Es war der heimliche Höhepunkt jenes Totalschadens, der auch als Wahlkampagne der Grünen bekannt ist. Anfang Juli erwies sich nach einer Serie von Pannen und Plagiaten, dass Annalena Baerbock in ihrem persönlichen Wahlkampf-Buch Jetzt nicht nur aus diversen Zeitungsartikeln, sondern auch aus einem Buch zweier CDU-Bundestagsabgeordneter abgeschrieben hatte, eventuell vermittelt über das Grünen-Wahlprogramm, wo sich noch einmal dieselben Worte fanden. Die »Pizza-Connection« strebt an die Macht. Zwei politische Konkurrenten umarmen sich, noch bevor der Wahlkampf so richtig begonnen hat.
Dazu passt Laschets Beißhemmung gegenüber der Konkurrentin um die Macht. Er weigerte sich, den Plagiatsfall Baerbock überhaupt zu kommentieren. Kurz davor hatte Baerbock versucht, noch einmal in die Offensive zu kommen und behauptet, Laschet und Merz machten »eine Rolle rückwärts zur Politik der Neunzigerjahre« und fielen damit »hinter 16 Jahre Angela Merkel zurück«. Angeblich störte sich Baerbock an der »schwarzen Null« und Steuersenkungen im Unionsprogramm. Doch genau diese versprochenen Erleichterungen nahm Laschet kurz darauf wieder zurück. Er muss sich seines Sieges sehr sicher sein.
Baerbock hatte ihr Ziel erreicht. Bei ihrer Kritik an einer zu konservativen Union hatte sie aber wohl noch etwas anderes im Sinn. Die Union sollte den Grünen nicht ihr letztes Alleinstellungsmerkmal wegnehmen: das Neue, den »radikalen Wandel«. Das ist das Chi-chi, mit dem die Grünen ihre diversen Vorhaben gerne garnieren, um eine im Wortsinne »ultimative« Aufbruchsstimmung zu verbreiten, die sich meist nicht aus der Sache selbst ergibt. Es geht um Visionen, bis der Arzt kommt. Aber damit der Trick wirkt, sollte die Union etwas verstaubt aussehen. Ihre tatsächliche Ähnlichkeit zu den Grünen muss vergessen gemacht werden.
Tatsächlich scheinen es CDU und CSU auf dieses Chi-chi abgesehen zu haben. Im Wahlprogramm der beiden Parteien geht es inzwischen viel um E-Roller, eine »nationale Biodiversitätsstrategie« (gemeint sind Flora und Fauna) oder bessere Integration durch deutsch predigende Imame. Und das ist nicht alles, es stehen noch viel mehr Ampeln auf Grün im Wahlprogramm der Union von 2021. Das Inhaltsverzeichnis breitet sich auf zweieinhalb Seiten über »neuen Wohlstand«, »neue Fairness«, »neuen Mut« oder auch »neue Stärke« aus. Ähnlich textete die CDU schon vor vier Jahren: »Gute Arbeit auch für morgen«, »Gutes Klima auch für morgen« usw. So klang die falsche ›Erneuerungsrhetorik‹ einer damals schon strukturkonservativen Kraft, die dem Wähler trotzdem noch etwas ›Neues‹ versprechen mochte – und wenn es nur mehr vom Guten war.
Wem das nicht reicht, der darf im aktuellen Programm eine echte Erneuerung vermuten, die radikal über bisherige Unionspositionen hinausweist. Gerade so, wie uns die Grünen sagen, bald müsse alles anders werden – übrigens ganz gleich, ob eine Mehrheit das so will oder nicht. Es ist dieser autoritäre Zauber des Neuen, den sich die Unionsparteien so geliehen haben. Doch wo steht die Partei wirklich? Bietet sie nach den Merkel-Jahren etwas grundlegend Neues an oder nur mehr vom Gleichen? Gibt es eine Renaissance einst gepflegter Grundwerte und Überzeugungen? Geht die Laschet-Union wirklich in wesentlichen Fragen hinter sechzehn Jahre Merkel zurück?
