Aktuell überbieten sich die europäischen Staaten mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Unstrittig ist, dass die Maßnahmen zu einer erheblichen Schrumpfung der Wirtschaft, zu einem Anstieg der Konkurse und Arbeitslosigkeit führen — und das trotz der enormen zusätzlichen Staatsausgaben, die die Staatsverschuldung gefährlich erhöhen und die Geldmenge und damit das Risiko einer Hyperinflation nach oben treiben. Ebenfalls liegt nahe, dass die Maßnahmen zu sozialen Problemen führen, darunter Depressionen, häusliche Gewalt und entsprechenden Folgen beim Alkohol- oder Drogenkonsum sowie Suizid. Daher hier eine Betrachtung der Grundlagen für den Lockdown und alternativer Szenarien.
Unterscheiden wir zunächst 4 Krankheitsverläufe von Covid-19:
- Fast keine Symptome — dies trifft auf 50% der Bevölkerung zu, besonders auf junge und gesunde Menschen
- Mittlere Symptome, die einer normalen Infektionskrankheit entsprechen
- Notwendigkeit zur Hospitalisierung mit anschließender Heilung
- Versterben
Die letzten beiden Gruppen bezeichne ich im folgenden als Risikogruppe.
Die häufigsten Schätzungen gehen von einer Mortalität von 0,2% bis 0,5% aus. Im Zwergstaat San Marino und der italienischen Lombardei, zwei Corona-Hotspots, sind bisher bereits rund 0,12% der Bevölkerung dem Corona-Virus zum Opfer gefallen.
Wir sehen also, dass das Virus vor allem für vorerkrankte und ältere Menschen gefährlich wird, während sehr junge Menschen praktisch nicht und Erwerbstätige kaum betroffen sind.
Das Virus besiegen
Wie kann man das Virus besiegen, also dafür sorgen, dass durch SARS-CoV-2 keine Gefahr mehr droht? Grundsätzlich gibt es nur drei Methoden:
- Immunisierung durch Aktiv-Impfung
- Immunisierung durch Herdenimmunität
- „Aushungern“, also Ausbreitung komplett unterbinden
Sehen wir uns diese Maßnahmen hinsichtlich Machbarkeit und Auswirkungen an.
Die Impfung ist sicherlich das Mittel der Wahl. Allerdings gibt es noch keinen getesteten Impfstoff, erwartet wird er irgendwann zwischen September und März. Bis die Risikogruppe komplett geimpft ist, muss sich ein Land für eine andere Variante entscheiden.
Beim Aushungern muss die Anzahl der Folgeinfektionen pro Infiziertem (Reproduktionszahl) dauerhaft auf deutlich unter 1 gesenkt werden. Das ist grundsätzlich machbar und wird so von Singapur und Südkorea versucht. China behauptet, dies erreicht zu haben. Unumstritten setzt dieser Ansatz extreme Einschränkungen des öffentlichen Lebens voraus, wenn auch für die gesamte Bevölkerung nur für einen begrenzten Zeitraum. Für einen langen Zeitraum dagegen sind erforderlich eine sehr hohe Anzahl von Tests, eine durchgehende Nachverfolgung aller Kontakte, eine starke Überwachung der Bürger und beim Auftreten einer Neuinfektion eine Isolation oder Absperrung der betroffenen Region. Ob dieser Ansatz sinnvoll ist, ob er in einem Europa der offenen Grenzen funktioniert und ob dafür in Europa nicht schon der Zug abgefahren ist, kann diskutiert werden. Jedenfalls scheint keine Regierung in Europa diesen Ansatz zu verfolgen: Selbst nach 4 Wochen Lockdown lag die Reproduktionsrate in Deutschland Mitte April noch bei 0,8 — also müssen wir zum Aushungern den Lockdown sehr lange beibehalten; mit einer kleinen Lockerung und dann wieder Reproduktionsraten um 1 oder darüber geht die Durchseuchung wieder los.
Es wird also in Europa auf die Durchseuchung und dann Herdenimmunität hinauslaufen, auch wenn kaum ein Politiker diesen Begriff in den Mund nimmt — klingt ja auch total negativ mit „Seuche“. Die Idee dabei ist, dass einmal Infizierte immun sind und das Virus auch nicht mehr weitergeben. Sobald ein bestimmter Anteil der Bevölkerung infiziert war, man geht von zwei Dritteln aus, treffen wieder sehr selten Infizierte und Gesunde aufeinander, und das Virus kann sich nicht mehr verbreiten.
