Tichys Einblick
Eine Abrechnung

Causa Gardasee: Die Kapitulation des deutschen Auslandsjournalismus

Mehr als eine Woche brauchten die deutschen Medien, um von den Krawallen in Peschiera zu berichten. Der Vorfall ist symptomatisch für die Auslandsberichterstattung, die nicht informieren, sondern Ereignisse im Ausland nur einordnen will, wenn es der Sache dient. Am Beispiel Italien wird das besonders deutlich.

Screenprint: via twitter

Mehr als eine Woche ist vergangen, bis in den etablierten Medien des deutschen Meinungsspektrums die Vorfälle am Gardasee zum Thema wurden. Am Wochenende schaffte es dann ein Hashtag wie #Gardasee sogar in die Twitter-Trends. Die vermeintliche Party am Gardasee, die in Wirklichkeit ein abgesprochener Mob von auf Krawall gebürsteten Migranten war, die sich in den Slums der Städte zum flotten Ausflug am heilen Sehnsuchtsort trafen, eskalierte nicht nur vor Ort. Noch in den Zügen folgten die Belästigungen gegen junge Italienerinnen.

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Es ist das zweite traumatische Erlebnis nach der Mailänder Silvesternacht. Ähnlich wie damals gibt es nun wieder eine große Debatte über gescheiterte Integration. Doch es gibt einen großen Unterschied.

In Peschiera wurde mehr zerstört als in Mailand. Das bürgerliche, konservative und rechte Spektrum hat sich bisher mit der Fantasie anästhesiert, dass die Städte verloren seien, aber man ja auf dem Land gut leben könnte: Sollen doch die Brennpunkte vor die Hunde gehen, bauen wir uns woanders unsere Exile auf. In Peschiera hat dieser fromme Wunsch sein Ende erfahren. Nordafrikaner, die in Mailand leben, können in einer halben Stunde in die Provinz, um Krawall zu machen. Peschiera ist – wie der Großteil der Gardasee-Umgebung – traditionell eher konservativ geprägt, in Venetien dominiert die Lega die Politik seit Jahren.

Nach dem Gardasee sollte Riccione folgen

In Riccione, dem gehobeneren Badeort bei Rimini, wollten Migranten ähnlich wie in Peschiera zuschlagen. „Peschiera war nur das Warmmachen – sehen wir, wie es in Riccione wird“, textete ein Migrant zu einem TikTok-Video mit marokkanischer Flagge. Sicherheitskräfte würgten die Szenen im Voraus ab. Wenigstens hat man erkannt, dass nach dem Hölleneinbruch von Peschiera ein Exempel statuiert werden muss. Nach zwei Jahren Corona rücken die Hypotheken der Vergangenheit wieder in den Vordergrund.

Der Fall Peschiera ist aber nicht nur ein weiteres Fragment in der italienischen Auseinandersetzung mit dem nordafrikanischen Migrationsproblem. Es ist vor allem auch ein Fall, der symptomatisch für die Auslandsberichterstattung deutscher Medien steht. Sie gilt auch für andere Länder – ob Frankreich, Ungarn, Polen oder Griechenland.

Während TE bereits am 5. Juni über die Ausschreitungen berichtete, und der Artikel zu den meistgelesenen dieses Monats gehört, hat sich nahezu die gesamte deutsche Korrespondentenschaft vor der Behandlung des Falls herumgedrückt. Während die Kameras sofort auf jedes Flüchtlingsboot in Mittelmeer gerichtet wird, sobald es in Küstennähe rückt, sind die damit einhergehenden Konsequenzen nicht der Rede wert – vielleicht auch deswegen, weil man die deutschen „Seehelden“ vor der Küste gerne in Szene setzt, das Problem dann aber anderen überlässt.

