Auch schlimmste Wetter lassen sich auf hoher See mit solider Navigationsausrüstung überstehen. Das ist in der Politik anders, wo dem Kurshalten selbst mit Unterstützung modernster Informations- und Kommunikationstechnologie die unbestimmbaren Unwägbarkeiten der Zeitläufte entgegenstehen. Was anderes hätte Bundeskanzlerin Merkel auf die Frage von Anne Will nach dem einzuschlagenden Politikkurs in ihrer angestrebten vierten Amtszeit auch sagen sollen als: „Ach wissen Sie, ich passe meinen Kurs der jeweiligen Wirklichkeit an“?
In ihrer unnachahmlich unprätentiösen, von pommersch-norddeutscher Direktheit geprägten Art hat Angela Merkel mit dieser Antwort alles das auf den Punkt gebracht, was in ihrem Arbeitsstil als methodischer Ansatz von Problembewältigung angelegt ist: Immer sutje, Eile mit Weile, schaun mer mal …
Unter diesem weitgespannten Strategieschirm war es in ihren beiden letzten Amtsperioden immerhin möglich, denkbar gegensätzliche Politikziele stets mit dem Anspruch auf Alternativlosigkeit versehen zu verfolgen:
- Ausstieg aus der Kernenergie vs vorangegangener Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken;
- Einführung staatlicher Lohnpolitik verbunden mit planwirtschaftlicher Steuerung von Teilen der Wirtschaft, insbesondere der Energiemärkte vs Bewahrung des Ludwig Erhard’schen Erbes der Sozialen Marktwirtschaft;
- Gewährenlassen des familienfeindlichen Gender Mainstreaming vs Schutz der Familie;
- Bestehen auf einer Politik der „Offenheit“ ohne Obergrenzen der Zuwanderung vs Bemühen um den Schutz der EU-Außengrenzen;
- Nichteinhaltung der übernommenen Verpflichtungen bei den Verteidigungslasten, Hinnahme nur bedingter Einsatzbereitschaft der Streitkräfte und Aussetzung der Wehrpflicht vs Betonung der Äußeren Sicherheit im Militärbündnis der NATO;
- Abkehr vom Ziel eines stabilen Euro verbunden mit schleichendem Übergang in eine vertragswidrige europäische Transfer- und Haftungsunion vs ursprüngliche Beschwörung des Gegenteils, der Fortführung der von der Bundesbank verfolgten Politik der Währungsstabilität.
Wer sich angesichts einer solchen zum Standard erhobenen Politik der Widersprüchlichkeit über das Aufbegehren weiter Teile der Wählerschaft gegen das regierende Politikestablishment wundert, ist eingeladen, für zehn Minuten zu versuchen, sein Blickfeld (sein „Narrativ“) für einige Betrachtungen über den eigenen Tellerrand hinaus zu öffnen. Unbestritten dürfte unter den Vertretern sämtlicher politischer Richtungen sein, dass sich sowohl Regierungen und meinungsbildende Medien als auch das Wahlvolk einer allgemeinen Orientierungskrise ausgesetzt sehen, seit sie von den Ausläufern jener Umbruchtriade erfasst wurden, die ich an anderer Stelle beschrieben habe: mit den um die Jahrtausendwende zeitgleich auf sie einstürmenden kumulativen Wirkungen von Globalisierung in der Wirtschaft, digitaler Revolution in der Technik und demographischer Schere in der Gesellschaft.
Dass sich Otto Normalverbraucher angesichts dieser nicht nur gefühlten sondern mit allabendlichen TV-Schlauchboot-Videos drastisch untermalten Bedrohung existenziell betroffen fühlt, dürfte jeder nachvollziehen können, der sich in diesem Punkt selbst als Otto Normalverbraucher sieht. Da nicht auf sämtliche Bedrohungsszenarien eingegangen werden kann, von denen die meisten unsichtbar für das Publikum im Off der Tagesschau ihr Unwesen treiben, soll hier exemplarisch ein Klärungsversuch zu einem verbreiteten Missverständnis in der Flüchtlingsfrage unternommen werden, zumal sie aufgrund permanenter visueller Nachrichtenübermittlung am eindringlichsten präsent ist und von daher die Gemüter am meisten erregt.
Geschehen lassen …
Selbstverständlich muss Menschen in Not ohne Wenn und Aber geholfen werden. Von diesem unstreitigen Allparteien-Werteverständnis können wir ausgehen, wenn wir nach einem Lösungsansatz suchen, der über die akute Krisenbewältigung hinaus auch die zweifelsfrei viel bedrückender sich stellende Aufgabe zukünftiger Regulierung der Migrationsströme mit in den Blick nimmt. Dieser weitergefassten Problemsicht muss sich verantwortliche Politik ebenso ohne Wenn und Aber stellen, weil von ihrem Gelingen oder Misslingen die Erhaltung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen Europas und damit nicht zuletzt seine dauerhafte Hilfsfähigkeit für andere abhängt. Wer dem zustimmt, wird sich einer ungezügelten Invasion Europas aus dem rasanten Bevölkerungszuwachs benachbarter Kontinente nicht tatenlos ergeben wollen.
