Tichys Einblick
Corona-Politik-Krise

Die Trägheit des Systems und seiner Bürokratie ist der stärkste Verbündete des Virus

Wolfgang Schäuble räumt ein, dass man die bereits 2012 erfolgten Warnungen vor einer Pandemie und damit verbunden die Defizite des deutschen Gesundheitssystems nicht ausreichend beachtet hätte. TE hatte darüber und die damit zusammenhängende Studie aus dem BMI früh berichtet.

imago images / photothek

Als unlängst einige Journalisten der Kanzlerin ein paar kritische Fragen zur bisherigen Handhabung der Coronakrise stellten, fertigte Merkel diese in gewohnter Weise ab. Man habe jetzt keine Zeit, lange über das gestern zu diskutieren – die vor uns liegenden schweren Herausforderungen bestimmten die Tagesordnung. Diese Art, jede kritische Diskussion abzuwürgen, ist für Merkel nicht neu. Bis heute wartet die CDU, oder besser hat sie die Hoffnung aufgegeben auf eine Antwort auf den dauerhaften Wählerrückgang von Bundestagswahl zu Bundestagswahl. Aus unerwünschter Selbstkritik wurde mittlerweile der Vorwurf der Majestätsbeleidigung.

Dies hat sich auch nicht geändert, seitdem der Union rechts eine Kraft in Gestalt der AfD erwachsen ist, deren Vertreter aus dem ehemaligen Herzen der Kohl-Union stammen. Ansonsten hat die Frau aus dem Osten es geschafft, dem Medikament Valium vergleichbar, das Gefühl einer Stabilität garantierenden, in ihrer Persönlichkeit begründeten Metaphysik über dem Land auszubreiten. Corona war zumindest für die Union ein Aufhalten des freien Falls. Nur was ist, wenn der Vorhang der Illusionen zerreisst und das ganze Dilemma der Corona-Politik schmerzhaft sichtbar wird?

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Der Reihe nach: Mit dem Auftauchen des asiatischen Virus zu Beginn des Jahres herrschte erst einmal Ratlosigkeit, die Kanzlerin tauchte ab, Stillstand und Beschwichtigung bestimmten die Lage. Dann das erste böse Erwachen: Allerorten fehlte es an Schutzkleidung und Masken zum Infektionsschutz. Nahezu einstimmig tönte es, Masken schützen nicht nur nicht, sie seien selbst Virenschleudern. Dann Kommando zurück.

Hatte man noch im Februar die letzte Teillieferung von 8,7 Tonnen Schutzmaterial nach China geschickt, begann jetzt ein weltweit überteuerter Einkauf, dessen Organisation wohl noch Untersuchungsausschüsse beschäftigen werden. Aber Not ist nun mal Not! Im März kam dann der erste Lockdown. Deutschland verfiel in Schockstarre. Eine Verschuldungsmanie zur Abmilderung der ökonomischen Folgen brach aus. Begleitet von einer flächendeckenden Medienkampagne zur Unterstützung der Regierungspolitik, obwohl die Zahl der Erkrankten – wohlgemerkt nicht der Infizierten – schon zu diesem Zeitpunkt überschaubar war.

Nun kam der Sommer und alles schien wieder früher. Nur dass jetzt die Maske, und das bis heute, zum ständigen Accessoire verordnet wurde. Ein Großteil der Intensivbetten blieb leer, deutlich über 400.000 Angestellte des Gesundheitswesens gingen in Kurzarbeit. Jetzt wäre eigentlich Zeit gewesen, sich auf die von allen erwartete zweite Welle der Pandemie vorzubereiten. Pflegepersonal anzuheuern und anzulernen, Intensivkapazitäten erhöhen. Bundesweit einheitliche Regelungen für die Kindertagesstätten und Schulen zu entwickeln. Und die Alten- und Pflegeheime auf die erforderlichen Standards zu bringen. Nichts davon geschah, das offizielle Berlin erholte sich im Urlaub.

