„Gesichtsausdrücke sind universell. Gefühle sehen bei einer Vorstadthausfrau ganz genauso aus wie bei einem Selbstmordattentäter. Die Wahrheit steht uns allen ins Gesicht geschrieben.“ (Cal Lightman: „Lie to me“ – Staffel 1, Folge 1)
Gilt die Maskenpflicht eigentlich auch für Profilfotos bei Parship und Tinder? Die Frage ist nur halb komisch. Wir kommen gleich darauf zurück.
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Hand aufs Herz: Insgeheim hatten sich die meisten doch etwas lustig gemacht über diese Asiaten mit ihrem Mundschutz.
Dass sie den im Smog von Peking trugen – nun gut, da soll die Luft ja tatsächlich sehr schlecht sein, und außerdem sind sie da bei sich zuhause. Andere Länder, andere Sitten. Aber hier bei uns wirkten sie zwischen all den unmaskierten Menschen im Bus oder im Supermarkt doch irgendwie – nun ja, seltsam.
Die Zeiten ändern sich, wohl kaum jemand findet das heute noch lustig. Mittlerweile gilt bundesweit, regional mehr oder weniger strikt, eine Maskenpflicht. Menschen bedecken Mund und Nase – wenn es draußen schön ist und sie eine Sonnenbrille aufsetzen, ist vom Gesicht buchstäblich nichts mehr zu sehen.
Lassen wir mal die medizinische bzw. epidemiologische Frage beiseite, wie sinnvoll Masken sind. Überspringen wir auch die politische bzw. moralische Frage, weshalb der Bundesgesundheitsminister eine Maskenpflicht ablehnte und sogar den Nutzen von Masken insgesamt verneinte, solange es (nicht zuletzt durch Ministerversagen) bei uns nicht genügend Masken gab – und eine abrupte Kehrtwende machte, als dann genügend Masken verfügbar waren.
Wenden wir uns der Frage zu, was die Masken mit uns machen.
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„Schau‘ mir ins Gesicht.“ Das sagen wir, wenn wir wollen, dass jemand uns glaubt. Unser Augenpaar, noch mehr aber unsere Mimik soll dem Gegenüber einen unverstellten Blick auf die Wahrheit ermöglichen.
In Redewendungen werden oft uralte Erkenntnisse einer Kultur weitergegeben. Manchmal bleiben es Volksweisheiten, manchmal werden sie durch Wissenschaft gestützt. Der US-amerikanische Anthropologe und Psychologe Paul Ekman legt mit seiner Forschung nahe, dass sich über sogenannte Mikroexpressionen (also extrem kurze emotionale Ausdrucksformen) mit großer Sicherheit in unserem Gesicht ablesen lässt, ob wir die Wahrheit sagen oder ob wir lügen – zumindest innerhalb eines Kulturkreises.
Das offene, unverhüllte Gesicht ist für uns nicht nur entscheidend, um die Identität eines Menschen festzustellen. Es hilft uns auch dabei, einen Eindruck von seinem Gemütszustand zu gewinnen: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung (die Basisemotionen) – das steht uns „ins Gesicht geschrieben“.
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Dass Menschen ihr Gesicht verlieren, kannten wir in unserem Kulturkreis bisher nur im übertragenen Sinn.
Parship und Tinder akzeptieren keine Profilfotos, auf denen man eine Maske trägt. Das ist in der ansonsten gern anonymen Welt der virtuellen Kontakte durchaus erstaunlich. Im Corona-Alltag der dreidimensionalen Welt werden wir uns zumindest für einige Zeit dagegen wohl mit verhüllten Gesichtern abfinden müssen. Und nicht nur in den Sozialen Medien wird gerade intensiv darüber diskutiert, auch nach der Corona-Krise und auch bei uns das dauerhafte prophylaktische Tragen von Masken (wie teilweise in Asien) verpflichtend einzuführen.
Die Anhänger der Idee haben fraglos gute Argumente – aber diejenigen, die gegen eine Maskenpflicht sind, auch: Sie argumentieren, dass die soziale Kommunikation in unserer Kultur auf im Wortsinn „offener“ Konfrontation aufgebaut ist. Dazu gehört auch die Möglichkeit, die Emotionen des Gegenübers wahrnehmen zu können: seine Mikroexpressionen im Gesicht.
Empathie, Nähe und Herzlichkeit – aber auch Freundlichkeit, Sympathie und Zugehörigkeitsgefühl: All das ist in unserer Zivilisation maßgeblich auch an den Blick ins Gesicht gekoppelt.
Und all das wird durch Masken schwer beschädigt.
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Über den richtigen Weg aus der Virus-Krise wird heftig gestritten.
Dabei gibt es geradezu epische Duelle: Charité gegen Robert-Koch-Institut, Drosten gegen Kékulé, Lockdown gegen Lockerung.
Die Einen werfen den Anderen vor, eine Verbreitung des Virus (und damit mindestens indirekt auch Tote) in Kauf zu nehmen. Die Anderen werfen den Einen vor, den Kollaps von Grundrechten, Wirtschaft, Kultur und Sozialleben in Kauf zu nehmen.
An beiden Vorwürfen ist was dran. Auch bei der Bekämpfung des Virus gibt es eben mehrere verschiedene Zielvorstellungen, und die sind teilweise nicht miteinander zu vereinbaren. Deshalb kann die Bewältigung der Pandemie eben weder nur ökonomisch noch nur juristisch entschieden werden – und auch nicht nur epidemiologisch.
Nur ökonomisch würde bedeuten: Die Aufrechterhaltung der Wirtschaft ist das einzige Ziel. Dann dürfte man keine Geschäfte schließen. Im Ergebnis lebt die Wirtschaft, aber Menschen sterben.
Nur juristisch würde bedeuten: Die Beibehaltung der Grundrechte ist das einzige Ziel. Dann dürfte man keine Versammlungen verbieten und keine Ausgangssperre verhängen. Im Ergebnis lebt das Grundgesetz, aber Menschen sterben.
Nur epidemiologisch würde bedeuten: Die Verhinderung der Verbreitung des Virus ist das einzige Ziel. Dann müsste man alle Geschäfte schließen, alle Versammlungen verbieten und eine strikte Ausgangssperre verhängen. Im Ergebnis hat man das Virus getötet – aber die Wirtschaft, die Freiheit und das ganze Land gleich mit.
Es ist der klassische Fall von Zielkonflikten bei widerstreitenden Interessen: Es geht also um Politik. Für den friedlichen Interessenausgleich nutzen wir in Deutschland das politische Instrument der Demokratie.
Deshalb entscheiden bei uns eben nicht nur Juristen oder nur Ökonomen darüber, wie wir die Pandemie bekämpfen – und auch nicht nur Virologen. Es entscheiden gewählte Politiker. (Dass die sich zunehmend vor allem hinter den Virologen verstecken, ist eine andere Geschichte für einen anderen Text.)
Die Bekämpfung der Pandemie ist zweifellos derzeit ein vorrangiges Ziel von Politik, aber bei allem Respekt: Es ist nicht das einzige. Die Verteidigung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die Aufrechterhaltung unserer ökonomischen Überlebensfähigkeit und auch die Bewahrung unserer Kultur sowie unserer zivilisatorischen Errungenschaften sind ebenfalls Ziele – und zwischen allen muss ein Ausgleich gefunden werden.
Den Preis für eine einzelne Maske sollten wir bezahlen – den Preis für eine dauerhafte Maskenpflicht nicht.