Tichys Einblick
Biedermann und die Brandstifter

Cem Özdemirs Worte: Es sind zu viele, um ihnen Glauben schenken zu können

Nacheinander entdecken Christ- wie Sozialdemokraten und auch Grüne, dass sie mit ihren eingeschliffenen Phrasen über nicht steuerbare Migration nicht mehr weit kommen. Özdemir versucht in einem Aufsatz für die FAZ, sich von seinen Parteikollegen abzusetzen und sich so gleichzeitig für Höheres in Stellung zu bringen.

IMAGO

Cem Özdemir hat angesichts des verdienten Abwärtstrends der Grünen in der FAZ einen in seiner Behäbigkeit eher peinlichen Aufsatz veröffentlicht: Krähwinkels Aufstampfen mit dem großen Zeh im Saal der Republik. Dass er dabei seine Biographie und sich als Vater rhetorisch in Schale wirft, ist sein gutes Recht, aber angesichts der Dimension des Migrationsdesasters mit allzu kleiner Münze gezahlt. Aber er will ja auch keine Probleme lösen, sondern sich einen schlanken Fuß machen.

Wenn man das Verfahren der abschöpfenden Kritik nicht kennen würde, auch bekannt als Strategie, den „Wind aus den Segeln zu nehmen“, würde man sich die Augen reiben und sich fragen, wie ein Politiker einer Partei, die aus dem Geist der Ideologie lebt, plötzlich zumindest die Wirklichkeit zu tangieren versucht. Doch man kennt das Verfahren schon aus DDR-Zeiten zur Genüge. Zur Beruhigung der Bevölkerung wird etwas erlaubte Selbstkritik geäußert. Es erinnert von Ferne in der Mechanik an Egon Krenz, der behauptete, dass die Partei die Wende eingeleitet habe, da waren aber die Straßen von Leipzig, Dresden, Halle und auch Berlin schon voller Menschen.

Weil die Grünen in der Wählergunst verdientermaßen im Sinkflug begriffen sind, versucht man, sich etwas realistisch zu geben, ein wenig Selbstkritik, aber im Endeffekt doch mehr Kritik an den anderen zu üben – in der Hoffnung, dass alle jubeln, die Grünen haben ihren winzig kleinen Fehler eingesehen und sind eigentlich doch ganz und gar die feinen Kerle und KerlInnen, die sie immer gern in sich sehen und woran die Wähler, wollen sie nicht als rechtsradikal gescholten werden, zu glauben haben. Doch schauen wir uns den Text einmal an, der ans Kinderfernsehen von ARD und ZDF erinnert und sich liest, als hätte ihn nicht Checker Cem, sondern Checker Tobi geschrieben.

Der Text verrät, wie immer, wenn man ihn ernst nimmt, mehr, als sein Autor sagen will. Zuerst einmal, dass Cem Özdemir gar nicht darüber sprechen will, worüber er vorgibt zu sprechen. Er kündigt an, über Zuwanderung zu schreiben, schreibt aber nicht über Zuwanderung, sondern äußert sich enttäuscht darüber, dass die junge Generation nicht die „begründeten Sorgen“ hätte, die sie doch haben müsste, wie er doziert: „Während gerade die junge Generation gut begründete Sorgen haben müsste, Sorgen um das Erstarken autoritärer Kräfte, Kriege, Bürgerkriege und Unterdrückung, Klimakrise und Artensterben, dominiert gerade ein ganz anderes Thema die Debatten nicht nur bei uns im Land.“ Man kann Özdemirs Ärger verstehen, dass die „junge Generation“ kein Kinderfernsehen von ARD und ZDF mehr will und auch die Grünen nicht mehr wählt. Aber deshalb gleich der jungen Generation vorzuwerfen, dass sie sich die falschen Sorgen macht, dass den Jungen nicht die Klimakrise den Schlaf raubt, ist doch nur allzu hausväterlich gepoltert.

