Lange schien die Inzidenz trotz offensichtlicher Nichteignung das Hauptkriterium der Pandemie zu bleiben; ungeachtet der Todeszahlen, ungeachtet der Probleme mit den Tests, ungeachtet der Infektiosität. Plötzlich rücken aber immer mehr Politiker von Merkels Lieblingszahl ab: Jens Spahn sagte, die Inzidenz werde mit weiter fortschreitender Impfkampagne „immer weniger aussagekräftig“. Kanzleramtschef Braun äußerte sich ähnlich – zwar würden die Inzidenzwerte weiterhin eine Rolle spielen, „aber wenn wir jetzt in der Situation sind, dass eine hohe Zahl von Bürgern geimpft ist, müssen wir natürlich weitere Faktoren einbeziehen.“ Selbst der Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis prognostizierte, dass bei steigender Impfquote sich die Inzidenz von der Zahl der Corona-Intensivpatienten ein Stückweit entkoppeln werde: „Wir rechnen damit, dass die Inzidenzwerte im Herbst, wie in England aktuell schon der Fall, stärker steigen werden als die Zahl der Intensivpatienten“ sagte er der Rheinischen Post.
Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Corona-Einschränkungen sind nicht mehr zu begründen: Wenn die Impfung wirkt, dann braucht es keinen Lockdown mehr, wenn die Impfung nicht wirkt, ist der Lockdown ohnehin sinnlos, da sein einziger Zweck ist, die Infektionen bis zur Impfung zu verschleppen.
Merkels Ehrenrunde
Und so windet man sich nun, um dann doch wieder einschränken zu können. Ein Szenario: Der Lockdown kommt wieder, aber nur für Ungeimpfte. Das wäre zwar weder epidemiologisch sinnvoll, noch wäre es mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz vereinbar, aber es wäre wohl ein wenig mehrheitsfähiger und etlichen (geimpften) Journalisten, dürfte das auch eher zusagen. Dazu würde auch Merkels alte Idee wieder passen, dass man die Inzidenz in Zukunft nur noch auf die ungeimpfte Bevölkerung bezogen rechnet – dann bleibt sie weit oben.
Spätestens im Herbst wird man die Ergebnisse dieser Weichenstellungen sehen können. Denn auch nach der Wahl wird Merkel und ihre Lockdown-Regierung erstmal weiter regieren. Und sie werden womöglich versuchen, einen neuen Lockdown auf den Weg zu bringen: Alles andere wäre schon ein halbes Fehlereingeständnis, eine späte Revision. Außerdem kann Merkel mit dem Lockdown Nummer Vier eine Art Ehrenrunde drehen und Armin Laschet den Start ins Amt erschweren.