Mit dem Begriff „christliches Abendland“ hat es Deutschland höchster katholischer Würdenträger nicht. „Davon halte ich nicht viel, weil der Begriff vor allem ausgrenzend ist“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz in einer Berliner Fernseh-Talkshow. Der Begriff des „christlichen Abendlandes“ verkenne die „große Herausforderung, in Europa dafür zu sorgen, dass verschiedene Religionen mit jeweils eigenen Wahrheitsansprüchen friedlich zusammenleben“, so erläuterte Marx nach Angaben der katholischen Nachrichtenagentur KNA in einer Diskussion mit dem Fernsehmoderator Michel Friedman in Berlin.
Möglicherweise hat der Kardinal nicht ganz verstanden, was es mit der Geschichte des Abendlandes, also Europas, auf sich hat. Jesus Christus war in griechischer Rhetorik geschult, er kannte aller Wahrscheinlichkeit nach die Schriften der Vordenker der attischen Demokratie, die auf dem Areopag tagte, genauso wie den Pentateuch, nach dem er als strenggläubiger Jude lebte. Diese Gedanken verbinden sich in seinen Lehren, die im Neuen Testament niedergelegt sind, zu einer kulturellen Brücke. Dies ist eine biblischen Botschaft, die an dieser Stelle auf ein Wort aus dem 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes zugespitzt sei: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
Und diese Botschaft ist es wiederum, die Papst Coelestin I. um das Jahr 430 veranlasste, die christliche Mission über das Gebiet des alten Imperium romanum hinaus auszudehnen. Der König des Frankenreiches, Chlodwig I., ließ sich im Jahre 497 freiwillig – wohlgemerkt! – taufen. Den ersten Papstbesuch nördlich der Alpen absolvierte Leo III., der im Jahre 799 Karl den Großen in Paderborn aufsuchte. Dies sind Einzelereignisse, von denen es hunderte gibt, die alle zusammen darstellen, wie die Botschaft der Liebe das ganze Abendland, also ganz Europa erreichte und wie früh sie den Kontinent bereits prägte. Und um das scheinbare Gegenargument, das an dieser Stelle fast reflexartig kommt, gleich abzuräumen: Auch Kriege im Namen Christi ändern nichts daran, dass dem getauften Menschen die Botschaft der Liebe gegeben ist. Dass alle Menschen sündig sind, ändert daran ebenfalls nichts – ein Blick auf die Karfreitagsliturgie genügt.
Vom christlichen Abendland sprechen ist Christenpflicht
Der christlichen Botschaft der Liebe diametral entgegengesetzt ist die Lehre des Islam. Allah kennt keine Liebe, so oft auch dort zu lesen steht, er erbarme sich aller: Liebe kennt der Koran nicht. Es mag dem Kardinal nachgesehen werden, wenn er die muslimischen Suren nicht allesamt parat hat, und so sei es ihm gesagt: Dort wird zur Ermordung aller Christen und Juden aufgerufen – völlig unverblümt. Und nicht nur an einer Stelle. Dies ist nicht der Geist, in dem und durch den Europa errichtet wurde. Und weil das so ist, muss vom christlichen Abendland gesprochen werden. Das ist Pflicht. Dies zu unterlassen, wäre Sünde. Und sich dagegen zu verwahren, birgt den Kern der Häresie durch Verleugnung der Botschaft Jesu Christi.
Bliebe die Frage nach den Werten der Demokratie, denn allein diese Staatsform ist es, die Frieden in Freiheit garantiert. Die Toleranz, die Duldsamkeit, die Dialogbereitschaft – letztlich: die Liebe im mitmenschlichen Sinne: all dies wird durch das Wort aus dem Korintherbrief aus der Spätantike in das 21. Jahrhundert getragen und übertragen, und die Trägerin dieser Botschaft, die ja – wohlgemerkt! – über den im Kontext der griechischen Kultur der Hellenismus lehrenden Jesus, ist auch das Genom der attischen Demokratie weitergetragen worden. Nicht umsonst trägt Jesus das Attribut des Χριστός, des „Gesalbten“. Dies ist auch die Stelle, an der Selbstverständliches kurz annotiert sei: Das Judentum gehört wie das Christentum seit über einem Jahrtausend zu Europa. Von den Pogromen des Mittelalters bis zum Holocaust spannt sich eine Kette von Sündenfällen, und Gott kann nicht genug dafür gedankt werden, dass Europa davon weitestgehend erlöst ist. Vom anschwellenden muslimischen Antisemitismus in Europa ist andernorts zu berichten.
Wo beginnt der Verrat am Glauben?
Zurück zu Marx – dem Kardinal. Anstatt sich über die Mordaufrufe im Islam mit Deutlichkeit zu äußern, kritisierte der, ebenfalls bei Friedman, eine „weltweite Instrumentalisierung der Religion“. Damit schließt er das Christentum ein, er kritisiert seine eigenen Glaubensbrüder öffentlich. Marx scheint damit die Grenze, ab der Verrat beginnt, nicht genau zu kennen. Er äußerte dann die „Hoffnung, dass Juden, Christen und Muslime so stark seien, dass sie ihren Glauben an einen Gott nicht missbrauchen lassen“. Es fehlte nur noch, dass er Gott mit Allah gleichsetzte – was dann die Grenze zur Häresie wohl überschritten hätte.
Doch was war auch zu erwarten von einem Reinhard Marx, der, als er zusammen mit seinem Bruder im Geiste und im Amte, dem EKD-Ratsvorsitzenden und bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, auf dem Tempelberg in Jerusalem sein Bischofskreuz abgelegte. Die beiden geistlichen Würdenträger behaupteten damals, um diese Geste gebeten worden zu sein. Abgesehen davon, dass dies nach Angaben aus Medienkreisen eine Lüge war – was hätte der Herr Kardinal denn gesagt, wenn er gebeten worden wäre, die erste Sure des Koran nachzusprechen? Es drängt sich die subjektive und ungestützte Vorstellung auf, dass er das möglicherweise auch getan hätte. Weil darum gebeten. Doch wer dies tut, ist in den Augen von Muslimen fortan – ein Muslim.