Es hat sich etwas getan in Deutschland. Die Medien wissen es, die Politik verdrängt es, die Bürger ahnen es. Bunte Röcke, Indianertrommeln und Beschwörungen der „Herzenergie“ auf dem Podium bestimmen nicht mehr das Bild der maßnahmenkritischen Demonstrationen zwischen Meer und Alpen. Vor einem Jahr diskutierte das Land, wer auf den Kundgebungen denn überhaupt protestiere; die einen wollten die Mitte der Gesellschaft dort ausgemacht haben, die anderen Reichsbürger, Esoteriker und die Erben einer wutbürgerlichen Protestkultur, wie sie in Südwestdeutschland nicht unbekannt ist.
Beides ist richtig, wenn man bedenkt, dass ein nicht unwichtiger Teil der „Mitte der Gesellschaft“ letztlich dem grünen Milieu angehört. Die Ausklammerung dieses Faktors zugunsten einiger Kaiserfahnenschwenker gehört zum Selbstbetrug des Massenstroms, der nicht wahrhaben wollte, dass ein Teil seiner eigenen Klientel gegen den Lockdown auf die Straße zog. Und die Überschneidung zwischen denen, die gegen Kernenergie und Gentechnik sind, und jenen, die der mRNA- und Vektor-Impfung misstrauen, ist wenig überraschend groß.
Die alten „Querdenker“-Demos und die neuen „Spaziergänge“ unterscheiden sich
Zudem konzentrierten sich die klassischen Corona-Demonstrationen des vergangenen Jahres auf die Heimat im Südwesten und Großereignisse in Berlin. Mit der Schutzschirmherrschaft von „Querdenkern“ bekamen sie den Charakter einer einheitlichen, organisierten, beinahe monolithischen Form. Ein weiterer prägender Faktor jener Veranstaltungen, die sich mehr durch Hipsterbärte denn Glatzen auszeichneten, war deren Charakter als Sommerereignis. Hier offenbart sich der vielleicht bezeichnendste Unterschied. Party feiert man im Sommer. Harte politische Statements macht man im Winter.
Es wird sich noch zeigen, ob die „Querdenker“ für die Geschichte der Corona-Demonstration eher Nach- oder Vorteil waren. In Italien hatte die Protestszene von Anfang an einen weniger esoterischen Charakter und konnte deswegen deutlich früher auch andere Kräfte der Gesellschaft mobilisieren, beispielsweise im Fall der Hafenarbeiter von Triest. Womöglich wird sich noch das harte Vorgehen des Staates gegen die „Querdenker“ als Pyrrhus-Sieg derjenigen erweisen, die den Protest auf der Straße ersticken wollten, damit aber erst Platz für jene breiten Massen machten, die sich jetzt den Weg durch die Städte Mitteleuropas bahnen.
Die „Querdenker“ erfüllten als Schreck- und Feindbild ihren Zweck, gaben den Demonstranten ein uniformes Gesicht, eine uniforme Ideologie und schafften einen Distanzcharakter – mit solchen Leuten wollte der „anständige Bürger“ nichts zu tun haben. Dieser Beelzebub fehlt nunmehr, stattdessen wuchern überall kleine, neue Demos aus dem Boden. Einige Vertreter der linken Presse und Aktivisten des linksextremen Lagers schleudern den neuen Demonstranten den „Querdenker“-Vorwurf entgegen, aber eben nur noch als Diffamierung und Framing, aber nicht mehr, weil es sich um tatsächliche „Querdenker“ handelt. Querdenker sind sie nur noch (oder wieder) dem Grundbegriff nach.
Die mittelgroßen Städte des Westens geben den Demos ein neues Gesicht
Womit sich die nächste, vielleicht bahnbrechendste Neuheit zeigt. Man hat sich daran gewöhnt, dass der Osten aufbegehrt, dass dort auch in kleinen Gemeinden die Leute eher zusammenkommen als im vermeintlich demo-faulen Westen. Wenn in Rostock mehr als 10.000 Menschen auf die Straßen gehen, verwundert das deutlich weniger, als wenn dasselbe in Nürnberg – der Ausgeburt fränkischer Gemütlichkeit – geschieht. Noch hellhöriger sollte man werden, wenn selbst im zurückhaltenden Bundesdorf Bonn Leute vor Rathaus und Universität einen Spaziergang machen, sich im verschlafenen Koblenz vor dem Kurfürstlichen Schloss Menschengruppen bewegen oder mittlerweile Proteste sogar aus dem pfälzischen Pirmasens gemeldet werden.