Zu langsame Ausbreitung?
Wenn man die Durchseuchung nicht verhindern kann oder will, stellt sich die Frage, ob und warum man sie überhaupt verlangsamen muss. Von Politikern ist oft zu vernehmen, dass man strikte Maßnahmen brauche, dass diese nie zu früh sein können und dass die Restriktionen um so eher gelockert werden können, je besser sich die Bevölkerung an die Maßnahmen halte. Für das Szenario „Aushungern“ sind diese Aussagen sicher korrekt.
Mit ein wenig Nachdenken kann man diese Aussagen für das Durchseuchungsszenario jedoch als falsch entlarven. Wenn man zu früh die Ausbreitung des Virus unterbindet, erhält man keine Herdenimmunität, und bei der ersten Lockerung der Einschränkungen gehen die Neuinfektionen wieder nach oben wie vorher. Das gleiche gilt, wenn die Maßnahmen zu streng sind und das exponentielle Wachstum zu langsam ist.
Rechnen wir das schnell mit einem Beispiel durch. Im Schweizer Kanton Solothurn wurden Geschäfte, Gastronomie und Schulen geschlossen bei 15 positiven Tests; mit einem großzügigen Faktor 10 für die Dunkelziffer ergeben sich 150 Infizierte, entsprechend 0,05% der Bevölkerung. Deutschland und Österreich haben ähnliche Maßnahmen bei ähnlich geringer Infektionsquote vorgenommen. Für eine Herdenimmunität mit bescheidenen 50% Geheilten benötigen wir somit einen Faktor 1000 bei den Infektionen, also rund 10 Verdoppelungen (2 hoch 10). Ohne Lockdown würden sich die Infektionen alle 4 Tage verdoppeln, wir müssten also 4 * 10 = 40 Tage warten. Durch den Lockdown dauert eine Verdoppelung 20 Tage mit stark steigender Tendenz, und wir müssen also über 20 * 10 = 200 Tage auf die Herdenimmunität warten. Erst dann kann man die Restriktionen wieder aufheben. Lockert man sie früher, steigen die Neuinfektionen wieder stark an.
Bleiben wir im obigen Beispiel des Kantons Solothurn. Geht man davon aus, dass jeder infizierte Schüler das Virus innerhalb einer Woche an drei Schüler weitergibt, verhindert die Schulschließung somit 3 * 0,05% = 0,15% Infektionen. Alle Schüler werden eine Woche ausgesperrt, um die Infektion von 0,15% aller Schüler zu verhindern. Anders gesagt: Die Vermeidung dieser 0,15% Infektionen wird somit mit einer Woche Schulschließung erkauft. Würde man bis zur Wiedereröffnung die gleichen Maßstäbe ansetzen, also die Schulen erst dann öffnen, wenn man mit dauerhaft weniger als 0,15% Neuinfektionen rechnet, müsste man eine bei der Lockdown-bedingten langsamen Ausbreitung des Virus sehr lange warten, bis wieder so wenige aktiv Infizierte auf Gesunde treffen, dass sich weniger als 0,15% infizieren.
Als erstes Fazit: Zu frühe oder zu restriktive Einschränkungen verlängern die gefährliche Phase mit vielen aktiv Infizierten, auch wenn sie natürlich das Maximum abflachen. D.h. es sind für einen längeren Zeitraum viele infektiöse Menschen unterwegs, wenn auch nicht so viele gleichzeitig. Wenn man für das Aufheben der Maßnahmen die gleichen Maßstäbe wie für das Einleiten der Maßnahmen anlegt, dauern die Maßnahmen um so länger, je restriktiver sie sind und je früher sie begonnen werden.
Aktuell kündigen ja erste Staaten eine Lockerung der Maßnahmen an mit der Begründung, die Maßnahmen hätten gewirkt und die Bevölkerung hätte kooperiert. Ist das Problem also gelöst? Nein. Zwar sank durch den Lockdown die Reproduktionzahl in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter 1. Vielleicht ist sogar die Anzahl der infektiösen Personen etwas niedriger als zum Beginn des Lockdowns. Es gibt jetzt aber keine neuen Behandlungs- oder Diagnosemöglichkeiten. Wenn der vollständige Lockdown die richtige Maßnahme war, wären wir eine oder zwei Wochen nach der Aufhebung wieder an der gleichen Stelle und brauchen einen neuen Lockdown.
