Die Verachtung, oft sogar der Hass gegen „alte weiße Männer“ und die Generation der „Boomer“ ist seit Jahren beliebte Ingredienz politischer Debatten. Dabei ging es bisher vor allem um Macht und Einfluss der Alten in Politik und Gesellschaft, um das historische Erbe, das sie der Jugend hinterlassen. Inzwischen richtet sich der Widerwille zunehmend gegen alle alten Menschen.
Angesichts der beängstigenden Corona-Pandemie plädierten sogar Politiker und Wissenschaftler, oft mit allerlei verschwurbelten Formulierungen und zuweilen von Krokodilstränen begleitet, letztendlich dafür, notfalls eben alte Menschen zu opfern, um die Zukunft der jungen Generationen nicht zu zerstören.
Alte und Schwache sterben lassen, um Massenarbeitslosigkeit, Firmenpleiten und Verarmung zu verhindern, schien schlichten oder erbarmungslosen Gemütern ein passabler Weg. „Politiker müssen ja gesamtgesellschaftlich denken und insbesondere auch die Spät- und Nebenfolgen kalkulieren, insbesondere für die Zukunftschancen der Jungen“, formulierte es der Managementberater Reinhard K. Sprenger in einem Capital-Gespräch. Eine Option sei es, Risikogruppen massiv in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. „Wir müssen den Konflikt zulassen zwischen Freiheit und Gesundheit, zwischen dem Überleben der Alten und der Zukunft der Jungen“, so Sprenger. Er warnte vor einer „quantitativen Blendung“, bei der Infizierte und Tote zählten, vor „medizintechnischen Fundamentalismen“. Wichtig seien aber auch die Schäden in der Nach-Corona-Zeit. „Wir verabsolutieren gerade die Gesundheit als bedingungsloses Gut.“
Dass es zumindest bis Anfang April offenbar einen Konsens fast überall in der Welt gab, dem Leben Priorität vor der Wirtschaft zu geben, dass es in keinem einzigen Land zu einer faktischen Euthanasie, der Abwägung von wertem und unwertem Leben, der Inkaufnahme unzähliger Toter kam, war vielleicht weniger hohen moralischen Werten zu verdanken, als vielmehr dem nüchternen Pragmatismus.
Zu groß war die Furcht vor dem Zusammenbruch des Gesundheitswesens und den damit verbundenen dramatischen Bilder wie in Kriegszeiten, die leicht auch zu Chaos und Anarchie führen könnten – Plünderungen in Süditalien und Gewaltexzesse in Südspanien vergangene Woche signalisierten schon in dem derzeit frühen Stadium der globalen Katastrophe die Brüchigkeit der zivilen Ordnung mancherorts.
Über die Alten lästern, ist in Medien seit langem gang und gebe. Bento, das Online-Jugendmagazin des Spiegel, mahnte bei der Brexit-Wahl die Alten: „Generation Rollator, mach mein Europa nicht kaputt“. Als der Historiker Fritz Stern 2016 als 90-Jähriger starb, schrieb laut der Rheinischen Post eine Professorin und damalige Humboldt-Stipendiatin, „Die alten weißen Männer sterben, jetzt können wir die Geschichte revolutionieren“. In der Le Monde durfte eine Kolumnistin empfehlen, alten Menschen das Wahlrecht zu entziehen.
Ende 2019 hatte ein satirisches Kinderlied im WDR nur bei einem Teil der Öffentlichkeit Empörung ausgelöst, in dem ein Kinderchor Omas als „Umweltsäue“ besungen hatte. In einer anderen Satire-Sendung des selben öffentlich-rechtlichen Senders konstatierte der Moderator, dass Corona ja sozial zutiefst gerecht sei, denn es treffe mit den Alten ja die Richtigen, hätten sie doch in der Vergangenheit „die Welt an die Wand gefahren“. Ironischerweise ist die Zielscheibe all dieser Attacken vor allem eine Generation, die in den 70er Jahren nicht nur den Konflikt mit ihren Vätern und Großvätern und „gegen den Muff von 1000 Jahren“ offensiv führte, sondern sogar den Slogan hatte: „Trau keinem über 30“.
Es spricht also manches dafür, dass die Perspektiven der Millenials und der Z-Generation (in den 80er, 90er und 2000er Jahren Geborenen), vermutlich nicht mehr so rosig wie die ihrer Eltern und Großeltern sind. Das aktuelle Alten-Bashing hat durchaus auch einen demografisch begründbaren Hintergrund.
Der Konflikt zwischen den Generationen ist allerdings schon seit der Antike ein großes Thema von Politik oder Literatur. Schon Sokrates lästerte über eine Jugend, die den Luxus liebe, schlechte Manieren habe und die Autorität verachte. „Es ist das Schicksal jeder Generation, in einer Welt unter Bedingungen leben zu müssen, die sie nicht geschaffen hat“, schrieb John F. Kennedy. Besonderes Merkmal der aktuellen Auseinandersetzung zwischen Jung und Alt ist aber die ungewöhnlich große und wachsende Missachtung und Respektlosigkeit gegenüber den Älteren, wobei damit oft schon Menschen über 50 Jahre gemeint sind.
