Europa wird in den nächsten Jahrzehnten vor dem Problem stehen, eine wachsende Zahl von Immigranten zu integrieren. Integration kann zunächst einmal einfach nur bedeuten, diesen Einwanderern durch die Vermittlung von Sprachkenntnissen und Bildung – soweit das notwendig ist – den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Soweit sind Integrationsmaßnahmen auch weitgehend unumstritten.
Schwieriger wird es jedoch bei der Frage, ob man Immigranten auch eine wie auch immer geartete kulturelle Assimilation abverlangen darf, vielleicht noch nicht einmal im Sinne einer deutschen, wohl aber im Sinne einer europäischen, westlichen Leitkultur. Zu dieser Anpassung würde dann die Bereitschaft gehören, sich auf eine Kultur einzulassen, deren christliche Vergangenheit – trotz der seit rund 40 oder 50 Jahren immer stärker werdenden Entkirchlichung – im öffentlichen Raum noch allenthalben sichtbar ist, selbst in einem laizistischen Land wie Frankreich. Damit sind nicht primär Kreuze in Amtsstuben und Schulen gemeint – eine solche Symbolpolitik ist für den norddeutschen Protestanten vielleicht nicht weniger befremdlich als für den muslimischen Zuwanderer aus Pakistan – sondern zum Beispiel Kirchen, die das Stadtbild prägen, Namen von Straßen, oder auch stark säkularisierte Feiertage, deren christliche Ursprünge wie bei Ostern und Weihnachten aber noch sichtbar sind.
Kann man Zuwanderern abverlangen, mit den sichtbaren Spuren einer freilich ohnehin zunehmend verblassenden christlichen Tradition zu leben? Wird diese Frage verneint, und große Teil der politischen Linken würden sie wohl verneinen, darf man sich freilich nicht wundern, wenn viele Einheimische in den Flüchtlingen und Arbeitsmigranten, die jetzt nach Europa kommen, weniger normale Einwanderer sehen, sondern eher Siedler, die Europa ihren kulturellen Stempel aufdrücken wollen, so wie es die Europäer in vielen Ländern Afrikas im 19. und frühen 20. Jahrhundert versuchten.
Nun könnte man die Ansicht vertreten, dass die christliche Tradition für Europa so oder so immer mehr an Bedeutung verlieren wird. Vielleicht ist das richtig. Aber wie steht es mit dem Erbe der Aufklärung? Sicherlich könnte man hier einwenden, dass dieses Erbe der Aufklärung so widersprüchlich sei, dass es ohnehin keinen verbindlichen Charakter habe. Und in der Tat die französische, oft sehr kirchenfeindliche Aufklärung, hatte im 18. Jahrhundert eine ganz andere Stoßrichtung als die Aufklärung im protestantischen Preußen oder auch das schottische „enlightenment“ eines Adam Smith. Was aber allen Varianten der europäischen Aufklärung des späten 17. und des 18. Jahrhunderts wohl doch gemein ist, ist eine grundsätzlich Kritik an jeder Form von rational nicht begründetem Autoritätsanspruch. Das Streben nach der Befreiung des Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) findet sich dann eben doch bei Voltaire genauso wie beim Schotten Hume oder beim jüdischen Deutschen Moses Mendelssohn.
Wie gehen wir damit um? Dürfen wir Immigranten, namentlich muslimischen, vorwerfen, aus einer Kultur zu kommen, die „unaufgeklärt“ ist, die rückschrittlich ist, dürfen wir von ihnen verlangen, sich von diesen Aspekten ihrer Kultur loszusagen, so wie wir Europäer uns von vielen Elementen unserer eigenen Tradition im Laufe der letzten drei Jahrhunderte losgesagt haben? In dieser Frage ist namentlich die politische Linke gespalten. Es gibt auch auf der Linken immer noch Rationalisten und Universalisten, die namentlich den konservativen Islam kritisch sehen und auch bereit sind, dies auszusprechen. Viele andere aber sehen in einer solchen Kritik eine westliche Überheblichkeit und lehnen jeden Versuch, Immigranten westliche Lebensformen und eine westliche Form des Denkens zu vermitteln, ab, weil das alles zu sehr an den unseligen europäischen Kolonialismus und seine Untaten erinnere.
Steht die Aufklärung womöglich am Anfang des Weges, der zum Holocaust führte, wie man im Spiegel lesen kann?