Sind denn Deutschland, Österreich oder der Schweiz knapp einer Katastrophe entkommen? Gewiss nicht. Zum Beispiel war die Krankenhausauslastung in Österreich in der Spitze bei einem Drittel. Im besonders belasteten schweizer Kanton Tessin lag die maximale Auslastung bei zwei Dritteln, und das ohne nennenswerte Verlagerungen von Patienten in die weniger betroffene Deutschschweiz, wo die Spitäler sogar Kurzarbeit angemeldet haben.
Insofern ist die angekündigte Lockerung nur eine Korrektur einer falschen Entscheidung. Natürlich ist man hinterher immer schlauer, sollte das dann aber auch so kommunizieren. Wer den Lockdown hingegen auch rückblickend als alternativlos darstellt, muss logischerweise bei der zweiten Welle der Infektionen auch einen zweiten Lockdown fordern – oder sollte gleich ehrlich sagen, dass der Lockdown bis zur Verfügbarkeit des Impfstoffs anhält.
Zu schnelle Ausbreitung?
Wie wir sehen, verlängert eine zu langsame Ausbreitung im Durchseuchungsszenario die volkswirtschaftlichen und soziale Schäden unnötig. Gibt es auch eine zu schnelle Ausbreitung? Sehen wir uns dazu die Patientengruppierungen an, und betrachten wir sie zunächst isoliert.
Für die Gruppe mit den milden Symptomen gibt es keinen Grund, die Infektionen zu verlangsamen.
Für die normal erkrankenden Patienten ist eine gewisse Beschränkung sinnvoll. Hier trifft man vor allem die arbeitende Bevölkerung an, von der nicht alle gleichzeitig krank sein sollten, insbesondere in relevanten Berufen wie Polizei (wäre halb so wild, wenn die Bösewichte gleichzeitig flachliegen) oder erst recht Angestellte im Gesundheitssystem. Allerdings wäre es unlogisch, die nicht in den relevanten Bereichen arbeitende Bevölkerung durch einen Lockdown, also quasi Arbeitsverbote, vor krankheitsbedingten Arbeitsausfällen zu schützen. Das hieße ja faktisch: „Wir wollen verhindern, dass Menschen wegen Krankheit nicht arbeiten können, also unterbinden wir ihre Arbeit“.
Die besten Gründe für die Beschränkung liefert aber die oben genannte Risikogruppe, die hospitalisiert werden muss. Hier gibt es Engpassressourcen im Gesundheitssystem (ob es Beatmungsgeräte, Intensiv-Betten, Ärzte oder Pflegekräfte sind, ist dabei irrelevant). Wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt, werden einige Patienten nicht mehr behandelt. Dies würde zur viel zitierten Triage führen, dazu später mehr.
Ein weiterer Grund für die Verlangsamung der Ausbreitung unter de Risikogruppe ist die Hoffnung auf medizinischen Fortschritt, vor allem aktive Impfung, Tests und besser auf Corona angepasste Behandlungsmethoden (Intubation oder eben gerade keine Intubation, Medikamente, passive Impfung usw.). Idealerweise verschont man die Risikogruppen bis zur Verfügbarkeit des Impfstoffs komplett vom Virus.
Soweit die isolierte Betrachtung der Gruppen. Nun sind die Infektionsraten der Gruppen aber nicht völlig unabhängig voneinander. Da innerhalb einer Familie das Virus nicht zu stoppen ist und in der ersten Gruppe viele Kinder und in der zweiten viele Eltern sind, ist die Infektionsrate dieser beiden Gruppen praktisch identisch. Ob der Papa das Virus aus der Arbeit mitbringt oder die Tochter aus der Schule, spielt keine Rolle, letztlich infiziert sich die ganze Familie.
