Tichys Einblick
Soziale Distanzierung hilft nicht

Corona: Isoliert das Virus, nicht die Gesellschaft!  

"Soziale Distanzierung" gilt den Mächtigen als Mittel in der Coronakrise. Doch könnte dieser Preis für eine Reduzierung der Infektionsrate am Ende untragbar hoch sein. Es wäre klüger, nicht die Menschen wegen ihres Verhaltens zu bekämpfen, sondern das Virus selbst. 

imago Images

Ein Tiger im Käfig ist zweifellos ein Risiko. Eine Gefahr aber besteht erst dann, wenn er ausbricht. Auf die zurecht absurd erscheinende Idee, den Tiger freizulassen und stattdessen die Menschen in ihren Wohnungen einzusperren, käme dagegen wohl niemand. Und doch beschreibt genau dies die gegenwärtige Reaktion Deutschlands und einiger weiterer europäischer Staaten auf den Virus SARS-CoV-2, eingängiger auch als Coronavirus bezeichnet. 

Da maßen sich dann also die Bundes- und Landesregierungen tatsächlich an, soziale Kontakte im öffentlichen Bereich per allgemeiner Verfügung einzuschränken, beschließen mal eben ein Verbot öffentlicher Veranstaltungen, hebeln die Versammlungsfreiheit aus, schließen zahlreiche Geschäfte, verrammeln Bars, Kneipen und Diskotheken für den Publikumsverkehr und verbieten sogar das Betreten von Spielplätzen. Sport-, Schützen- und Gesangsvereine dürfen ebenso dichtmachen, wie Musik- und Volkshochschulen. Zu allem Überfluss versperrt man den Trostsuchenden nicht nur die Gotteshäuser, sondern auch die Bordelle. Fast gnädig mutet es schon an, wenn „Ansammlungen im Freien“ noch toleriert werden, solange sich weniger als zehn Personen begegnen und „private Veranstaltungen“ mit maximal fünfzig Gästen (also Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen und Geburtstage) bis auf weiteres nicht damit rechnen müssen, von Sondereinsatzkommandos der Polizei gesprengt zu werden. (Hinweis: Dies ist zumindest im Heimatland des Autors, in Niedersachsen, noch der Fall.)

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Und wer angesichts dieser von einem totalitären Anspruch der Exekutivorgane zeugenden Freiheitseinschränkungen, deren Überwachung zudem nur als möglich erachtet, wer schon in einem Polizeistaat zu leben glaubt, lautstarke Proteste der Bevölkerung, gar flächendeckenden zivilen Ungehorsam erwartet hat, sieht sich bitter enttäuscht. Online wie Offline herrscht fast nur großes Verständnis, wird weit überwiegend Einsicht in die Notwendigkeit solchen Vorgehens geäußert. Manche Kommentatoren bemängeln gar, dies wäre noch zu wenig, dies alles hätte schon viel früher geschehen müssen. Der entsprechende Aktivismus eines österreichischen Bundeskanzlers stößt hierzulande auf so viel Bewunderung, dass ein seiner eigenen Karriere verpflichteter bayerischer Ministerpräsident kaum anders als mit Nacheiferung reagieren kann. Was auch diesem wiederum den Beifall der Massen sichert. Das Herdenverhalten der Deutschen und ihre Obrigkeitsgläubigkeit erschrecken mehr als das Virus.

Einmal mehr ist es wie bei so vielen anderen Themen auch gelungen, die Differenz zwischen Gefahr und Risiko in der öffentlichen Kommunikation zu vernebeln, die wissenschaftliche Politikberatung als solche kaltzustellen und den Kollektivismus, für den die Rechte des Individuums grundsätzlich hinter den von wenigen Meinungsführern definierten „Interessen der Allgemeinheit“ zurückzustehen haben, als Maß der Dinge zu etablieren. Die Mechanismen, mit denen es Politik, Medien und einzelnen Experten geschafft haben, das „social-distancing“-Modell als einzigen noch verfügbaren Heilsbringer im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zu verankern, bedürfen einer näheren Betrachtung, sobald die mehr gefühlte denn reale Krise überwunden wurde. Bis dahin aber ist klarzustellen: Die wissenschaftliche Politikberatung trifft keine Entscheidungen. Noch legitimiert sie solche als alternativlos. Sie zeigt vielmehr unterschiedliche Optionen auf, die alle mehr oder weniger geeignet sind, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Welchen dieser Wege man dann einschlägt, bedarf einer politischen Bewertung und Entscheidung. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich durchaus eine gewisse Vielstimmigkeit im Chor der Virologen und Epidemiologen. Die Politik aus der Verantwortung zu entlassen, indem man nur die lauteste davon gelten lässt und damit eine spezifische Agenda als einzig wissenschaftlich determiniert rechtfertigt, stärkt letztendlich nur die Opportunisten an den Schaltstellen der Macht. Jene Kaste von Entscheidern, die sich darauf konzentriert, nicht das Richtige zu tun, sondern vielmehr das, was nicht als falsch kommentiert werden kann.