Einst wie jetzt: Zehren von der Substanz, Spaltungstendenzen, angenagte Werte
Vor sechzehn Jahren beklagte die Union das »schwere Erbe« von sieben Jahren Rot-Grün. Die Unionsschwestern warnten: »Erstmals in über 50 Jahren scheint die Fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, ihren Bürgern Wohlstand, Teilhabe am allgemeinen Fortschritt und soziale Sicherheit zu gewährleisten, in Frage gestellt.« Ein reichlich schwarzes Bild malte die Union damals von Deutschland. Deutschland habe seine wirtschaftliche Dynamik unter Gerhard Schröder verloren und zehre von seiner Substanz, hieß es. Oder auch: »Unsere Gesellschaft hat mit zunehmenden Spaltungstendenzen zu kämpfen.«
Dem wollte man mit einer neuen Forschungs- und Technologie-Politik, einer Reform der sozialen Sicherungssysteme und weniger Verschuldung beikommen. Doch 16 Jahre später kann von einem gut aufgestellten Land keine Rede sein. Wichtige Fragen werden vertagt, das Land lebt – mehr als je zuvor – von der Substanz. Auch die Spaltung der Gesellschaft hat zu-, nicht abgenommen, vor allem wenn man dabei nicht nur auf das Wirtschaftliche schaut, sondern auch auf die politischen Auffassungen im Land und wie sie im öffentlichen Diskurs vertreten sind.
Die wichtigsten Themen im Unionsprogramm von 2005 waren in dieser Reihenfolge: Wirtschaft, Familie, Bildung, Soziales, Weltpolitik. Als Grundwerte traten klar eine funktionierende, privat organisierte Wirtschaft, ein noch irgendwie traditionelles Familienbild, Bildungs- und Technologieaffinität, Gemeinschaftssinn, Partnerschaft mit anderen in Europa und der Welt hervor. Fast alle diese Werte sind heute unter Beschuss oder doch arg angenagt.
Supranationale Organisationen und das Bürgerwohl
Im Programm von 2005 lag der Fokus noch relativ eindeutig auf den Bürgern, die sich eine wirtschaftsfreundliche Politik und angemessene staatliche Leistungen im Austausch für die gezahlten Steuern erhoffen. Erst am Ende kamen die ›Glamour-Themen‹ Europa und Weltpolitik. Die sind heute an den Anfang gerückt – ganz im Zeichen einer ›größer gewordenen‹ Welt und der damit gewachsenen Verantwortung für Deutschland. Doch das hat auch eine Kehrseite, wo es zuvörderst um das verantwortungsfreie Glänzen in der Welt- und Europapolitik geht und erst dann (und eventuell) um Wohlstand, Soziales und Innovation im Innern.
Ein neuralgischer Punkt des Wahlprogramms von 2021 wird durch das Wort »global« markiert, das 39 Mal in den unterschiedlichsten Zusammenhängen vorkommt. 2005 war »Globalisierung« noch ein negatives Kampfwort der Linken. Die Unionsparteien versuchten eine positive Aneignung und definierten den Begriff relativ zurückhaltend als »weltweiten Handel und weltweites Wirtschaften«. Das passte schon genug Leuten nicht. Heute hat man den Schwerpunkt Handel und Wirtschaft durch die scheinbar alternativlose Vergemeinschaftung auf weltweiter, supranationaler Ebene ersetzt.
Allerorten warten nun »große weltweite Menschheitsaufgaben«, die man angeblich nur »global anpacken« kann, was zugleich als Übernahme von Verantwortung geframet wird. Dabei delegiert man die Entscheidungen und damit Verantwortung eigentlich an eine imaginäre Weltgemeinschaft. Es ist der Kurs, den Merkel und das Polit-Establishment seit einiger Zeit verfolgen, wenn sie erst die EU, dann die WHO oder auch diverse internationale Konventionen hoch redeten.