Und er wird sich auch nicht zum geistigen Handlanger internationaler Menschenhändlerbanden machen lassen wollen, ohne deren kriminelles Tun es den wilden und opferreichen Transfer über das westliche Mittelmeer gar nicht gäbe. Diesem skrupellosen Geschäftsmodell einen Riegel vorzuschieben wird nur dadurch zu bewerkstelligen sein, dass der hilfsbereite Einsatz bei der Rettung in Seenot geratener Menschen mit dem Unterlassen von Anreizen für die Schleuser einhergeht, ihr teuflisches Spiel immer wieder aufs Neue zu beginnen. Nach Lage der Dinge kann dies nur durch einen Aufnahmestopp für die geretteten Opfer in Europa und ihre Rückführung an die Herkunftsküsten zu lösen sein, wie dies in anderen Teilen der Welt mit Erfolg praktiziert wird.
Eine unserem Werteverständnis gemäße Hilfe einerseits und der Schutz vor wilder Invasion andererseits sind bei klugem Vorgehen durchaus auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dies umso mehr, wenn die politischen und finanziellen Kräfte der Europäer stärker als bisher darauf fokussiert werden, mit dem Auf- und Ausbau ökonomischer Infrastrukturen Voraussetzungen zu schaffen, dass Afrikaner keine Veranlassung mehr haben, ihren Kontinent unter Todesgefahr zu verlassen, um ein besseres Leben zu führen.
Versteht man die unbändigen Kräfte, mit denen die Umbruchtriade auf alle Ebenen unseres Alltagslebens einwirkt als neue Bestimmungsgrößen auch für unser soziales und politisches Verhalten, werden in allen westlichen Demokratien die politischen Parteien Auftrieb erhalten, die sich auf diese grundlegend veränderte mentale Verfassung der Menschen eher einzustellen bereit sind als jene, die über diese Empfindungen hinwegsehen oder sie gar als übertrieben oder nicht gerechtfertigt abweisen. Wenn die Menschen in bewegten Zeiten Schutz vor den sie bedrängenden Gefahren suchen, werden sie denen ihr Vertrauen entziehen, die sich von ihrem vergeblichen Bemühen nicht abbringen lassen, die unbezwingbare Tsunamiwelle der Umbruchtriade immer wieder ausreiten zu wollen.
Der Brexit der Briten, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, das Aufkommen neorechter Parteien in vielen Ländern Europas, die letzten Landtagswahlergebnisse der Kanzlerpartei in Deutschland, besonders in Angela Merkels Heimat Mecklenburg-Vorpommern, wo die einst mächtige Einheitspartei CDU auf ein Minderheitenergebnis unterhalb der AfD absackte – alle diese Ereignisse und Erscheinungen können schwerlich anders als ein Misstrauensvotum gegen die regierenden Mächte in den Demokratien diesseits und jenseits des Atlantik gesehen werden.
… ist schlimmer als tun
Was Deutschland angeht wäre es zu billig, allein die Kanzlerin für den epochalen Einbruch in der Parteienlandschaft verantwortlich zu machen. Auch wenn sie in den bisherigen elf Jahren ihrer drei Amtsperioden die von der Verfassung vorgegebene Parteiendemokratie in eine Präsidialdemokratie überführt und dabei die CDU auf ein konturenloses Zustimmungsgremium für ihre eigene Agenda zurechtgestutzt hat, kann man das nicht Angela Merkel zum Vorwurf machen. Sie hat Spielräume genutzt, die ihr die einst staatstragende Volkspartei nach ihrer Amtsübernahme bot. Die CDU ist ihr umso eher gefolgt, als sie stets bemüht war, den Markenkern der Partei mit Sozialer Marktwirtschaft, Familienpolitik und Äußerer Sicherheit nach außen wie eine Monstranz vor sich herzutragen.
Dabei hätte die Partei merken müssen, dass die Kanzlerin im Laufe der Jahre die Koordinaten in den relevanten Politikfeldern un-merklich verschoben hat. Der eingangs vorgeführte „Katalog der Widersprüchlichkeiten“ legt Zeugnis von diesem Manöver ab. Berthold Kohler spricht von der „Linksverschiebung der CDU“, mit der sie zwar wagemutig neue Wählerkreise im hart umworbenen linken Milieu erschlossen hat, dabei aber leider das konservative Lager nahezu kampflos den „Freibeutern von der AfD“ überließ.
Es ist nicht die Schuld Angela Merkels, wenn jetzt die CDU dabei ist, das Schicksal der SPD (wenn auch aus anderen Gründen) zu erleiden. Denn das Schlimme entfaltet seine negativen Kräfte oft weniger durch den, der das Fragwürdige tut, als vielmehr durch jene, die ihn bei seinem verhängnisvollen Tun gewähren lassen. Mag die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin für das Absinken der CDU in der Gunst der angestammten Wähler nach wie vor eine Rolle spielen. Unmut, Zorn und Abkehr eines Großteils der alten Stammwählerschaft der Adenauer-Erhard-Kohl-Partei richtet sich inzwischen vor allem gegen jene breite Repräsentanz des Parteiestablishments in Bund und Ländern, in Ministerien, Parlamenten und verantwortlichen Positionen der Staatsverwaltung, die durch ihr beliebiges und anpasserisches Handeln den alten Markenkern der Partei bis zur Unkenntlichkeit malträtiert und die Beantwortung der Frage zu einem schweigenden Schulterzucken hat werden lassen, was die CDU heute eigentlich noch von der SPD und den Grünen unterscheidet.
Gastautor Wolfgang Müller-Michaelis ist Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Honorarprofessor für Angewandte Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg und maßgeblich bei den Rotariern tätig.