Diese Entwicklung fügt sich ein in den allgemeinen Verfall traditioneller Werte, seien es die der Nation, der Religion, der Familie oder des Lebens überhaupt. Wie vielen Kindern wird noch das biblische Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ vermittelt? Die wachsende Geringschätzung von Leben manifestiert sich beispielsweise auch in den extrem liberalen Abtreibungsgesetzen (in manchen US-Bundesstaaten sind Abtreibung bis zum neunten Monat legal möglich). Auch die wachsende Bedeutung der Gruppenidentitäten oder die allgemeine Vergiftung des öffentlichen Diskurses durch Verleumdung, Diffamierung und Stigmatisierung begünstigen Ressentiments gegenüber den alten Menschen.
Die ältere Generation, die in der Tat in den meisten Ländern die Geschicke von Politik und Wirtschaft bestimmen, wird kurzerhand als Repräsentant des Imperialismus und Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte, eines ausbeuterischen und menschenverachtenden Kapitalismus in die Pflicht genommen. Nur so versteht sich die hysterische Empörung von Greta Thunberg („how dare you!“). Die 16 Jahre alte Ikone der Klima-Bewegung kann schamlos und geschichtsvergessen vor der UN die Alten beschuldigen, die Jugend der Zukunft zu berauben.
Das alles ist nicht sehr förderlich für eine friedliche und solidarische Gesellschaft; es ist auch zutiefst respektlos, undankbar und letztendlich auch ziemlich dumm. Als ob die junge Generation selbstverständlich ein Anrecht darauf habe, in einer einzigartigen Wohlstands-Welt aufzuwachsen, den über Generationen hinweg erworbenen Reichtum, die oft mit schrecklichen Opfern erkämpfte Freiheit und den Frieden zu genießen – gleichzeitig aber das Recht habe, angewidert die ererbten Mängel und Probleme der modernen Welt als unzumutbar zurückweisen zu dürfen. Kein Wunder, dass nun in der schweren Krise relativ bedenkenlos und ungehemmt davon gesprochen wird, wie lästig doch die Rücksichtnahme auf die Alten ist. Der Gedanke an ziemlich lebensunwertes Leben ist dann nicht weit entfernt.
Kein Wunder also, dass selbst der historische Begriff des «Senizid», die Ermordung der Alten, zu manchen Zeiten und in manchen Kulturen eine grausame Realität, plötzlich eine erschreckende Aktualität bekommen könnte. „Wenn eine erhebliche Zahl westlicher Staaten, was immer wahrscheinlicher zu sein scheint, mit der durch das Virus Sars-CoV-2 …. ausgelösten Pandemie weiterhin falsch umgeht, dann wird eine sehr große Zahl alter Menschen vor der Zeit sterben“, schrieb der amerikanische Historiker Neill Ferguson jüngst in der Sunday Times.
Er meinte, ein offener Senizid sei heute unvorstellbar, was aber nicht bedeute, dass er sich nicht in der Praxis durch die Hintertür Einlass verschaffen könne. Ferguson verwies auf die derzeitige Praxis der „Triage“ in Italien, bei der – wie im Krieg oder in Katastrophenfällen – in extremen Wahlsituationen die Auswahl der zu behandelnden Patienten vom Grad der Erkrankung und den Chancen auf Genesung abhängt. In der Praxis kamen jüngst wohl auch notgedrungen deutlich mehr jüngere als ältere Patienten in den Genuss der wenigen lebenserhaltende Geräte.
Besonders die Lage in Spanien belegt, dass immer häufiger das Leben alter Menschen nicht viel zählt. In einem Altenheim in Madrid fanden Sicherheitskräfte 19 alte Menschen, die einfach zum Sterben zurückgelassen worden waren. Auch in anderen Altersheimen, oft einfach von den Pflegekräften verlassen, wurden zwischen den lebenden Insassen mehrere Tote gefunden. Verteidigungsministerin Margarita Robles berichtete, dass die Alten unter „extremen Bedingungen und schlechten gesundheitlichen Bedingungen mit Toten“ im Zimmer allein gelassen worden seien.
Deutschlands einflussreicher Top-Virologe Christian Drosten beschränkte sich darauf, lediglich den Menschen über 80 Jahren, die zu der höchst gefährdeten Risikogruppe gehören, zu empfehlen, bis zum Herbst 2020 ihre Enkel nicht mehr zu besuchen.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) warnte eindringlich vor einer „utilitaristischen Perspektive“ und „Nützlichkeitserwägungen“ gegenüber den Alten in der Pandemie. Es wäre „zynisch“ bei der Frage der Alten einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu folgen, weil es für die Gesellschaft ökonomisch vielleicht gar nicht schlecht wäre, wenn das Virus besonders unter Alten wüte. Er sei froh über eine Politik, die “ klar macht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und sich nicht nach Altersgruppen richtet“, so der Theologe in einem Interview des Radiosenders Antenne Bayern am Dienstag.
Einer der wenigen, die offen von dem drohenden Hass der Jugend auf die Alten spricht, ist der Star-Designer Wolfgang Joop. „Wir Alten versperren ganz schön die Möglichkeiten für die Jungen. Ich bin mir sicher, dass es bald Hass gegen Alte geben wird“, warnte er 2017 in der Bild-Zeitung. „Die Alten sterben immer später. Das kann nicht gut enden.“ Die Gefahr ist groß, dass die zwangsläufig extreme und ökonomisch folgenreiche Politik im Kampf gegen die Pandemie diesen Hass auf Alte, von denen zumindest ein guter Teil in solidem Wohlstand, oft auch mit satten Renten- und Pensionszahlungen leben, erst richtig entfachen wird.