„Die große Illusion – Warum unser Wohlstand in Gefahr ist“: Der Cicero-Titel 9.2015 fehlt als Thema in den Leitmedien der Berliner Republik gerade jetzt, wo es jeden Tag um die Frage geht, wie viele Migranten kommen nach Deutschland, wie viele und welche wollen wir aufnehmen und welche nicht. Noch in den selbstgefälligen Äußerungen unserer Oberen zu Flüchtlingen und Zuwanderern spiegelt sich Chefredakteur Christoph Schwennickes Feststellung: „Es liegt ein erster Hauch des späten Kohl überm Land. Bräsigkeit und Selbstzufriedenheit. Deutschland schiebt seine Probleme auf, es lebt von der Substanz und negiert seinen Reformbedarf. Die Infrastruktur ist marode, die Investitionsquote zu niedrig, die digitale Zukunft wird verschlafen.“
Deutschland profitiert von der Krise
Alexander Marguiers Titelartikel alarmiert. Noch lebt Deutschland von den Begleiterscheinungen der Krise. Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des DIHK, nenne die guten Wirtschaftszahlen einen „geliehenen Aufschwung“. Das für 2015 prognostizierte Wachstum von 1,8 Prozent lebe fast vollständig von drei Faktoren: Zins, Rohstoffpreise und Wechselkurs. Was also, „wenn Euro, Zinsen und Rohstoffpreise auf ihr früheres Niveau zurückkehren?“ Nach einer Studie der OECD werde die Einwohnerzahl Deutschlands trotz Zuwanderung bis 2030 von 81,1 Millionen auf 77,4 Millionen schrumpfen, der Erwerbsfähigen-Anteil von heute 48 auf 30 Prozent verringern (DIW). Wollen die Deutschen ihren Wohlstand nur halbwegs erhalten muss sich die Produktivität der einzelnen deutlich erhöhen, um den demografischen Wandel auszugleichen. Deutschland braucht die modernsten Maschinen und Anlagen wie eine hocheffiziente Infrastruktur, exzellent Ausgebildete und eine ausgeprägte Innovationskultur.
Davon ist das Land weit entfernt, es hat in der Vergangenheit „erhebliche Wachstumschancen verpasst“ (DIW), die Investitionsquote sei im internationalen Vergleich gering und sinke weiter. Deutschland lebe von der Substanz. Selbst die wirtschaftlich schwächelnden Länder Frankreich und Italien hätten viel mehr investiert. Dabei müsste Deutschland für ein langfristig gesundes Wachstum wegen seiner forschungsintensiven Industrien und wissensintensiven Dienstleistungen weit mehr investieren als andere. Genau das geschehe aber nicht. 2009 wurden nur 5,3 Prozent des BIP für Kindergärten, Schulen, Berufsschulen und Hochschulen ausgegeben. Das ist unter EU-Durchschnitt und unter dem Mittel von 33 OECD-Mitgliedstaaten. Dabei verlange der drohende Fachkräftemangel eine Bildungsoffensive. Es gebe viel zu viele Schulabbrecher und Leute ohne Berufsausbildung, die frühe Förderung von Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik müsse dringend verbessert werden. Dieser Weckruf sei bisher verhallt.
Neue Schulden statt Innovation?
Also wird Deutschland dann doch wieder mehr Schulden machen? Wie wolle die Bundesregierung der Öffentlichkeit dann noch erklären, dass drastische Sparmaßnahmen für Griechenland richtig sind und hierzulande die Kreditaufnahme, um alles am Laufen zu halten? Strategisch und argumentativ habe Deutschland sich in eine Sackgasse manövriert. Wenn die Babyboomer-Generation der um 1964 Geborenen in Rente geht, kommt der Stresstest für die öffentlichen Haushalte, der kaum ohne erneute Schuldenaufnahme zu bestehen sei. Auch höhere Steuern, etwa auf hohe Einkommen und Vermögen, dürften dann unausweichlich sein, wenn die vielen neuen Rentner ihre Ansprüche geltend machen. „Die Verteilungskämpfe werden massiv zunehmen“, zitiert Marguier Daniel Stelter, lange Seniorpartner der internationalen Unternehmensberatung Boston Consulting Group, dessen düstere Prognosen nicht mehr gern gesehen waren.