Corona-Update 21.12.2020
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Mit der Rückkehr der Urlauber und der Nach-Ferien-Fröhlichkeit stieg die Zahl der positiv Getesteten wieder an und auch die Zahl der Erkrankten und schwereren Verläufe. Allerdings wurde das Verhältnis zwischen positiv Getesteten und tatsächlich Erkrankten und noch mehr der Verstorbenen so gut wie nicht in der Öffentlichkeit vermittelt. Plötzlich war sie wieder da. Die Bettenknappheit, das fehlende Personal, das Chaos an den Schulen und der Zusammenbruch wirtschaftlicher Existenzen. Allen betroffenen Unternehmern, insbesondere des Mittelstandes, werde schnell und unbürokratisch unter die Arme gegriffen, tönte der neue Vater des Wirtschaftswunders Peter Altmaier. Die Betroffenen warten bis heute.

Dann wurde der Lockdown ein weiteres Mal verschärft – und das auf jetzt unabsehbare Dauer. Dann, kurz vor Weihnachten, die „Erlösung“: Ein Impfstoff ist da, dazu noch entwickelt in Deutschland. Doch die Deutschen selbst staunen nicht schlecht, dass die ersten Impfungen in Großbritannien und dann in breiter Front in den USA stattfinden. Rasche Begründung lieferte Gesundheitsminister Jens Spahn. Der Test des Impfstoffs sei noch nicht abgeschlossen. Trump und Johnson gingen fahrlässig nach vorn, Europa nehme es genauer. Und trotzdem beschlich Einen der Eindruck, in Berlin sei man überrascht über dieses Jahresendgeschenk gewesen.

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Und siehe da, der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Plötzlich war nicht genügend Impfstoff vorhanden – hatte man vielleicht beim Einkauf versagt? Schnell war man mit der Erklärung bei der Hand, der Einkauf erfolge auf europäischer Ebene, um nationale Alleingänge wie die der Deutschen zu Beginn des Jahres zu vermeiden. Nur wer glaubt, die europäische Bürokratie mit 27 nationalen Bürokratien in Übereinstimmung zu bringen, glaubt auch als Erwachsener noch an den Weihnachtsmann und dass der Klapperstorch die Babys bringt. In einer zentralen Frage für die eh stark verunsicherte Bevölkerung drohte ein Fiasko.

Wo die Regierung doch eh schon beunruhigt ist über die zunehmenden Demonstrationen von Bürgern gegen die Staatsgängelei, die beim besten Willen nicht alle zu Nazis und Verrückten erklärt werden können, wie mittlerweile Untersuchungen belegen. Also nachbestellen. Kurz zog Bodennebel auf. Auf eigene Entscheidung oder doch europäisch. Die Lösung präsentierte Spahn dann zu Beginn dieser Woche: Nicht alle europäischen Partner hätten die Kontingente abgenommen. Hier konnte er nun zuschlagen. Also Chaos hoch neun – Fortsetzung folgt mit Sicherheit.

Plötzlich Milliarden für Pandemie-Vorsorge
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All das trägt natürlich nicht zur Aufrechterhaltung des Nimbus Merkel bei. Die kritischen Fragen werden sich häufen. Bemerkenswert ist, dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gegenüber der FAZ einräumte, dass man die bereits 2012 erfolgten Warnungen vor einer Pandemie und damit verbunden die Defizite des deutschen Gesundheitssystems nicht ausreichend beachtet hätte. Hier geht es jetzt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, Verantwortliche zu benennen und Handlungsstränge nachzuvollziehen.

Wie man hört, liegen im Kanzleramt auch konkrete Katastrophenszenarios für den Fall eines flächendeckenden Stromausfalls, Verseuchung der Trinkwasserreservoire und Naturkatastrophen vor. Es wäre höchste Zeit mal nachzufragen, wie hier der Status ist. Die Wahrheit muss auf den Tisch. Auch wenn sich dabei herausstellen sollte, dass der Chefredakteur der NZZ Eric Gujer Recht hat, wenn er am Wochenende schrieb: „Westeuropa hat nach Jahrzehnten im Wohlstand und Frieden den Notstand verlernt“. Die Trägheit des Systems und seiner Bürokratie sei der stärkste Verbündete des Virus. Bleibt die Frage – Schaffern wir das wirklich?

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