Über CDU und CSU brauen sich dunkle Wolken zusammen. Die CDU kann nicht ausschließen, dass es nach der Bundestagswahl 2025 deshalb keine gemeinsame Fraktion mehr gibt, weil die CSU weniger als 31,7 Prozent der bayerischen, das heißt weniger als 5 Prozent aller deutschen Zweitstimmen erreicht und deshalb an der Sperrklausel scheitert.
In § 4 Abs. 2 Ziff. 2 BWahlG (neue Fassung) heißt es: „Nicht berücksichtigt werden Parteien, die weniger als fünf Prozent der im Wahlgebiet gültig abgegebenen Zweitstimmen erhalten haben.“ Die gewohnte Grundmandats-Regel, dass Parteien davon verschont bleiben, wenn sie drei Direktmandate erlangt haben, wurde gestrichen.
Die CDU/CSU-Fraktion, die zur Gruppe herabgestufte Fraktion „Die Linke“, der Freistaat Bayern und andere machten dagegen vor dem höchsten Gericht in Karlsruhe mit Verfassungsbeschwerden Front. Überraschend hat das Bundesverfassungsgericht die mündliche Verhandlung zum Wahlrecht für den 23. und 24. April 2024 anberaumt. Im Normalfall wird zwei oder drei Monate später das Urteil verkündet. Insgesamt sind sechs Verfahren zur Entscheidung angenommen worden. Die überparteiliche Bürgerklage mit dem Aktenzeichen 2 BvR 842/23 ist nicht darunter. Die CSU hat es unterlassen, ihr Bedeutungsgewicht durch einen von ihr organisierten Massenbeitritt so weit zu erhöhen, dass sie zur mündlichen Verhandlung zugelassen worden wäre – ein fataler Fehler!
Sperrklauseln in einer föderativen Staatsordnung
In der Gliederung der mündlichen Verhandlung, die das Verfassungsgericht zur Vorbereitung des Verfahrens erstellt hat, fehlt eine Überprüfung der föderativen Staatsordnung im Zusammenhang mit der Sperrklausel. Offenbar wurde dies gar nicht beantragt. Ebenfalls eine schwerwiegende Unterlassung. Deutschland ist ein Bundesstaat. Die Eigenständigkeit der Bundesländer hat Verfassungsrang. Die Abgeordneten werden länderweise gewählt. Zweitstimmen sind Landesstimmen. Bundesstimmen gibt es nicht. So will es jedenfalls Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz. Und weil es keine Bundesstimmen gibt, kann es auch keine Bundessperrklausel geben – gibt es aber und muss auf dem Rechtsweg mühsam aus dem Weg geräumt werden.
Die Abgeordneten aller Parteien Bayerns werden von Bayern in Bayern gewählt. Die Wähler außerhalb Bayerns haben innerhalb Bayerns keinerlei Mitwirkungsrechte. Die „Preußen“ können den Bayern nicht vorschreiben, welche Landespartei des Freistaates nicht in den gemeinsamen Bundestag einzieht, weil sie außerhalb der Landesgrenzen – wo man sie gar nicht wählen konnte – keine fünf Prozent der Zweitstimmen erreicht. Eine Bundessperrklausel, die es bei der ersten Bundestagswahl 1949 aus gutem Grunde noch gar nicht gab, konnte schon bei ihrer Einführung zur zweiten Bundestagwahl 1953 vor der Verfassung keinen Bestand haben, ist aber gängige Praxis, und zwar bis auf den heutigen Tag.
Diese Bundessperrklausel muss zu Fall gebracht und durch eine Landessperrklausel ersetzt werden. Erst dann steht die CSU auf gesichertem Boden. Doch dies wurde bei Gericht offenbar gar nicht beantragt. Und die Schriftsätze werden geheim gehalten, sodass ihre Mängel gar nicht aufgedeckt werden können.
Fünf-zu-drei-Mehrheit erforderlich
Die jüngste Entscheidung des BVerfG vom 29. November 2023 (2 BvF 1/21) zur Verständlichkeit des Wahlrechts erging mit 5-zu-3 Richterstimmen. Die Vizepräsidentin König und die beiden Richter Müller und Maidowski gaben zum Urteil des Zweiten Senats ein Minderheitenvotum ab: Das BWahlG sei unverständlich und deshalb nicht verfassungskonform, urteilten sie. Zum Jahresende gab es einen Richterwechsel. An die Stelle von Richter Müller ist Peter Frank getreten. Richter Frank wird dem gleichen Parteienspektrum wie Müller zugerechnet. Es bleibt also dabei, dass im Zweiten Senat eine Mehrheit von fünf Richtern eher auf der Seite der „Ampel“ einzuordnen ist.
Die CSU muss sich offenbar darauf einrichten, die nächste Bundestagswahl unter dem „Ampel-Gesetz“ zu absolvieren. Sie muss also erstens mehr als fünf Prozent aus der Summe aller in ganz Deutschland gültig abgegebenen Zweitstimmen erzielen und sie muss zweitens alles daransetzen, dass sie als Partei in Bayern mehr Listenplätze als Direktmandate erlangt, also keine Überhänge entstehen, denn nach neuem Recht fallen diese weg.