Die Gruppe der Risikopatienten könnte aber isoliert werden und somit eine deutlich andere Infektionsrate als die der ersten beiden Gruppen haben. Sicherlich sind die Infektionsraten nicht komplett unabhängig, denn in Seniorenheimen oder Arztpraxen begegnen sich die Gruppen sehr wohl. Dennoch könnten die Infektionsraten deutlich unterschiedlich ausfallen. Wo Menschen mit hohem und niedrigem Risiko zusammen wohnen, sind eben beide als Risikogruppe zu betrachten: Der junge Mann, der bei seiner betagten und vorerkrankten Mutter lebt, muss natürlich genau so isoliert werden wie seine Mutter — oder temporär aus dem Hotel Mama ausziehen.
Szenario unterschiedlichen Infektionsraten
Spielen wir das Szenario der unterschiedlichen Infektionsraten einmal durch:
Wir lassen eine Durchseuchung der ersten beiden Gruppen innerhalb von wenigen Monaten zu. Das wäre mit deutlich milderen Beschränkungen des öffentlichen Lebens und vor allem der Wirtschaft möglich als derzeit praktiziert. Ohne Einschränkungen wird es nicht gehen; wilde Parties in überfüllten Apres-Ski-Lokalen wie in Ischgl und Karnevalsfeiern wie in Nordrhein-Westfalen sind nicht drin. Musik muss im öffentlichen Raum verboten werden, damit sich Menschen nicht aus nächster Nähe anschreien, um verstanden zu werden. Aber Geschäfte und Lokale könnten öffnen, wenn man die Anzahl der Besucher pro qm begrenzt. Selbst Fußballstadien und Kinos könnten öffnen, wenn nur jeder zweite Platz benutzt werden darf. Bei den Schulen könnte man vorsichtshalber die Hälfte der Klasse mit einem Platz Abstand unterrichten, und die nächste Woche wäre dann die andere Hälfte der Klasse dran. Desinfektionsmittel sollten überall bereitstehen, Handschütteln bleibt natürlich tabu. Frisöre müssten Schutzmasken verwenden, Personen in öffentlichen Verkehrsmitteln auch usw. Die genauen Maßnahmen sollten anhand einer Kosten-Nutzen-Betrachtung oder vielmehr Schaden-Infektionsverhinderungs-Betrachtung ermittelt werden (auf der die Schließung von Zoos und Geschäften sicherlich katastrophal schlecht abschneidet).
In dieser Zeit müsste die Risikogruppe mit noch höherem Aufwand isoliert werden, da junge Erwachsene mit höherer Wahrscheinlichkeit infiziert sind. Beispielsweise müssten Polizei und notfalls die Armee Senioren ansprechen und z.B. Platzverweise aussprechen, Einlass in Geschäfte oder Züge verwehren. Natürlich erfordert das auch eine Verfassungsänderung, da man ansonsten gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Nach Ablauf der drei Monate wären Begegnungen der beiden Gruppen wieder risikoärmer als vorher, da die Jungen immun sind. In Summe würden nicht mehr Menschen aus der Risikogruppe infiziert als in einem Szenario mit gleicher, niedriger Infektionsrate für alle.
Nun kommt sicher der Einwand, dass eine komplette Isolierung nicht machbar ist, da alleinstehende Senioren ja doch einkaufen müssen und doch irgendwann andere Menschen treffen wollen. Eine konsequente Trennung wäre aber leichter, wenn sie klar auf wenige Wochen oder Monate begrenzt wäre. Durch den Lockdown in den europäischen Staaten müssen Menschen aus der Risikogruppe bis zur Impfung, also rund ein Jahr, isoliert werden — dann doch lieber nur drei Monate und noch einen Tick konsequenter. Und die Versorgung der Risikogruppen sollte in entwickelten Staaten wie Deutschland möglich sein. Wozu hat Deutschland ein Militär, zum Kämpfen jedenfalls nicht. Und am Budget kann es nicht scheitern; für den Preis des Lockdowns könnte man alle Senioren mit Sterneküche frei Haus versorgen.
Wirtschaftlich hätte ein solches Szenario einen enormen Vorteil: Die arbeitende Bevölkerung gehört einer der ersten beiden Gruppen an und unterläge nur geringen Einschränkungen. Die wirtschaftlichen Einbußen wären also überschaubar.
Der Idealkorridor
Als Fazit können wir festhalten: Zu frühe und zu restriktive Einschränkungen steigern die wirtschaftlichen Verluste und sonstigen Nebenwirkungen, und zu schnelle Ausbreitung des Virus in der Risikogruppe kann zu einer Überlastung der Krankenhäuser führen. Es gibt somit einen Idealkorridor für die Verbreitung des Virus.