Die soziale Distanzierung durch eine behördlich verfügte Reduzierung zwischenmenschlicher Interaktion dient daher primär dem Ziel, das Gesundheitssystem nicht zu überfordern, um jahrelange Fehlsteuerungen und Fehlentwicklungen in diesem Bereich nicht sichtbar werden zu lassen. Ob es wirklich dazu beiträgt, Leben zu retten, ist offen und wird wohl auch rückwirkend niemals genau zu klären sein. Denn statt einen schnellen Anstieg der Infizierungen mit vielen gleichzeitig zu behandelnden Intensivpatienten in einen verlangsamten, sanften Verlauf zu verwandeln, könnte diese Taktik auch einen hohen und breiten Hügel produzieren. In dem die Zahl der schwer Erkrankten über einen längeren Zeitraum über der Grenze des Machbaren liegt und das öffentliche Leben nicht nur für Wochen, sondern für Monate lahmzulegen wäre. 

Teil 2 – Das „Überleben statt Freiheit“
Wie die Corona-Krise Social Fiction schafft (2)
Das Virus ist hochansteckend, schon eine kurze Begegnung genügt, um es zu übertragen. Es weist eine vergleichsweise lange Inkubationszeit auf, wer infiziert ist, bemerkt dies möglicherweise erst nach einer oder zwei Wochen und hat es bis dahin unwissentlich weiterverbreitet. Und SARS-CoV-2 stellt für einen erklecklichen Anteil der Bevölkerung eine erhebliche Gesundheitsgefährdung dar. Aus der Verbindung dieser drei Faktoren entsteht eine ernsthafte Bedrohung, wie sie moderne Gesellschaften bislang nicht kannten. Über kurz oder lang, so urteilen viele Fachleute, werden sechzig bis siebzig Prozent der Menschen in Deutschland das Virus tragen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis verläuft eine Infektion zwar in achtzig Prozent der Fälle harmlos. Aber das Augenmerk sollte auf den fünf Prozent der Erkrankten liegen, die einer intensivmedizinischen Betreuung bedürfen. Denn es könnte sich allein in Deutschland um 2,5 Millionen Fälle handeln. Bei nur rund 25.000 verfügbaren, entsprechend eingerichteten Krankenhausplätzen wäre die soziale Distanzierung über knapp vier Jahre aufrecht zu erhalten, damit jeder dieser Patienten mindestens zwei Wochen adäquat behandelt werden könnte. So es denn überhaupt gelingt, durch Ausgangssperren, Geschäftsschließungen und Veranstaltungsverbote die Ansteckungsrate entsprechend zu verlangsamen. Das Beispiel Italien jedenfalls lässt selbst an dieser Hoffnung zweifeln. Schließlich gedeiht das Virus dort offensichtlich auch in den von der Außenwelt abgeschotteten Familien und Nachbarschaften. In einer räumlichen Isolation, in dem es erstens ebenfalls viele Menschen tötet und aus der es zweitens jederzeit wieder ausbrechen kann.  

Wie diese simple Abschätzung zeigt, gib es nur einen Weg, mit dem Tiger SARS-CoV-2 umzugehen. Wenn man ihn nicht erschießen kann und so lange er seine Reißzähne und Klauen noch hat, muss man das unersättliche Biest wieder einfangen und einsperren. Dazu gilt es herauszufinden, wo es sich aufhält. Flächendeckende, regelmäßige Tests in großem Umfang sind erforderlich, um die Ausbreitung des Erregers zu sehen und nachvollziehen zu können. Wer infiziert ist, gehört sofort in die vierzehntägige Quarantäne, und zwar nicht in der eigenen Wohnung, sondern isoliert von der Außenwelt in entsprechenden Einrichtungen. Wer als geheilt entlassen wurde, und daher nach aktuellem Wissensstand nicht mehr ansteckend ist, sollte sein Leben normal weiterführen. Für die noch Gesunden gilt dies ohnehin, denn der Laden muss ja laufen, die Wirtschaft weiter wertschöpfend tätig sein. Soziale Distanzierung mag diese Vorgehensweise lokal in besonders betroffenen Gebieten flankieren, aber als flächendeckend etablierte Hauptmaßnahme taugt sie nicht. Sie würde eine effektive Überprüfung der Bevölkerung sogar behindern, wäre es für eine solche doch eher vorteilhaft, wenn die Menschen in großer Zahl regelmäßig dieselben Orte (beispielsweise Arbeits- und Ausbildungsstätten) frequentieren und daher dort anzutreffen sind. 

Ökonomisch betrachtet kann die soziale Distanzierung nicht so lange durchgehalten werden wie erforderlich, ohne selbst schädlicher als das Virus zu sein. Das Ziel einer verantwortungsvollen und daher an den Interessen der Menschen orientierten Politik darf ohnehin nicht darin bestehen, eine Überforderung des Gesundheitswesens abzuwenden. Stattdessen ist „niemand stirbt“ die einzige akzeptable humane Prämisse. Und das erreicht man nicht durch eine vorübergehende Reduzierung der Infektionsrate, sondern allein durch eine konsequente Unterbrechung der Infektionsketten. Bis dann irgendwann die Waffe, also der Impfstoff, verfügbar ist, mit der dem Tiger der Garaus bereitet werden kann. Noch ist es nicht zu spät für die Politik, diesen Strategiewechsel zu vollziehen und vom Panik- in den Vernunftmodus zu wechseln.            

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