neue Intensivbetten – die sie allerdings aufgrund von Personalmangel weder betreiben noch aufgrund von Platzmangel sinnvoll aufstellen konnte. Also kamen die Betten zunächst in eine Abstellkammer. Als Vertreter der Landesregierung vor Ort waren, stellte man sie notdürftig auf – zur Freude der Politiker. Alles im Griff, Reserve da, Politik gelungen. Allein: Die Betten hatten nicht mal einen Stromanschluss. Die Notfallreserve zumindest in der Zahl ist eine reine Phantasiegröße – denn der Wert eines Intensivbettes, das man nicht betreiben kann, ist recht beschränkt.
Dem zugrunde liegt ein insofern falsches Verständnis des Systems, das in Krankenhäusern in weiten Teilen gang und gäbe ist. Es ist nicht so, dass Menschen systematisch und nach bestimmten Kriterien auf eine Intensivstation gebracht werden, die eine feste Kapazität hat, die wir in einem Register erheben und ausweisen können. Eine Intensivstation soll eigentlich nicht zu mehr als 80 Prozent ausgelastet sein – um verfügbare Kapazitäten für Notfälle zu behalten. Diese 80 Prozent werden aber wiederum nach Möglichkeit auch immer ausgelastet – einerseits, weil das Krankenhaus sonst Geld verliert, andererseits ist es ja auch nichts Schlechtes. Denn auf der Intensivstation kann die beste Versorgung sichergestellt werden, und bevor man dort Däumchen dreht, wird man immer die Kränksten von der Normalstation verlegen, die schließlich auch überlastet sind.
Das zeigt sich am Ende auch in den Zahlen: Corona hin, Corona her, die Zahl der insgesamt behandelten Intensivpatienten ist beachtlich konstant. Trotz fast 5.000 neuer gemeldeter Corona-Fälle auf den Intensivstationen steigt die Statistik nicht und bleibt etwa bei 20.000.
Das mag zum einen daran liegen, dass nicht unterschieden wird zwischen echten Corona-Patienten und solchen, die sich im Krankenhaus infizieren und dann positiv getestet werden – aber auch das kann dieses Phänomen nicht vollständig erklären.
In Wahrheit ist es wohl so: Die Intensivstationen werden immer voll ausgelastet mit den Kränksten der Normalstationen. Und wenn es mehr schwere Kranke und Verletzte gibt, werden davon anteilig weniger auf die Intensivstation verlegt und andersherum. Wenn man darüber nachdenkt, kann es auch kaum anders sein – keiner wird Ärzte und Pfleger bezahlen und sie Däumchen drehen lassen, keiner wird Menschen in Lebensgefahr abweisen. Dasselbe Spiel gab es bei den Grippewellen der letzten Jahre bereits.
Erzählungen von der Intensivstation sind eine Klasse für sich. Doch es sind nicht die schlimmen Schicksale allein, die den Mitarbeitern zusetzen – es ist vor allem ein Arbeitspensum, das schlichtweg nicht mehr zu stemmen ist. Es gibt kaum einen, der nicht weg will. Uns wird von ausgebildeten Intensivpflegern erzählt, die mitten im Leben ihren Beruf kündigen – einen Plan B haben sie nicht, Hauptsache weg. Einer erzählt von einer Berufseinsteigerin, die er in der Ausbildung als junge Frau voller Träume und Motivationen kennengelernt hat – und die er nach zwei Jahren kaum wieder erkannte: Vor ihm stand eine alte Frau mit leeren Augen. Andere bleiben einfach weg, melden sich monatelang krank. Dem Krankenhaus sind die Hände gebunden, jemand neuen einstellen darf man nicht, da die Stelle ja besetzt ist – und so kommt auf die restliche Belegschaft noch mehr Arbeit.
Die Bezahlung ist indes schlecht, nur mit Bereitschaftsdienst und Feiertagsschichten kommt etwas Geld rein – auch die, erzählt man uns, werden aber immer weniger ausgezahlt. Es fehlt an Geld und seit dem weltweiten Lockdown vor allem auch an Materialien. Teilweise müssen die gleichen Masken mehrere Tage lang getragen werden, Filter für Herz-Lungen-Maschinen fehlen – ein Centprodukt, ohne das die Hunderttausend-Euro teuren Maschinen aber nicht betrieben werden können.
Die Pfleger sind die erkorenen Helden dieser Pandemie, ironischerweise scheint sich niemand im Ernst für ihre Belange zu interessieren. Oder haben Sie in den letzten Monaten etwas gehört, dass sich jemand dafür stark macht, die Arbeitsbelastung zu senken oder Geld in die Hand zu nehmen, um die Kapazitäten des Systems auszubauen?
So schwer wäre es gar nicht, schnell neue Pfleger einzustellen, es gibt zahlreiche ausgebildete Kräfte, die den Beruf aufgrund genau dieser Zustände verlassen haben. Verbessert man die etwas, kann man sicherlich viele zurückholen. Stattdessen klatschte man auf den Balkonen – für wen eigentlich?
Nein, das ganze Land über Monate einzufrieren, scheint einfacher zu sein, als für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Der Lockdown hilft dem Pflegepersonal indes überhaupt nicht – im Gegenteil. Dass Corona in der Weise, wie berichtet wird, zu einer „Triage“ führt, ist ein Märchen, die Zahlen führen in die Irre und bedeuten etwas ganz anderes. Die Corona-Auflagen lasten dem Personal im Gegenteil noch mehr auf, und machen die Arbeit noch schwieriger. Das Schlimmste erzählt uns einer: Wenn er das Krankenhaus verlässt, tragen immer noch alle OP-Masken.
Mitarbeiter des Bundestages erhalten eine Pandemiezulage. Ein Pfleger erzählt uns, dass auch er ein ganz besonderes Dankeschön der Krankenhausleitung für seine Leistungen im Kampf gegen Corona erhalten hat. Einen Gutschein für die Cafeteria.