Entsprechend gnadenlos falle sein Blick auf die deutsche Gesellschaft aus: schon heute überaltert und strukturkonservativ. Deutschland lebe immer noch von Industrien, die es schon im Kaiserreich gab, Automobil-, Anlagen- und Maschinenbau und chemische Industrie. Diese deutschen Vorzeigeunternehmen würden sich auch weiterentwickeln und modernisieren. Aber strukturelle Brüche wie Elektromobilität und der Trend zum Car Sharing würden verschlafen: Vor allem die digitale Revolution, die nicht von Deutschland ausgeht, sondern von der amerikanischen Westküste. Die Konkurrenz deutscher Weltmarktführer in Fernost, entwickle sich zum Innovationsmotor: China bringe nun mehr Ingenieure und Naturwissenschaftler hervor als die Vereinigten Staaten und Westeuropa zusammen (Stelter).
Die Gemeinschaftswährung Euro habe den Innovationsdruck auf die deutsche Wirtschaft verringert. Als die harte D-Mark auch Exporthemmnis war, mussten deutsche Unternehmen ihre Produkte mit maximaler Effizienz herstellen, um international konkurrenzfähig zu sein. Dieser Zwang ist jetzt weg. Was sich darin zeige, dass der Staat UND die Privatwirtschaft zu wenig in zukunftsfähige Strukturen investierten. Wir leben in der Illusion, stimmt Marguier Stelter zu, wir könnten unseren Wohlstand erhalten, indem wir einfach weitermachen wie bisher, vielleicht ein bisschen mehr Geld ausgeben für Straßen, Bildung, den Breitbandausbau – und bei der Zuwanderung öfter auf den eigenen Vorteil achten.
„Geradezu mit Händen zu greifen war diese Illusion“, schreibt Marguier, „als der 27 Jahre alte Videoblogger LeFloid vor ein paar Wochen die Bundeskanzlerin zum Interview traf .. . der Psychologiestudent eröffnete mit der Bemerkung, ‚dass ich es immer etwas absurd fand, das eben nur am Wirtschaftswachstum oder am Bruttoinlandsprodukt festzumachen‘. Angela Merkel antwortete darauf seltsam mäandernd mit diffusen Hinweisen auf Umwelt, Nachhaltigkeit, Kinderarbeit. Und dass man ‚den Zufriedenheitsfaktor nicht außer Acht lassen sollte‘. Danach kreiste das Gespräch um wichtigere Punkte: gleichgeschlechtliche Ehe, Whistleblower, Bauchgefühle, die Gefahren durch TTIP und ob Cannabis legalisiert werden sollte. Alles sehr schön, alles sehr interessant. Aber für die Frage, ob man auch in zehn oder 20 Jahren noch „Gut leben in Deutschland“ kann, dann doch haarscharf an der Realität vorbei.“
Den Leitartikel vollständig zu lesen, kann ich nur empfehlen, die ganze Ausgabe auch.
Wenn der Norden mit dem Süden
Werner A. Perger, der heute Geburtstag hat, erzählt in „Wenn der Norden mit dem Süden“ von Gesprächen in Spanien im politischen Bogen von der linken Protestpartei Podemos bis zu den jungliberalen Ciudadanos in Katalonien. Sein Gesprächspartner Ramón Servalls Batle, der nicht mehr Geschichte lehrt, sondern das Weingeschäft der Familie betreibt, meint, die Gegensätze von Nord und Süd müssten keine sein: Der Norden setze mehr auf den Staat und kollektive Lösungen, im Süden verlasse man sich mehr auf sich selbst. Ihn lässt Perger sagen, woran er selbst gern glauben möchte: „Wieso kann man das nicht miteinander verbinden?“ In einer Zeit, wo die EU dringend einen neuen Anlauf braucht, wäre das jedenfalls auch für mich eine innovative Denkaufgabe, die lohnte.