Vielleicht sorgt sich auch die junge Generation um die Deindustrialisierung, die die Grünen mit Robert Habeck in nur drei Jahren hinbekommen haben, was wirklich weltmeisterlich im Fach Totaldestruktion ist. Für diese einzigartige Zerstörung des Wohlstands und der Zukunft der jungen Generation reicht den Grünen sogar nur eine einzige Begründung, die Klimaideologie, die mit den demagogischen Mitteln der Angstkommunikation arbeitet. Eigentlich sollten die Grünen erleichtert aufatmen, dass die Jungen nicht nach dem Artensterben fragen, das die grüne Amour fou zu den Windrädern in nie gekannter Dimension vorantreibt. Eigentlich sollten die Grünen auch erleichtert darüber sein, dass die „junge Generation“ nicht besorgt ist über das Erstarken autoritärer Kräfte, denn was ist das Gebäudeenergiegesetz, wenn nicht autoritär und auch totalitär? Oder Özdemirs Vegetarismus-Kampagnen?

Und wie war das nochmal mit dem Bürgerrat, der von so unabhängigen, der Spott ist zugegebenermaßen jetzt etwas arg, Institutionen wie der Mercator Stiftung und der Bertelsmann Stiftung, deren Markenzeichen Einseitigkeit ist, gebildet wurde? Was schlug der Bürgerrat nochmal vor? Stimmt: „Wir empfehlen, ein Desinformationsranking von Aussagen politischer Akteurinnen und Akteure während des Zeitraums des Wahlkampfes einzuführen. Das Ranking soll von einem gemeinwohlorientierten, unabhängigen Medienhaus/Kollektiv (beispielsweise Correctiv) aus kontinuierlich gesammelten Daten erstellt werden.“ Dass eine Propagandaplattform, der selbst Gerichte eine Verbreitung unbelegter Behauptungen attestierten, zur obersten Inquisitionsbehörde erhoben werden soll, ist übrigens eine der niedlichsten Ideen des grünen Autoritarismus.

Vielleicht wählen die Jungen die Grünen nicht, weil sie sich gerade Sorgen darüber machen, dass autoritäre Kräfte erstarken. Und vielleicht haben die Jungen auch keine Lust auf eine spießige Verbotspartei, wie die Grünen nun einmal sind, auf eine Partei, deren Programm Frühvergreisung bewirkt und deren Funktionäre im Biedermann-Sound auf sie einreden, so wie nicht einmal die Eltern ihrer Eltern mit ihren Kindern gesprochen haben.

Weil Cem Özdemir nicht über grüne Wohlstandsvernichtung, über grüne Deindustrialisierung, über grünes Bauernsterben, über grüne Arten- und Umweltzerstörung, über grünes Schuldenmachen, über grünen Autoritarismus sprechen will, schleicht er mit der Behauptung um die Ecke, dass man erst über die anderen Themen reden kann, wenn genügend über Migration geredet wurde, und zwar in allen grünen und medialen Stuhlkreisen dieses Landes. Denn verändern werden die Grünen nichts, weil für sie das Reden das Handeln ersetzt. War es nicht Robert Habeck, für den Politik nicht die Kunst des Möglichen, sondern „Kommunikation“ ist? Und das erleben wir: viel Geschwätz.

Selbst, wenn man großzügig das alles beiseiteschiebt, spricht Cem Özdemir immer noch nicht über Solingen und über Migration, sondern erzählt vaterslangweilig eine etwas angestaubte Anekdote: „Vor einigen Jahren verbrachte meine Tochter mit einer Freundin ein paar Tage auf einem Campingplatz in Mecklenburg an der Ostsee. Ihre gleichaltrige Freundin hat einen aus Tansania stammenden Vater; man sieht ihrer Hautfarbe an, dass sie nicht von rotblonden Wikingern abstammt. Es wurde nur ein kurzer Urlaub. Nach 24 Stunden ergriff das Berliner Ensemble die Flucht, weil auf böse Blicke Schmähungen, Beleidigungen folgten; rassistische Flüche, die ich hier nicht wiederholen will. Es waren vor allem Jugendliche, auch Kinder, die ihr im Pulk so zusetzten. An die Ostsee will meine Tochter so schnell nicht wieder fahren.“ Es geht in dem Text also noch nicht um Migration, sondern erstmal um die Rassisten im Osten. Selbst die vermutlich durch und durch grünen Lehrer von Cem Özdemirs Tochter würden dem Vater nun eine 6 geben, Thema verfehlt.