Äußerungen dieser Art gibt es aus dem linken Spektrum, aber auch von sonst durchaus respektablen Linksliberalen viele. Eine der groteskesten Stellungnahmen zu dieser Debatte erschien jedoch vor kurzem im Spiegel. Hier publizierte am 2. Mai die Journalistin Susanne Kaiser unter dem Titel „Unsere unaufgeklärten Muslime“ eine Polemik ganz eigener Art. Die Autorin wandte sich in ihrer Philippika vehement gegen jede Form von Islamkritik, vor allem aber gegen den Vorwurf, das Fehlen der Aufklärung als geistiger Bewegung im Islam habe dazu geführt, dass vom Islam geprägte Gesellschaften heute im Vergleich zu denen des Westens tendenziell rückständig seien. All das sei ganz absurd, denn die Aufklärung, auf die der Westen so stolz sei, habe geradewegs zum Holocaust geführt. Wörtlich schreibt Frau Kaiser: „Die Aufklärung hat auch noch ein paar andere Dinge hervorgebracht, auf die wir uns lieber nicht öffentlich besinnen. Den Kolonialismus, den Faschismus und die Shoah zum Beispiel.“
Nun muss man ihr sogar recht geben, dass es eine gewisse Dialektik der Aufklärung gibt. Das wissenschaftliche Weltbild, das im Zuge der Aufklärung triumphierte, konnte zum Beispiel einen Blick auf den Menschen begünstigen, der ihn als primär oder gar ausschließlich biologisches Wesen erscheinen ließ, besonders dort, wo die Aufklärung sich mit einem radikalen Materialismus und einer vollständigen Ablehnung des christlichen Menschenbildes verband, was aber, und dies ist wichtig, keineswegs durchgehend der Fall war. Die Definition des Menschen als rein biologisches Lebewesen, wie sie etwa Charles Darwin später vertrat, konnte die Frage aufwerfen, ob manche „Menschenrassen“ anderen überlegen seien, und ob man nicht mit Hilfe einer wissenschaftlichen Eugenik zu einer Fortentwicklung des Menschen und seiner Anlagen beitragen müsse. Blickt man heute in das Spätwerk von Charles Darwin „The Descent of Man“ (1871), dann wird man viele Aussagen dieses Werkes als offen rassistisch bezeichnen müssen. Schlimmer noch, mit dieser Studie lieferte Darwin jenen politischen Bewegungen Argumente, die im 20. Jahrhundert aus dem Rassismus eine umfassende exterminatorische Ideologie machten, auch wenn das sicher nicht den Intentionen Darwins entsprach.
Ebenso ist es richtig, dass der europäische Kolonialismus sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert in bestimmten Kontexten unter Berufung auf eine zivilisatorische Mission Europas legitimierte. Weil Europa als „aufgeklärter“ Kontinent dem Rest der Welt überlegen sei, habe man das Recht, diese fremden Länder zu unterwerfen. Wie der Versuch, die unterworfenen Völker an den Segnungen der europäischen Zivilisation teilhaben zu lassen, in der Praxis aussehen konnte, das kann man sich vor Augen führen, wenn man Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ liest, eine Novelle aus dem Jahr 1899, die die Kongogräuel thematisiert und in der der große Vorkämpfer der Zivilisation, der „Held“ des Romans, Mr. Kurtz, am Ende selber zum schlimmsten Barbaren wird, schlimmer als die „Wilden“, die er „zivilisieren“ will.
Die regressive Linke auf Irrwegen
Soweit könnte man Frau Kaiser sogar zustimmen. Deshalb aber Faschismus und Nationalsozialismus, die ein Aufstand gegen das Erbe der Aufklärung und ihr Bekenntnis zu universalen, für alle Menschen gültigen Werten und Normen waren, insgesamt als Frucht der Aufklärung zu bezeichnen, ist absurd und zeigt nur, zu welch grotesken Behauptungen sich Teile der heutigen Linken versteigen, wenn es gilt nachzuweisen, dass die europäisch-westliche Kultur grundsätzlich verwerflich und böse, die islamische Tradition aber in ihrem Kern immer schon wissenschaftsfreundlich, liberal und tolerant gewesen sei, was Frau Kaiser sinngemäß durchaus schreibt. Sie ist ja in der Tat der Ansicht, wer für westliche Werte eintrete, verteidige in Wirklichkeit nur die Privilegien derjenigen, die „männlich, deutsch, weiß, christlich, heterosexuell“ und „mittelalt“ sind.
Es geht hier gar nicht primär um die Frage, ob der heutige radikale oder fundamentalistisch-konservative Islam wirklich überwiegend Wurzeln in einer jahrhundertelangen Tradition hat, oder eher etwas Neues, spezifisch Modernes ist. Immerhin kann man schwer übersehen, dass etwa das Osmanische Reich sich seit dem frühen 16. Jahrhundert wichtigen wissenschaftlichen und technischen Innovationen verschloss, indem es vor allem das Drucken von Büchern, jedenfalls soweit diese sich an eine muslimische und nicht z. B. an eine jüdische Leserschaft wandten, verbot. Erst im 18. Jahrhundert wurde dieses Verbot für nicht-religiöse Bücher ein wenig gelockert, aber erst im 19. Jahrhundert wurden wirklich in größerer Zahl Texte durch den Druck verbreitet, gut drei Jahrhunderte später als in Europa. Dass eine solche Innovationsfeindlichkeit keine langfristigen kulturellen Konsequenzen gehabt haben soll, ist recht unwahrscheinlich. Dennoch kann man im heutigen islamischen Fundamentalismus auch eine momentane Reaktion auf die tiefe Krise vieler islamischer Gesellschaften und auf ein Verhalten westlicher Staaten sehen, das subjektiv als anmaßend und heuchlerisch empfunden wird, und das nicht immer ganz zu Unrecht.