Man möchte staatstragend klingen, redet aber vor allem von der möglichst vollständigen Integration in supranationale Organisationen, die man durchaus auch im Gegensatz zum Staatszweck Bürgerwohl sehen kann. Jede dieser Organisationen ist ein Kippbild zwischen den in ihnen versammelten legitimen Einzelinteressen und einer unheimlichen Eigendynamik. Daneben ist gar nicht klar, dass man überhaupt »internationale Verantwortung« im Wortsinn übernehmen will oder nur einer diesmal politisch-kulturellen Globalisierung hinterhertrottet, die im Grunde eine supranationale Vergemeinschaftung ist.
»Ohne Kernenergie ist eine Lösung der CO2-Problematik undenkbar«
Vergleicht man die Umwelt- und Energiepolitik der Unionsparteien von 2005 und 2021 miteinander, finden sich Sätze zum Ausstreichen en masse. Damals hieß es: »Ohne Kernenergie ist eine globale Lösung der CO2-Problematik derzeit undenkbar. Mit Wind- und Solarenergie allein sind der drastisch steigende Energiebedarf und die weltweiten Klimaschutzziele nicht in Einklang zu bringen.« Jeder weiß, welche abrupten Lehren Angela Merkel im März 2011 binnen Tagen aus einem Seebeben vor Japan zog. Offensichtlich hatte sich die globale CO2-Problematik in diesem einen Moment vollkommen verändert.
Was dabei auch hinunterfiel, war die »offene Energie-Forschung« ohne »ideologische Scheuklappen«, die man 2005 noch versprochen hatte. 2005 wollte man die von Rot-Grün aufgelegte teils »exorbitante Subventionierung« der erneuerbaren Energien zurückfahren. Doch im letzten Jahr stammte knapp die Hälfte der deutschen Stromerzeugung aus den Erneuerbaren, auch dank milliardenschweren Förderprogrammen und einem einmalig hohen Strompreis.
2005 war die Umweltpolitik noch frei diskutierbar, in ihr konnten Pro und Contra einer Entscheidung abgewogen werden. So hieß es: »Umweltpolitik hat dort Grenzen, wo sie Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen unangemessen behindert. Investitionsverhinderung durch jahrzehntelange Verfahren kann sich Deutschland nicht mehr leisten.« Das war das liberale und konservative, am Ende auch soziale Denken der Union von 2005. Heute hat die so berühmte wie bemühte Klimawandelschutzpolitik den Platz dieser Abwägung eingenommen. Das Programm von 2021 spricht allen Ernstes von »internationaler Klimafinanzierung« in der Dritten Welt, wobei dann auch der Umweltschutz eine Nebenrolle spielen mag. »Die Herausforderungen der Erderwärmung sind global.« Mit solchen Sätzen wird aber keine vernünftige und maßvolle Umweltpolitik ausbuchstabiert, sondern ein Dogma verbreitet.
Der Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie ist in den letzten Jahren weitestgehend weggebetet worden – erst von den grünen Hohepriestern, dann von den Tempeldienern aus der Wirtschaft. Die Grünen argumentieren dabei vor allem ideologisch, weil sie den »grünen« Wandel um jeden Preis befürworten, die Wirtschaftsmanager eher pragmatisch, weil sie auch in einer grün regierten Volkswirtschaft überleben wollen und sich vielleicht Vorteile in Form staatlicher Subventionen versprechen. Auch die Unionsschwestern sind heute ganz auf den Zug des »Green Deal« aufgesprungen, den sie nun als »Wachstumsstrategie« präsentieren.