Das ist eine neue Qualität. Wenn die mittelgroßen, westdeutschen Städte als Sinnbild für das aufs Arbeits- und Privatleben beschränkte Spießbürgertum aufwachen, dann bewegt sich etwas im Land. Die Spaltung in Hell- und Dunkeldeutschland, in West und Ost, gelingt nicht mehr, wenn der Spaziergang zum gesamtdeutschen Phänomen avanciert und die Proteststädte plötzlich Trier, Reutlingen, Saarbrücken oder gar Rosenheim heißen – von Frankfurt, München und Hamburg ganz zu schweigen.
Die größer werdenden Demonstrationen bieten mehrere Vorteile. Aufgrund ihrer sozialen Mischung erscheinen sie deutlich amorpher, die Schubladenzuordnung fällt schwer. Die bürgerliche Durchmischung schwächt die Radikalisierung ab – die Demonstrationsschilder bieten weniger Angriffsfläche als der Extremismus der „Querdenker“ und ihres Anhangs. Zugleich marginalisiert die Bewegung negative politische Kräfte. Niemand kann ausschließen, dass sich extremistische Ideologen unter die Demonstranten mischen, aber sie können nicht als Rädelsführer ausgemacht werden. Solange das der Fall ist, gelingt das mediale Stigma nicht. Ganz im Gegenteil fällt sogar auf, dass nun auch Kräfte aus der linken Mitte versuchen, gegen Corona-Maßnahmen und Impfpflicht auf die Straße zu gehen, ohne sich mit Radikalen gemein zu machen.
Der Rückzug von Politik und Medien auf das letzte Argument: „die Mehrheit“
Die Reaktionen auf die Demo-Morphose zeichnen sich dementsprechend durch eine hohe Unsicherheit aus. Freilich halten Politik wie Medien am simplen Schreckbild fest, doch der Prügelstock trifft nicht mehr. Wenn Zehntausende verteilt im ganzen Land demonstrieren und nicht einem spezifischen Herkunftsmuster zugeteilt werden können, wird die Attacke diffus. An welchem Punkt die Diskurskultur im gespaltetsten Deutschland aller Zeiten angekommen ist, zeigt der Rückzug auf das letzte verfügbare Argument: „Wir sind mehr.“ Wer immer die Mehrheit beschwört, ist im Zugzwang. Nicht die Richtigkeit der eigenen Politik, nicht die Richtigkeit der Wissenschaft, nicht die Richtigkeit der Moral gilt. Das sagt einiges über den Punkt aus, an dem Politik und Medien angekommen sind. Es stimmt: Hätte in Russland die Mehrheit stets die Deutungshoheit behalten, dann hätte es keine Oktoberrevolution gegeben. Aber dasselbe kommunistische Regime, das eine Minderheit installiert hatte, fegte auch eine Minderheit wieder davon. Das Argument ist demnach aus historischer Perspektive zweischneidig.
Das geht nicht nur an die Adresse eines Tagesschau-Kommentators wie Michael Stempfle, der „die Stärke der Mehrheit“ beschwor und sagte, dass die Mehrheit der Bevölkerung „längst begriffen“ habe, dass es sich „bei den radikalisierten Impfgegnern um Verfassungsfeinde“ handele, oder auch für Kanzler Olaf Scholz, der eine „winzige Minderheit von enthemmten Extremisten“ kritisierte. Es geht auch an die Adresse jener Schönwetterdemonstranten der extremen Linken. Als Gegengrüppchen von Jusos, Grüner Jugend und Antifa bei der Hamburger Demo vom vergangenen Samstag erschienen sie im Gegensatz zu den Tausenden Demonstranten fast wie eine schützenswerte Wildtierspezies, die kurz vor dem Aussterben stand. Die Demonstrationskultur bestimmen sie nicht mehr. Manchmal kann die Minderheit auch in der Mehrheit sein.