Während seines zunächst erfolglosen, mehrjährigen Kampfes um den CDU-Parteivorsitz versuchte Friedrich Merz zu dessen Beginn, die für die Wahl zuständigen Parteitagsdelegierten unter anderem mit der Ankündigung für sich zu gewinnen, unter seiner Führung werde es der CDU gelingen, einen Großteil der zur AfD abgewanderten einstigen CDU-Wähler zurückzugewinnen. Entsprechend versprach er seiner Partei, das letzte Bundestags-Wahlergebnis der AfD von rund 10 Prozent zu halbieren. Entgegen diesem Versprechen rangiert die AfD nach Merz’ mittlerweile mehr als zweijährigen Amtszeit als Bundesvorsitzender der CDU laut der jüngsten INSA-Sonntagsfrage für die Bundestagswahl mit 17 Prozent an zweiter Stelle hinter der CDU. In den drei ostdeutschen Bundesländern, in denen im September Landtagswahlen stattfinden, steht sie mit teilweise mehr als 30 Prozent derzeit sogar jeweils an Platz eins.
Dieses Manöver gleicht dem Vorgehen eines Kapitäns auf einem Segelschiff. Aufgrund der herrschenden Windverhältnisse muss er mühsam gegen den Wind kreuzen, um gleichsam auf Umwegen an sein Ziel zu kommen. Er fährt deswegen Wenden, durch die er sein Schiff seinem Ziel näherzubringen versucht, das im Falle des Kapitäns Merz das Kanzleramt in Berlin ist. Nachdem sich immer mehr abzeichnete, dass dieses Ziel auf dem bislang eingeschlagenen Linkskurs in immer weitere Ferne rückt, hat der neu eingesetzte Steuermann Linnemann den Kreuzer CDU mit seinem Grundsatzprogramm nun gegen einigen innerparteilichen Gegenwind auf Rechtskurs gebracht, um so Ende des nächsten Jahres wieder im Kanzleramt festmachen zu können.
Helfen soll dabei unter anderem das Versprechen einer deutlich restriktiveren Asyl- und Migrationspolitik sowie das Bekenntnis zu einer deutschen Leitkultur, an die sich Einwanderer anzupassen haben, um deutsche Staatsbürger werden zu können. So soll der von der Union Anfang der 1990er Jahre erkämpfte und von Merkel 2015 endgültig außer Kraft gesetzte Artikel 16a des Grundgesetzes wieder Anwendung finden. Er verwehrt Asylbewerbern, die aus sicheren Drittstaaten innerhalb oder außerhalb der EU nach Deutschland eingereist sind, den Anspruch auf Asyl und wurde von der EU in Gestalt der sogenannten Dublin-Regeln auf alle Mitgliedsländer übertragen. Asyl haben demnach laut geltender Gesetzeslage alle EU-Staaten nur denjenigen Asylbewerbern zu gewähren, die in dem jeweiligen Land erstmals den Boden der EU betreten haben. Diese vor allem in Deutschland nur noch rudimentär praktizierte Regelung will die CDU, gemäß ihrem Grundsatzprogramm, wider Erwarten nun reaktivieren.
Zugleich soll jeder, der in der EU Asyl beantragt, „in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Fall eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren.“
Entsprechende Vereinbarungen sollen außerhalb der EU nur mit solchen Drittstaaten getroffen werden, die die humanitären Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausreichend erfüllen. Asyl innerhalb der EU, und damit auch in Deutschland, sollen auf diese Weise nur noch Asylbewerber erhalten, die im Rahmen eines jährlich EU-weit neu vereinbarten Aufnahme-Kontingents in die EU geholt und dort dann auf die einzelnen Mitgliedsländer verteilt werden. Ein Konzept, das auf Vorschlägen beruht, die der niederländischen Migrationsforscher Ruud Koopmans in seinem letzten Buch über die zynische „Asyllotterie“ der europäischen Migrationspolitik beschrieben hat, um dem milliardenschweren Geschäftsmodell der Schleuser den Stecker zu ziehen.