Eine Plausibilitätsrechnung
Aus gutem Grund hat Franz Josef Strauß die Parole ausgegeben, rechts von der CSU dürfe es keine ernstzunehmende demokratisch legitimierte Partei geben. Tatsächlich stehen inzwischen drei Parteien rechts von der CSU zur Wahl: die Freien Wähler, die AfD und die Werteunion. Alle drei können den Wähler-Anteil der CSU schmälern, unter die Fünf-Prozent-Marke drücken und damit die CSU aus dem Bundestag drängen – obwohl die CSU unstreitig sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweitstimmen mit weitem Abstand die stärkste Partei in Bayern ist.
Der Wahlfolgenabschätzung liegen die nachfolgenden Annahmen zu Grunde:
Es gibt 630 Abgeordnete. Davon werden aber nur 299 in Wahlkreisen direkt gewählt.
- Total 2021 = 46.442.023 Mio. gültige Zweitstimmen / = 100,0 % / Bund;
- Total 2021 = 7.571.313 Mio. gültige Zweitstimmen / = 100,0 % / Bayern;
- CSU 2021 = 2.402.827 Mio. gültige Zweitstimmen / = 5,2 % / Bund;
- CSU 2021 = 2.402.827 Mio. gültige Zweitstimmen / = 31,7 % / Bayern;
- Grenzwert = 2.322.099 Mio. gültige Zweitstimmen / = 5,0 % / Bund (minus 1 Stimme).
Wenn die CSU in Bayern 80.727 Zweitstimmen (das heißt 2 Promille bundesweit, oder: 4 Prozent bayernweit) verliert, dann sinkt sie unter die Fünf-Prozent-Marke in Deutschland. Dazu muss der Zweitstimmenanteil der CSU in Bayern um 4 Prozentpunkte von 31,7 Prozent (2021) auf 27,7 Prozent (2025) zurückfallen.
1.) Die Freien Wähler sind bei Landtagswahlen in Bayern Koalitionspartner, im Bund – beim Überlebenskampf gegen die Fünf-Prozent-Sperre – jedoch ein ernstzunehmender Konkurrent und Gegner. Sie haben ihren Anteil an den gültig abgegebenen Zweitstimmen in Bayern von 2,7 Prozent (2017) auf 7,5 Prozent (2021) gesteigert. Damit haben sie 2021 wesentlich dazu beigetragen, die CSU an den Rand der Fünf-Prozent-Sperre zu drängen. Diesem Schicksal ist sie mit 5,2 Prozent nur knapp entgangen. Die Freien Wähler können der CSU weitere 45.000 bis 50.000 Zweitstimmen abnehmen, wenn sie ihren Anteil von 7,5 auf 8,5 Prozent aller bayerischen Zweitstimmen steigern, das heißt (2025) 75.731 Tsd. gültige Zweitstimmen hinzugewinnen.
2.) Die AfD hat von 12 Prozent (2017) auf 9 Prozent (2021) abgenommen und wird seit 2024 auch von der Werteunion bedrängt. Würde sie von 9 auf 9,5 Prozent um 83.525 gültige Zweitstimmen zunehmen, kann man unterstellen, dass die CSU durch die Wählerwanderung 5.000 bis 10.000 Zeitstimmen verliert. Doch das bleibt ungewiss.
3.) Die Werteunion ist erst Anfang 2024 neu gegründet worden. Gefestigte Umfrage-Ergebnisse liegen noch nicht vor. Wenn die Werteunion bundesweit mit weniger als 2.322.100 Millionen Zweitstimmen an der Fünf-Prozent-Hürde im Bund scheitert, könnte sie (entsprechend dem 5-Prozent-Bevölkerungsanteil der Bayern am Bund) im Freistaat trotzdem 116.105 Tsd. Zweitstimmen erreichen. Nimmt die Werteunion der CSU 2025 nicht 116.105, sondern etwa die Hälfte, also 40.000 bis maximal 50.000 bayerische Zweitstimmen ab, ist das wohl eine realistische Zahl.
Die CSU verschwindet also aus dem Bundestag, wenn drei Parameter erfüllt sind:
- Die Freien Wähler müssen von 7,5 Prozent auf 8,5 Prozent um 116.105 Tsd. Zweitstimmen anwachsen und der CSU ungefähr 45.000 Zweitstimmen abnehmen.
- Die AfD muss ihren bayerischen Stimmenanteil von 9,0 Prozent auf 9,5 Prozent steigern und damit das Wahlergebnis um 5000 bis 10.000 gültige Zweitstimmen zu Lasten der CSU verbessern, was ungewiss ist.
- Die Werteunion muss mit 4,99 Prozent im Bund 2.322.099 Millionen gültige Zweitstimmen erreichen, dabei aus Bayern 116.105 Tsd. Zweitstimmen „holen“ und der CSU 46.000 bis 50.000 Zweitstimmen abnehmen.
Es kann also passieren, dass der CSU 80.700 Zweitstimmen fehlen. Damit würde sie unter die Fünf-Prozent-Marke sinken. Das wäre dann das Ende der gemeinsamen Fraktion aus den beiden Schwesterparteien CDU und CSU. Ohne CSU würde die CDU fünf Prozent verlieren und alleine auf circa 25 Prozent der Zweitstimmen sinken. Die CDU könnte nur mit SPD und Grünen eine Regierungskoalition bilden. Gegen Grüne und SPD hätten nur CDU, AfD und BSW zusammen eine Mehrheit.
Der Autor lebt in München und hat als freier Publizist und Blogger in namhaften Fachzeitschriften zahlreiche Beiträge und außerdem auch mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. Zu den Fundstellen vgl. hier. Zur Vita des Autors geht es hier.