Europa lockert: Die Schweiz beendet den harten Lockdown, in den Niederlanden und in Österreich dürfen die Geschäfte öffnen, in Italien sind auch Restaurants wieder offen, Polen hat schon gelockert, in Frankreich und Schweden ist ohnehin das Meiste geöffnet. Deutschland steht mit seiner vehementen Lockdown-Politik zunehmend alleine da. Nach neuesten Umfragen sind auch über 75% der Bundesbürger dafür, den Einzelhandel zu öffnen. Eine Kampagne mehrerer großer Einzelhändler fordert zeitnahe Lockerungen. Heinrich Deichmann, Verwaltungsratschef des gleichnamigen europäischen Marktführers im Schuheinzelhandel, sagte im Interview mit dem Handelsblatt: „Der Handel muss am 8. März wieder öffnen.“
Am Mittwoch treten die Ministerpräsidenten zusammen und entscheiden, es gibt berechtigten Grund zur Hoffnung. Eigentlich schien die Sache schon klar: Deutschland ist auf dem Weg der Lockerung, wenn auch im Schneckentempo. Merkels letzter Trumpf: Die Dritte Welle. Diese „Welle“ sieht zur Zeit so aus:
Dazu kommt: In der vergangenen Woche ist die Anzahl der Tests überproportional angestiegen, das relativiert die Ereignisse nochmal. Denn: Da Deutschland im internationalen Vergleich immer sehr wenig getestet hat (etwa nur ein Drittel so häufig wie Italien), hatten wir immer eine hohe Dunkelziffer – das bedeutet, dass die gemeldeten Infektionszahlen immer auch von der Testzahl abhängen.
Auch die Daten über die Verbreitung der britischen B117-Variante zeigen zunächst keinen dramatischen Anstieg. Die Zahl der neuen Fälle mit Verdacht oder Nachweis der Variante ging in der letzten Woche von 3.629 auf 3.066 zurück, die ermittelten B117-Verdachtsfälle unter den Tests stieg nur minimal von 6.993 auf 7.418 in einer Woche. Während Länder wie das Vereinigte Königreich bereits 100.000 Corona-Fälle sequenzierten und damit genau auf die Mutationen untersuchen können, verfügt das RKI aber über eine weiterhin extrem geringe Datengrundlage. Diese Zahlen lassen zwei Schlüsse zu: Erstens, wir leben eben nicht in einer von der Mutation erzeugten dritten Welle, zweitens die vom RKI bereitgestellten Zahlen sind ziemlich wertlos. Oder beides.
Es ist natürlich dennoch möglich, dass jetzt eine neue Welle kommt. Wir haben in vielen Ländern (bspw. den Niederlanden) erlebt, dass auf eine Welle direkt die nächste folgen kann, ohne dass es eine erkennbare neue Ursache dafür gibt. In den letzten Wochen sanken die weltweiten Corona-Zahlen auf unerklärliche Weise, sie können genauso wieder steigen. Die entscheidende Frage ist: Wie reagieren wir darauf? Doch anstatt sich Gedanken über die beste Lösung zu machen, ist man starr darauf verfallen, nur auf die Kurve als Neuansteckungen ausgegebenen Positiv-Getesteten zu schauen, so als ob es selbstverständlich sei, dass man einen Lockdown verhängen muss, sobald diese Zahlen einen minimalen Ausschlag nach oben andeuten.
Der Lockdown: Nicht nur brachial, sondern auch sinnlos
Wenn man Kosten und Nutzen abwägt, ist das Bild nach einem Jahr Corona sehr klar. Die kurze Bilanz des Lockdowns: Das offizielle Infektionsgeschehen in Altersheimen konnte nie mit dem Lockdown gebrochen werden. Über 80-Jährige wurden fast drei mal so häufig infiziert wie der Rest der Bevölkerung. Daraus resultiert der Großteil der Toten und Intensivpatienten – ganz unabhängig von Lockdown oder nicht Lockdown.
Die Wirksamkeit restriktiver Kontaktbeschränkungen zeigte sich auch im internationalen Vergleich nie. Verschiedene renommierte Forscher zeigten in Datenanalysen, dass es kaum einen Unterschied macht, ob ein Lockdown verhängt wurde oder nicht. Auch das lockdownfreie Schweden bewies in der zweiten Welle, dass der deutsche Lockdown im Kern nicht erfolgreich war:
Das (in den Altersheimen ungebremste) Infektionsgeschehen kostete nach offiziellen Daten rund 40.000 Menschen im vergangenen Jahr das Leben, wobei selbst vorsichtige Schätzungen nun davon ausgehen, dass mindestens ein Viertel davon nicht ursächlich an Corona gestorben ist. Eine Untersuchung von RKI-Mitarbeitern, die im Ärzteblatt nun publiziert wurde, kommt zu dem Schluss: „Die Analyse […] legt aber nahe, dass die COVID-19-Pandemie am Ende des Jahres 2020 etwa das Niveau schwerer Influenzawellen erreicht hat.“ Auch die Zahl der Toten und der belegten Intensivbetten im Vergleich zu den Grippewellen der Vorjahre zeigt, dass wir es nie mit einer besonderen Extremsituation zu tun hatten, sondern nur mit den durchaus ernsten Problemen, mit denen wir jedes Jahr und mit alternder Bevölkerung zunehmend zu kämpfen haben.
Die Folgen des Lockdowns: Neben den katastrophalen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen und insbesondere den wohl nicht mehr aufzuholenden Bildungslücken bei Kindern ist die Lage auch rein gesundheitlich dramatisch. Neben einem drastischen Anstieg der Suizide und Depressionen ist die Behandlung von Krebserkrankungen in Deutschland je nach Typ um bis zu 23% zurückgegangen, nur noch ein Viertel der Vorsorgeuntersuchungen wurden durchgeführt, im Vereinigten Königreich ist die Zahl der durchgeführten Chemotherapien um über 50% zurückgegangen. Das alles bedeutet wohl Zehntausende zusätzliche Tote in den kommenden Jahren.
Lange konnten die Bürger vieles ertragen, aber nach einem Jahr ist das Maß voll, die Folgen dürften sich zuspitzen mit jeder weiteren Woche im Lockdown.
Die Corona-Folgen hingegen sind immer besser in den Griff zu bekommen. Die Altersheime werden zunehmend durch Schnelltests geschützt, über 80% der Bewohner sind das erste mal geimpft worden – auch wenn die Wirksamkeit unter Hochrisikopatienten noch nicht restlos geklärt ist, macht das Hoffnung. Die Krankenhäuser haben Erfahrung mit dem Virus gesammelt und die Fallsterblichkeit sinkt immer weiter. Noch schneller als die Infektionen in der Gesamtbevölkerung sind die bei den Hochrisikogruppen zurückgegangen. Da rund zwei Drittel der Corona-Toten über 80 sind, dürfte dieser Effekt alleine die Folgen der dritten Welle deutlich unter die einer harten Grippewelle drücken.
Wir haben genug Probleme, das Land braucht jetzt alle Kräfte um die Lockdownfolgen in den Griff zu bekommen. Der Lockdown wurde als Maßnahme zur Zeitgewinnung eingeführt. Doch nach einem Jahr müssen wir keine Zeit mehr schinden, sondern endlich in eine langfristige Strategie umschwenken. Längst widerlegte Relikte aus dem Mittelalter müssen fallen – dafür brauchen wir keine Öffnungsperspektive, sondern Öffnungen.