Daraus folgt auch, dass die Maßnahmen regional zu entscheiden sind. Eine Region mit vielen und stark zunehmenden Infektionen muss stärker gegängelt werden als eine Region mit wenigen Infektionen oder eine Region mit schon fortgeschrittener Herdenimmunität. Leider wird auch dieses Prinzip von den Regierungen ignoriert, zu sehr wollen Politiker „einheitliche“ Maßnahmen oder „Klarheit“ schaffen. So kommt es, dass das stark betroffene Tessin fast gleich behandelt wurde wie die nördlichen Schweizer Kantone mit weniger als einem Zehntel der Tessiner Infektionsquoten. Richtig kann diese Entscheidung nicht sein, entweder war der Lockdown im Tessin zu spät oder in der Nordschweiz zu früh. Natürlich kann man nicht in einer Region Geschäfte schließen und die Menschen der Region dann in anderen Regionen einkaufen lassen. Aber die Schließung der Geschäfte ist ja ohnehin eine der brutalsten Maßnahmen, und wenn man die ergreift, kann man auch in den anderen Regionen Ausweise kontrollieren und Auswärtige abweisen — oder eben Personen gar nicht erst einreisen lassen. Regionale Schulschließungen sind dagegen problemlos durchführbar.
Schrecken Triage?
Medien und Politiker argumentieren, dass die Krankenhaus-Ressourcen, insbesondere die knappen Intensivbetten der Hauptgrund für den Lockdown sind. Die entscheidende Frage, die überhaupt nicht diskutiert wird, ist ja doch: Wie viele Patienten retten wir damit, also welcher Anteil der hospitalisierten Personen überlebt, der ohne intensivmedizinische Versorgung verstorben wäre? Wie lange leben diese Überlebenden danach und in welchem Zustand? Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens erfolgen, als würde die Beatmung fast alle Patienten retten, die dann wieder quietschfidel Jahrzehnte weiterleben. Das dürfte ganz sicher nicht der Fall sein. Aus den verzweifelten Berichten der Ärzte im italienischen Cremona erfährt man, dass nur wenige Patienten der Intensivstation gerettet werden, Berichte gehen von 10% bis 20% Überlebenden aus. Eine chinesische Studie spricht von 3% Geheilten. Ein schweizer Mediziner schätzt, dass 20% der betagten Covid-19-Patienten die Intensivstation nicht überleben.
Für den Zustand der Patienten nach einer erfolgreichen intensivmedizinischen Behandlung liegen mir für Covid-19-Patienten keine Informationen vor. Die Tatsache, dass bei den Patienten zeitweise zu wenig Sauerstoff im Blut und somit im Hirn ist, stimmt jedoch bedenklich. Nimmt man als Vergleich ARDS, eine Lungenkrankheit mit ähnlichem Verlauf wie Covid-19, erfährt man folgende bittere Wahrheit: 50% der Überlebenden erleiden kognitive Defizite, 60% körperliche Schäden, 60% psychische Störungen. Wie diese Schäden korrelieren, entzieht sich meiner Kenntnis, im besten Fall sind 40% der Überlebenden von keinem der Schäden betroffen, es könnten aber deutlich weniger sein.
Wenn das für Covid-19 ähnlich wäre, hieße das für mich als altem, durch Krankheiten vorbelasteten Covid-19-Patienten: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich die Klinik im gleichen Zustand verlasse, den ich vor der Infektion hatte, liegt vermutlich irgendwo zwischen 1% und 20%, vermutlich eher in der Mitte. Viele Patienten werden trotz dieser Aussichten kämpfen wollen. Andere würden eher ein würdevolles Ableben in den eigenen vier Wänden und unterstützt durch Palliativmedizin bevorzugen. Bekommt heute jeder Patient die nötigen Informationen, um für sich die richtige Entscheidung zu treffen? Ermuntert man entsprechende Patientenverfügungen? Oder wird auf Teufel-komm-raus intensivmedizinisch behandelt? Finanziell ist für die Kliniken sicherlich letzteres interessanter.
