Lange galten Vergleiche zwischen Corona und der Grippe als Verharmlosung an der Grenze zur Verschwörungstheorie. Dabei ist der Vergleich eigentlich überhaupt nicht verharmlosend: Denn die Grippe ist für Risikogruppen alles andere als ungefährlich. Man muss nur mit Krankenhausmitarbeitern sprechen: Auch in den letzten Jahren sorgten die Influenza-Wellen für Schwierigkeiten auf den Stationen (siehe TE-Bericht). Grippe-Wellen forderten in Deutschland Tausende Todesopfer – zuletzt in der schweren Saison 2017/2018 rund 25.000.
Nun warnt auch das RKI vor den Problemen. Bereits im Juli schrieb man in einem Papier: „Erschwerend ist im Herbst ein paralleler Anstieg von SARS-CoV-2, Influenza, und RSV aufgrund der reduzierten Grundimmunität (ausgebliebene Booster-Infektionen für Influenza und RSV) der letzten beiden Saisons zu erwarten; das gemeinsame Auftreten dieser Infektionskrankheiten kann zu einer deutlichen Gesundheitsbelastung durch die Erkrankungen selbst und zusätzlich durch sekundäre Pneumonien führen; Präventions- und Versorgungsmöglichkeiten zu Influenza, RSV-Erkrankungen und Pneumonien, insbesondere bei Kindern und in der älteren Bevölkerung sollten vorbereitet werden (Influenza-Impfung, passiver Schutz gegen RSV, Impfung gegen Pneumokokken und Meningokokken etc.) Impfstoffe sollten frühzeitig bestellt, gelagert und eine umfangreiche Informationskampagne initiiert werden.“ (TE berichtete).
Jetzt erhöht Spahn das Tempo, ruft dazu auf, sich gegen die Grippe impfen zu lassen. „Doppelt Impfen-Gehen führt auch zu doppeltem Schutz“, so die Devise. RKI-Chef Lothar Wieler meint, für Risikogruppen würde von beiden Krankheiten – Influenza und Corona – eine große Gefahr ausgehen. Das Argument: Durch den Lockdown im letzten Winter sei die Grippe-Welle ausgeblieben, die Immunitäten daher schwach.
Ob das zutreffend ist, ist offen. Anders als bei Corona gibt es für Influenza keine detaillierte Statistik. Tests werden nur in Ausnahmefällen durchgeführt. Das RKI schätzt die Fallzahlen der letzten Influenza-Wellen lediglich, die gemeldeten Influenza-Todeszahlen basieren auf der allgemeinen Übersterblichkeit. Solche Schätzungen sind im Corona-Jahr nochmal erschwert. Faktisch dürfte das RKI nur eine sehr grobe Ahnung haben, wie schwer die Influenza-Welle im letzten Winter ausgefallen ist.
Ein Umdenken in der Corona-Politik müsste die Schlussfolgerung sein
Der grundsätzliche Effekt mag aber zutreffen: Die abgebauten Immunitäten können dieses Jahr tatsächlich zu einem Problem werden – insbesondere in den Schulen klagen Lehrer bereits jetzt immer öfter über erhöhte Erkrankungen der Schüler.
Das ist die Kehrseite des Lockdowns. Im Februar dieses Jahres wies der Molekularbiologe Professor Wolf-Dieter Schleuning bei TE bereits auf dieses Problem hin: Durch den allgemeinen Lockdown werden vor allem Infektionen außerhalb der Hochrisikogruppen verhindert – so wird die Möglichkeit verbaut, Risikogruppen durch natürliche Immunitäten in der Durchschnittsbevölkerung zu schützen. Der Lockdown wirkt eben nicht spezifisch: Während die Infektionszahlen bei jüngeren Menschen durch Schul- und Geschäftsschließungen möglicherweise nach unten gedrückt werden konnten, konnte sich das Virus letzten Winter fast ungebrochen in Altersheimen ausbreiten – mit verhängnisvollen Folgen. Für Influenza gilt diese negative Wirkung des Lockdowns genauso.
Unfreiwillig bestätigen RKI und Bundesgesundheitsministerium durch diese Aussagen ein ganz anderes Bild der Corona-Gefahr: Nämlich, dass das Problem nicht in erster Linie durch die speziellen Eigenschaften dieses einen Virus entsteht, sondern vielmehr durch strukturelle gesellschaftliche Entwicklungen, die zu einer erhöhten Gefahr durch ganz verschiedene Virus-Erkrankungen führen. In einer alternden Gesellschaft sorgt eben selbst die herkömmliche Grippe für zunehmend ernsthafte Probleme – dazu kommt ein kriselndes Gesundheits- und Pflegesystem.
Diese nicht unplausible Einschätzung der Lage müsste vor allem aber zu einem Umdenken in der Corona-Politik führen: Denn man kann gegen diese Gefahr eben nicht ankämpfen durch den Versuch, dieses eine spezielle Virus auszulöschen, sondern nur, indem man die strukturellen Probleme löst. Das bedeutet: Statt Lockdown und Impfzwang müsste man auf Ausbau der Krankenhaus- und Pflegekapazitäten setzen sowie auf spezifische Hygienekonzepte in Pflegeheimen. Doch ausgerechnet hier unternahm die Politik in der Corona-Zeit kaum wesentliche Schritte – mit potenziell schwerwiegenden Folgen.