Zusätzlich müssen laut CDU-Grundsatzprogramm alle Einwanderer, egal wie sie nach Deutschland gekommen sind oder noch kommen werden, wenn sie dauerhaft hierbleiben wollen, „unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen“. Zu ihr gehören „die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen und die daraus folgenden Grund- und Menschenrechte, unser Rechtsstaat, demokratische Grundprinzipien, Respekt und Toleranz, das Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit, Kenntnis der deutschen Sprache und Geschichte sowie die Anerkennung des Existenzrechts Israels.“ Da einiges davon insbesondere von den auch in Deutschland immer zahlreicher werdenden Repräsentanten und Anhängern eines Politischen Islam offen abgelehnt und bekämpft wird, gehört diese auch in Deutschland größer und stärker werdende Strömung des Islam laut CDU „nicht zu Deutschland“.
Die Hoffnung auf das Kanzleramt könnte aber trügen, geht die Ankündigung doch mit einer programmatischen Wende der CDU nach rechts einher, die angesichts aktueller Umfragen notgedrungen die Frage aufwirft, mit welchem Koalitionspartner Merz sie politisch in die Tat umsetzen will, sollte er wunschgemäß als Sieger aus der nächsten Bundestagswahl hervorgehen. Eine absolute Mehrheit der beiden Unionsparteien kann angesichts aktueller Umfragen ebenso ausgeschlossen werden wie eine Mehrheit für eine Mitte-Rechts-Koalition mit der dahinsiechenden FDP. Aufgrund der Brandmauer gegen die AfD müsste Merz erneut eine Mitte-Links-Koalition entweder mit der SPD oder den Grünen, gegebenenfalls unter Hinzuziehung der FDP, sollte sie im nächsten Bundestag noch vertreten sein. Ersatzweise könnte für eine erneute Mitte-Links-Koalition auch noch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) eine Rolle spielen. In Frage könnte außerdem noch eine schwarz-rot-grüne Kenia-Koalition aus CDU/CSU, SPD und Grünen kommen.
Mit anderen Worten: Der CDU fehlen die Koalitionspartner und damit die Machtperspektive für eine Umsetzung der von ihr inzwischen propagierten Mitte-Rechts-Politik. Mit der AfD will sie nicht koalieren und mit der SPD und den Grünen dürfte sie nicht koalieren, sofern sie ihr neues Grundsatzprogramm nicht nur ausgearbeitet und veröffentlicht hat, um ihre Chancen auf das Kanzleramt zu verbessern, sondern tatsächlich verhindern will, dass das Land durch die SPD und die Grünen nicht nur in der Asylpolitik weiter gegen die Wand gefahren wird.
Für wen sich die wachsende Anhängerschaft einer Mitte-Rechts-Politik bei den anstehenden Wahlen entscheiden wird, bleibt vor diesem Hintergrund sowie angesichts eines größeren Parteiangebots rechts der Mitte höchst ungewiss. Keineswegs auszuschließen ist daher, dass der von Merz eingeschlagene Kurs für die Bundestagswahl unter erheblichen Druck gerät, sollte es der CDU bei den diesjährigen Landtagswahlen in Ostdeutschland nicht gelingen, stärker als die AfD abzuschneiden. Hendrik Wüst, Daniel Günther und ihre inner- wie außerparteilichen Mitstreiter warten daher derzeit nur ab, ob sich Merz’ Wende nach rechts bei den nächsten Wahlen für die CDU auszahlt oder nicht.
Sollte sie dies nicht tun, werden sie versuchen, den Kreuzer CDU noch vor der Bundestagswahl eine weitere Wende fahren zu lassen, die programmatisch wieder nach links hin zur SPD und den Grünen führt und die Wähler rechts der Mitte, wie zu Merkels Zeiten, der AfD und den Nichtwählern überlässt. Ob sie so den Hafen Kanzleramt eher erreichen werden als auf Merz’ Rechtskurs, ist freilich nicht minder ungewiss wie der Erfolg eines Vorgehens, das diese Wähler nicht abschreiben, sondern wieder für die CDU gewinnen will. Sicher scheint angesichts solcher Unsicherheiten derzeit nur eines zu sein: mit der CDU wird es trotz ihrer programmatischen Wende nach rechts zu keiner Mitte-Rechts-Regierung wie in Italien und Finnland sowie jüngst auch in den Niederlanden kommen.