Sehen wir uns noch in dem Zusammenhang die Triage an. Viele stellen sich vielleicht vor, dass hier ein Arzt einem Patienten die Behandlung verweigert und somit ein Todesurteil über einen ansonsten zu Heilenden spricht. Wir wissen aber, dass überwiegend sehr alte und vorerkrankte Patienten sterben. Bei der Triage würden von diesen ohnehin kranken Menschen nur die krankesten betroffen sein, denen Ärzte praktisch keine Chance mehr geben und die auch ohne Covid-19 dem Ende nah waren, die somit Covid-19 vermutlich auch mit Behandlung nicht überleben. Wenn 80% der Behandelten ohnehin versterben, führt eine Triage, bei der 10% der Patienten nicht behandelt werden, überhaupt zu einem nennenswerten Anstieg der Sterblichkeit im Vergleich zu einem Szenario ohne Triage? Vermutlich nicht, denn es würden ja nur diejenigen Patienten unnötig sterben, bei denen der Arzt zu pessimistisch war (die 10% sind Teil der ohnehin sterbenden 80%). Zu deutlich mehr Todesfällen führt die Triage erst dann, wenn der Anteil der nicht behandelten Patienten in der Größenordnung der ohnehin Versterbenden liegt, sprich: Wenn 20% der hospitalisierten Patienten normalerweise geheilt würden, wenn aber mehr als 80% der Patienten die Behandlung nicht zuteil kommt, sterben durch die Triage mehr Menschen.
Lebensjahre und Vergleich mit anderen Todesursachen
Ich hatte erwähnt, dass die in Italien Verstorbenen ein Durchschnittsalter von 81 Jahren hatten und meistens unter mehreren Vorerkrankungen litten. Bei diesen Zahlen drängt sich die Frage auf, wie lange diese Patienten ohne Infektion gelebt hätten. Ein 80jähriger Mann hat noch eine Lebenserwartung von 8 Jahren. Für die Patienten mit mehreren Vorerkrankungen dürfte die Lebenserwartung deutlich niedriger sein. Ein Hamburger Gerichtsmediziner nennt Covid-19 bei den von ihm obduzierten Patienten „den letzten Tropfen“ im Fass. Wie viele dieser Patienten wären in diesem Jahr ohnehin verstorben?
Anfang 2021 werden wir schlauer sein. Wie sieht die Kurve der Sterblichkeit aus? Gibt es in 2020 einen starken, durch Corona verursachten Anstieg? Oder wird die leichte Erhöhung („Übersterblichkeit“) im Frühjahr durch eine ähnliche Senke im Sommer und Herbst wieder weitgehend ausgeglichen? Letzteres ist wahrscheinlicher, aber nur eines ist sicher: Der Anstieg der Arbeitslosigkeit durch den Lockdown wird erheblich und langfristig sein. Vielleicht schauen wir dann auf einen winzigen vorübergehenden Anstieg der Sterblichkeit und fragen uns: Und darum haben wir unsere Wirtschaft ruiniert, eine Massenarbeitslosigkeit ausgelöst, Personen in Depressionen gebracht?
Vergleichen wir doch mal den Verlust an Lebensjahren durch Corona mit dem durch andere Todesursachen: Nehmen wir an, durch SARS-CoV-2 sterben 0,5% der Bevölkerung zwei Jahre früher als ohne Infektion, wir verlieren also 1 Lebensjahr pro 100 Personen. Vergleichen wir das mit tödlichen Unfällen und Suiziden, die in Deutschland einen Anteil von 5% und 1% an allen Todesfällen haben. Jedes dieser Opfer verliert aber rund 50 Lebensjahre. Der Verlust an Lebensjahren liegt somit bei Unfällen bei 250 und beim Suizid bei 50 Lebensjahren pro 100 Personen. Selbst wenn die Mortalität bei Covid-19 durch Krankenhausüberlastung verdoppelt würde, sind Unfälle und Suizide um Welten bedrohlicher. Wieso führen wir also keinen dauerhaften Lockdown durch, um das Unfallrisiko für immer zu verringern? Wieso verpflichten wir nicht beispielsweise Autohersteller zum teuren Einbau aller erdenklichen Sicherheitsfunktionen auch bei Kleinstwägen und retten damit pro Euro mehr Menschenjahre? Wie sieht es mit flächendeckenden Sicherheitsleitplanken für Autos und Motorrädern aus, um nur noch ein mögliches Beispiel zu nennen? Und wenn die derzeitige Isolation das Suizid-Risiko erhöht, geht der Schuss mit dem Lockdown nicht nach hinten los?