Man sollte auch nicht vergessen, dass die Ausbeutung von Sklaven oft dort besonders grauenhafte Züge annahm, wo die Kolonialherren die Sklaven bewusst nicht zum Christentum bekehrten und sie sogar daran hinderten, ihre Sprache zu lernen, wie es die Niederländer in Guayana im Nordosten des südamerikanischen Kontinents lange taten. Es war ja gerade die vollständige Fremdartigkeit des Anderen, die eine möglichst brutale Ausbeutung legitim erscheinen ließ, und die deshalb auch bewahrt werden sollte.
Die Ideologie des Multikulturalismus hat ihre Wurzeln in der Gegenaufklärung des späten 18. Jahrhunderts.
Natürlich liegt eine solche Gesinnung der heutigen anti-westlichen Linken oberflächlich betrachtet fern, aber dass ihr Kult des Fremden und ihre radikale Denunziation jeder Form von kultureller Assimilation in einer recht dubiosen Traditionslinie stehen, das machen sie sich nicht klar. Sie riskieren damit, zu den Verbündeten reaktionärer Kräfte in den islamischen Gesellschaften oder auch unter den Interessenvertretungen von Muslimen in westlichen Ländern zu werden. Zugleich fallen sie liberalen Muslimen in den Rücken, die aus ihrer Sicht ja nur „Onkel Toms“ sind, die sich dem Westen anpassen und ihre eigene Tradition verraten. So jedenfalls hat es in jüngeren, radikaleren Jahren einmal der jetzige Bürgermeister von London Sadiq Khan ganz unverblümt formuliert, wofür er sich allerdings später entschuldigte.
Aber die Widersprüche in der Haltung vieler linker Kritiker des Westens reichen tiefer. Letzten Endes wurzelt ihr emphatisches Bekenntnis zu einer Ideologie, die in multikultureller Vielfalt den höchsten aller Werte sieht, in der Gegenaufklärung des späten 18. Jahrhunderts. Gegen den Universalismus und Rationalismus der Aufklärung bestanden Denker wie Johann Gottfried Herder (1744-1803) darauf, dass jede Kultur ihr eigenes Wertesystem habe; ein wertender Vergleich zwischen Kulturen sei unmöglich, weil diese Werte inkommensurabel seien, und es keinen neutralen Standort jenseits der verschiedenen kulturellen Traditionen gebe. Solche Argumente hatten und haben durchaus Gewicht, man kann sie schwerlich einfach vom Tisch wischen, aber wer sich zu ihnen bekennt, kann kaum für die Emanzipation aller Unterdrückten und Benachteiligten und für universale Menschenrechte eintreten oder an einen humanitären Fortschritt als Ziel der Geschichte glauben, zumal die Idee des Fortschritt zwingend mit dem Gedanken verbunden ist, dass es Epochen und ganze Kulturen geben muss, die vergleichsweise rückständig sind oder waren.
Wer das anders sieht, muss eigentlich zum Konservativen werden, der zwar vielleicht andere Kulturen schätzt, aber auch die eigenen Traditionen energisch verteidigt. Nichts jedoch läge der politischen Linken natürlich ferner als eine solche Haltung, mit der sie sich ja vollends selber aufgäbe. Nur leider merken viele Linke heute nicht, wie sie durch ihre antiwestlich antiaufklärerische Haltung die Fundamente ihrer eigenen Weltdeutung vollständig zerstören und dabei gleichermaßen den Dunkelmännern des religiösen Fundamentalismus wie auch den Verfechtern eines rechten „Ethnopluralismus“, der von der politischen Linken eigentlich, wenn er aus Europa kommt, fundamental abgelehnt wird, in die Hände spielen. Verkürzt könnte man sagen: Für Linke wie Frau Kaiser – und so wie sie denken eben doch viele -, ist der Ethnopluralismus gut, wenn er sich gegen Europa richtet, aber schlecht, wenn er eurozentrisch argumentiert und Europa gegen vermeintliche oder wirkliche Gefahren verteidigen will. Das ist eine sehr widersprüchliche Haltung, die die Linke in dieser Form, das kann man jetzt schon sagen, nicht wird durchhalten können, jedenfalls nicht außerhalb jener wirklichkeitsresistenten medialen Schutzzone, die Publikationsorgane wie der Spiegel, die Zeit oder die TAZ, für viele ihrer Leser und erst recht für ihre Autoren erfolgreich geschaffen haben.