Nachdem der mittlerweile gelangweilte Leser, der Özdemirs Standpunkt zur Migrationsdebatte erfahren wollte, sich schier endlos durch besonnte Erinnerungen und ein eitles Posieren, das übrigens auch autoritär wirkt, in der Vaterrolle durchkämpfte, bekommt endlich das angekündigte Thema auch einen Satz: „In Berlin ist sie als junge Frau wiederum völlig anderen Zumutungen ausgesetzt. Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden.“

Angesichts Solingens, angesichts der Messermorde, angesichts der Vergewaltigungen, angesichts der Erschütterung darüber, dass ein junger Mann zu Tode getrampelt wurde, als er von der Abifeier seiner Schwester kam, empört sich der Mann aus der schwäbischen Provinz, wo man weltfremd grün wählt, darüber, dass seine Tochter „unangenehm begafft“ wurde? Wer so verharmlost, verhöhnt die Opfer. Folgt Özdemirs Analyse des Migrationsproblems? Fehlanzeige. Lösungsvorschläge? Auch Fehlanzeige.

Stattdessen schlüpft Cem Özdemir in die Lieblingsrolle der Grünen, in die Opferrolle, denn sie sind die wahren Opfer. Alle müssen jetzt sehr viel Mitleid mit ihm und seiner Tochter haben, denn: „Sie redet nicht gern über diese Erlebnisse. Wenn sie davon erzählt, zögert sie, weil sie nicht möchte, dass Rechtsradikale daraus Kapital schlagen.“ Am Ende sind eigentlich die Rechtsradikalen schuld und nicht „Männer mit Migrationshintergrund“, die übrigens auch nicht an die Ostsee fahren. Dank Cem Özdemir wissen wir nun, warum.

Man könnte jetzt eigentlich aufhören zu lesen, denn inhaltlich kommt da auch nichts mehr. Anstatt über Migration zu reden, folgt ein ellenlanger Sermon darüber, weshalb es so schwer ist, als Grüner über Migration zu reden. Nebenbei erfährt man noch, dass Cem Özdemir Hans Magnus Enzensberger gelesen hat, aber das ist nicht weiter gefährlich, denn der Essay, auf den er sich bezieht, stammt aus dem Jahr 1962. Außerdem erfahren wir staunend, dass die Konservativen immer alles falsch gemacht und nur über Probleme geklagt hätten, anstatt „die Rahmenbedingungen einer modernen Einwanderungsgesellschaft präzise zu definieren“. Was haben die Grünen gemacht? Stimmt, Abschiebungen verhindert. Beispielsweise die grüne Flüchtlingsministerin von NRW beim Attentäter von Solingen, um doch nochmal auf Solingen zurückzukommen.

Ansonsten ist die Sache für Cem Özdemir ganz einfach. Man wundert sich, weshalb es in drei Jahren der Ampel dann nicht gelungen ist, Özdemirs einfache Idee umzusetzen: „Wir müssen eine klare Grenze ziehen zwischen denen, die uns brauchen (Asylpolitik), und Menschen, die wir brauchen (Fachkräftezuwanderung). Asyl und Arbeitsmigration müssen getrennt werden. Und für beides müssen wir die jeweiligen Spielregeln klarer definieren, mutiger vorantreiben und selbstbewusst vertreten.“ Na Mensch, wenn es weiter nichts ist. Ein echter Tausendsassa, der Cem Özdemir.

Obwohl, über die Fachkräftezuwanderung sollte Özdemir noch einmal nachdenken, oder besser noch seinen Kollegen Robert Habeck fragen, der schafft nämlich gerade durch zielgenaue Wirtschafts- und Energiepolitik einen Fachkräfteüberschuss im eigenen Land, so ganz ohne Einwanderung, genial, weil zwar nicht das Wirtschaftswachstum, dafür aber die Arbeitslosigkeit anspringt. Man kann nicht alles haben. Hohe Energiepreise und gleichzeitig Wirtschaftswachstum, Massenmigration in die deutschen Sozialsysteme und gleichzeitig einen ausgeglichenen Haushalt, immer mehr junge Männer aus Ländern mit patriarchalischer Struktur und gleichzeitig innere Sicherheit, für alle, auch für junge Frauen. Man muss sich schon entscheiden können. Der Wähler wird sich entscheiden – und Cem Özdemir hat immer noch nicht begriffen, warum.

Wenn Cem Özdemir wirklich die Realität sehen will, dann genügt ein Blick in die Bild-Zeitung: „Ein bewaffneter Syrer (41) verbreitete am Samstagabend Angst und Schrecken im Ruhrgebiet. Er legte Brände und raste mit seinem Transporter in mehrere Geschäfte. 31 Menschen wurden verletzt, zwei Kinder schweben in Lebensgefahr.“

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