Eigenverantwortung vs. Nanny-Staat
Letztlich stellt sich auch die Frage der Eigenverantwortung. Wollen wir die gesamte Gesellschaft einsperren, weil vorerkrankte Senioren gefährdet sind, und dabei die Wirtschaft nachhaltig ruinieren? Oder geben wir den Senioren für einen begrenzten Zeitraum die Verantwortung für eine Selbstisolation?
Mit welcher Begründung schränken die Regierungen eigentlich das öffentliche Leben ein, während bei einer Grippewelle alles normal weiterläuft? Geschieht das, weil Covid-19 eine um den Faktor vier höhere Mortalität als eine starke Influenza hat? Und was, wenn sich herausstellt, dass sie nur 1,5 mal so hoch ist? Hoppla, wäre alles nicht nötig gewesen! Warum sehen wir in 2020 im deutschen Fernsehen permanent Sterbenskranke und Leichentransporte, und warum hat das deutsche öffentlich-rechtliche (und somit doch hoffentlich nicht reißerisch-populistische) Fernsehen solche Bilder nicht bei der letzten Influenza-Welle vor drei Jahren gebracht, die in Deutschland rund 25 Tsd. Opfer gefordert hat?
Mit welcher Begründung müssen jetzt nicht gefährdete Personen massive Opfer bringen, während bei anderen ansteckenden Krankheiten der Infektionsschutz dem Gefährdeten obliegt? Wer Angst vor einer Grippe hat, muss sich selbst schützen. Wieso sollte das bei Corona anders sein?
Die neue Gefahr und die Macht der Virologen …
Das Corona-Virus scheint neu; Politikern und Medienschaffenden fehlt die Einschätzung, wie gefährlich es ist. In dieser Situation verlässt man sich komplett auf die Wissenschaftler. Fragt man nun einen Virologen oder Epidemiologen, wie das Virus gestoppt werden kann, erhält man als korrekte Antwort „Lockdown“. Würde man einen Internisten nach Organschäden fragen, wäre die Antwort „Alkoholverbot“, ein Unfallchirurg würde als Maßnahme sicherlich „Auto- und Motorradverbot plus Verbot von Erntemaschinen“, ein Pneumologe „Zigarettenverbot“ nennen. Alle diese Antworten sind richtig, alle diese Maßnahmen helfen. Menschen wissen aber bei den alten „Lastern“ und bewährten Techniken, dass es keinen kompletten Schutz gibt, dass das Restrisiko akzeptiert werden muss aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. Diese Verhältnismäßigkeit fehlt bei Corona.
Hinzu kommt die Gewalt der Bilder gegen die Abstraktheit der Zahlen und das menschliche Naturell, das Unbekanntes nicht in die Zukunft projizieren kann. Die Lombardei hat zu lange mit Maßnahmen gewartet, angesichts zunächst nur sehr weniger Todesfälle. Das exponentielle Wachstum war zu abstrakt um zu realisieren, was sich trotz zunächst nur weniger Toter anbahnt. Danach regierten die Bilder italienischer Särge, und der Wettlauf um die schärfsten Maßnahmen begann. Die milliardenschweren Hilfsprogramme für die Wirtschaft sind wieder zu abstrakt, als dass die Bevölkerung merkt, welche Gefahr sie bergen. Und wenn die Bilder der Schlangen vor den Arbeitsämtern erscheinen, ist es zu spät für ein Gegensteuern.
Viele Politiker und Medien agieren wie im Wahn. Zunächst wurde zur Maxime erhoben, möglichst viele Menschen zu retten. Schon da fehlte die Verhältnismäßigkeit. Danach wurde postuliert, dass Infektionen verhindert werden müssen, um Menschen zu retten. Seitdem ist das Verhindern von Infektionen zur Maxime geworden und hat sich komplett abgekoppelt vom eigentlichen Ziel. Das müsste lauten: mit vertretbarem Aufwand möglichst wenige Lebensjahre in der Gesellschaft durch Corona zu verlieren.
… und die Wissenschaftler?