Ein- und Abwanderung: Ein rationales System fehlt auf ganzer Breite
Sieht man das im Unionsprogramm von 2005 mit Blick auf Migration durch, dann findet man zuerst einige Stellen, an denen es um die anhaltende oder drohende »Abwanderung« von Betrieben und Arbeitsplätzen geht – ein trumpistischer Topos avant la lettre. Daneben versprach die Union von 2005 eine relativ strikte Zuwanderungsbegrenzung. Die Zuwanderung sollte sich »auf Mangelberufe und auf Ausländer begrenzen, die in Deutschland zu Spitzenleistungen in Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und Kultur beitragen können«. Das klang eher nach Großbritannien oder Australien als nach Merkels späterer Politik.
Im heutigen Unionsprogramm werden die Begriffe Flucht, Asyl und dauerhafte Zuwanderung ständig durcheinander geworfen. Die diesbezüglichen Satzgespinste lassen sich kaum widerspruchsfrei zitieren. So wird dieselbe Zuwanderungsart einmal mit dem »Grundrecht auf Asyl« begründet und verbunden, dann wieder als »gezielte« und dauerhafte Einwanderung bezeichnet.
Klar wird: Die Unionsparteien halten an ihrem offenen Kurs in Sachen illegaler Migration fest. Noch ein semantischer Bandwurm-Paragraph kann das verdeutlichen: »Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme lehnen wir ab. […] Dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir notleidenden Menschen dauerhaft helfen können.« Die Erfahrung zeigt aber gerade, dass irreguläre Zuwanderung – egal ob nachträglich »geordnet und gesteuert« oder nicht – zu oft eine in die Sozialsysteme ist. Die Worte »dauerhaft helfen« sind hier beinahe ein Freudscher Versprecher, denn darauf wird es in vielen Fällen hinauslaufen. Elemente eines rationalen, am Eigeninteresse orientierten Systems wie in Kanada, Australien oder neuerdings Großbritannien sucht man vergebens.
Die Abkehr der Union von ihrer Kultur
An anderen Stellen fällt ein neuer Ton auf, der weniger individualistisch und liberal als vielmehr kollektivistisch ist. So waren Kunst und Kultur im Programm von 2005 noch »untrennbar mit der Identität der Deutschen als Nation verbunden«, erwuchsen aber zugleich »aus dem Gestaltungswillen von Menschen und der Kreativität von Künstlern, deren Voraussetzung die Freiheit der Kunst ist«. Etwas Ähnliches sucht man im neuen Programm vergeblich. Stattdessen gilt Kultur der Union von heute als »wichtiger Standortfaktor«, daneben als »Ausdruck von Humanität«.
Deutlich wird so ein hypermoralischer Anspruch an Kunst und Kultur. Kultur soll heute aktiv »Identität, Gemeinschaft und Zusammenhalt« stiften. Doch es geht noch sozialistischer: Kunst- und Kulturerlebnisse sieht man bei der Union als »entscheidende Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland«. Wenn das nur zum Funktionieren kommunaler Kultureinrichtungen führen würde – aber von Präsenz und Live-Kultur ist nicht direkt die Rede.
Insgesamt bleibt in der Innen- und Wirtschaftspolitik – zumal wenn man die versprochenen Steuersenkungen abzieht – ein ziemlich unambitioniertes Programm. Es setzt vor allem darauf, dass die Unionsparteien den Deutschen als die natürlichen Regierenden erscheinen. Außer Besitzstandswahrung bietet es Wählern aller Couleur keine Haltepunkte, aus denen sie ein positives Bekenntnis zu den beiden Parteien ableiten könnten. Wie sagte es Generalsekretär Paul Ziemiak jüngst? Die Union ist »nicht die Partei des Entweder-oder, sondern des Sowohl-als-auch«. Mehr Mitte und Standpunktverweigerung geht kaum. Es bedeutet aber zugleich, dass man links und rechts weite Räume freilässt. Insofern sind auch steigende Umfragewerte mit Vorsicht anzusehen. Angela Merkel hat der Union gezeigt, dass sie auch unterhalb der 30-Prozent-Marke ein Zuhause hat.