Warum man Aussagen der Wissenschaftler immer hinterfragen sollte, möchte ich nur an einem Beispiel schildern. Schwedische Wissenschaftler haben Ihre Regierung für aus ihrer Sicht zu lasche Maßnahmen gegen Corona kritisiert. Als Beleg diente ihnen die Anzahl an Covid-19 innerhalb einiger Tage Anfang April Verstorbener. Diese lag für Schweden etwas über der Italiens und um den Faktor 4 bis 10 über der anderer skandinavischer Staaten, vor allem Finnland. Die haarsträubende Schlussfolgerung der Wissenschaftler: In Schweden stürben zehnmal so viele Menschen wie in Finnland, also müsse ein Lockdown erfolgen. Dass Italien das Schlimmste hinter sich hat, dass dort logischerweise wieder weniger Menschen sterben, erwähnen die Wissenschaftlicher nicht. Verschwiegen wird auch, dass bei einer schnelleren Ausbreitung in Schweden logischerweise pro Woche mehr Personen sterben als in Finnland, da beide Staaten noch am Anfang der Durchseuchung sind, Schweden nur etwas weiter ist. Abgerechnet wird aber am Schluss, und das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Finnland die Opferzahlen später wieder aufholt. Wirklich mehr Opfer hätte Schweden nur, wenn man extrem vielen Patienten die Behandlung verweigern muss und dies in Finnland nicht passiert. Danach sieht es aber nicht aus. Oder gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die Finnen den Lockdown bis zur Durchimpfung frühestens im Herbst aufrechterhalten? Oder davon, dass in Kürze ein Wundermittel auf den Markt kommt, gerade rechtzeitig für die bis dahin von der Infektion verschonten Finnen? Dann sollten sie es aber auch sagen, damit jeder die Voraussetzungen kennt. So oder so, die Aussage von zehnmal mehr Toten ist hochgradig unseriös.
Zusammenfassung
Eine Durchseuchung der Bevölkerung ist in Europa nicht realistisch vermeidbar und wird von keiner Regierung konsequent angestrebt. Alle Maßnahmen drehen sich ausschließlich um die Ausbreitungsgeschwindigkeit.
Je schneller die Ausbreitung, um so eher ist die Krise überstanden, allerdings muss die Ausbreitung für alle Menschen zumindest leicht gebremst werden, was aber mit einfachen Hygiene- und Distanzregeln ohne die Kollateralschäden eines mehrmonatigen Lockdowns funktioniert.
Alle Maßnahmen müssen regional entschieden werden. Mann kann nicht Regionen mit vielen und solche mit wenigen aktiv Infizierten über einen Kamm scheren.
Angehörige der Hochrisikogruppe müssen möglichst komplett vor dem Virus geschützt werden, bis der Impfstoff zur Verfügung steht oder die restliche Bevölkerung immunisiert ist, auch im Hinblick auf zukünftig bessere Behandlungsmöglichkeiten.
Eine Isolation der Hochrisikogruppe ist möglich, sie kann um so konsequenter eingehalten werden, je kürzer der Zeitraum ist. Es ist nicht wahrscheinlich, dass eine extrem verlangsamte Ausbreitung des Virus in der Gruppe mit niedrigem Risiko die gesamte Anzahl der Infektionen in der Hochrisikogruppe deutlich reduziert.
Corona gefährdet vor allem alte, stark vorerkrankte Patienten. Die Gesellschaft verliert durch Covid-19 nicht viele Lebensjahre, vernachlässigbar wenige vor allem im Vergleich mit anderen Todesfällen wie Unfällen oder Suiziden. Die Maßnahmen zu letzteren Todesfällen sind aber lächerlich im Vergleich zu den radikalen Maßnahmen und Kollateralschäden bei Corona.
Nur ein sehr geringer Anteil der intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Patienten wird durch die Behandlung ohne Folgeschäden geheilt.
Eine begrenzte Triage betrifft vor allem Menschen, die auch mit Behandlung nur geringe Chancen auf komplette Genesung ohne Folgeschäden haben, und kostet voraussichtlich sehr wenige oder keine Menschenleben im Vergleich zu unbegrenzter intensivmedizinischer Behandlung.
In Summe kann man nur feststellen, dass die Maßnahmen gegen Corona völlig überzogen und durch nichts zu rechtfertigen sind. Die Rechnung dafür müssen die europäischen Bürger bezahlen.
Martin Engelhardt