Salvini: „Wenn ihr euch in Italien nicht wohlfühlt: Ciao, ciao, die Welt ist groß“

Wie schon bei der Mailänder Silvesternacht dauerte es, bis das Thema dann doch in die Medien sickerte – aber erst, weil es nicht mehr zu ignorieren war, weil der Diskurs der italienischen Öffentlichkeit eine Woche lang kaum ein anderes Thema kannte. Spätestens als Lega-Chef Matteo Salvini polterte, musste Peschiera dann doch diskutiert werden – und war es nur, um Salvini eins auszuwischen. Der teilte nämlich kräftig aus: Alle, die sich nicht in Italien wohlfühlten, sollten verschwinden, Eltern ihren Söhnen eine mitgeben, und die Jugendlichen als voll straffähig zur Rechenschaft gezogen werden. O-Ton: „Wenn ihr euch in Italien nicht wohlfühlt: Ciao, ciao, die Welt ist groß.“

Reiseland Italien
Zoff am Gardasee: Party, Prügeleien und sexuelle Belästigungen
Dabei entlarvt die Causa abermals die gesamte Kapitulation des mit ideologischer Schlagseite fahrenden Medienbetriebs. Der kosmopolitisch mimende Auslandsjournalismus deutscher Herkunft ist ressentimentgeladen wie provinziell: Themen aus dem Ausland, aber bitte nur dann, wenn sie ins Schema und zur heimischen Ideologie passen.

Der Bayerische Rundfunk kritisierte etwa Salvini dafür, die Vorfälle „politisch auszuschlachten“, und räumte dann weiträumigen Platz für eine Migrantenvertreterin ein, die sich über die Ausländerfeindlichkeit der Italiener beklagte. Sie entschuldigte die sexuellen Übergriffe mit der „Kraft des Rudels“, das aus „Unzufriedenheit“ heraus agiere. Anders als bei Salvini ordnet der BR diese Äußerungen nicht als das ein, was sie sind: nämlich Verharmlosungen und Täter-Opfer-Umkehr. Stattdessen stellt man sogar eine Reform des Staatsbürgerrechts in den Vordergrund – so, als lösten sich damit Vergewaltigungen in der Luft auf. Selbst im offenkundigen Moment des Versagens muss das Ereignis noch in die richtige Richtung gedreht werden.

Empörung über Salvini, aber nicht über die Migrantenvertreterin, die Peschiera verharmloste

Die Gewichtung macht klar, wer Protagonist und wer Antagonist in der Causa ist. Die Spielverderber tauchen wie in einem Brecht-Stück zur Belehrung auf. Doch Peschiera ist nur die Spitze des Eisbergs in einer jahrelang ideologisch-pädagogischen Berichterstattung. Sie betrifft auch andere Themenbereiche. Da wird die Presse in Italien als putinfreundlich deklariert, weil beim russischen Außenminister Lawrow nicht nachgefragt wird – was auch für die Italiener mehr als merkwürdig ist, denn während Premierminister Mario Draghi fast wöchentlich schweres Kriegsgerät per Dekret nach Kiew verschiebt, ist die Ampel von Bundeskanzler Scholz auch im Ausland mittlerweile als Lippenbekenntnis-Regierung bekannt. Sich über die angeblich russophilen Italiener als abschreckendes Beispiel zu beklagen, statt mal im eigenen Augiasstall der Fadenscheinigkeit aufzuräumen, fällt eben leichter.

Ähnlich sah es mit der abgesagten Moskau-Visite Salvinis aus. In keinem deutschsprachigen Medium kam der eigentliche Drahtzieher, nämlich der Vatikan, ins Spiel. Überall musste die Reise als das absonderliche Projekt des Russland-hörigen Salvini dargestellt werden. Dem deutschen Zuschauer werden nicht nur die wahren Abläufe vorenthalten; ihm werden vor allem die eigentlichen Mechanismen, die Italien ausmachen – etwa die Verdrahtung mit der Kirche und die jahrzehntelange Verbandelung nahezu aller Parteien mit Moskau – nie erklärt.

Auf ganz ähnliche Weise muss man auch TE lesen, wenn man tatsächlich wissen will, warum etwa Ungarn die Öl-Sanktionen nicht wollte. Hintergründe irritieren den Leser, das ist offenbar die Gedankenwelt bei den Korrespondenten geworden. Dass die Annäherung Salvinis an den Vatikan und damit eine politische Umkehr der Kurie die eigentliche Nachricht ist, will keiner wissen – obwohl die Katholische Kirche als immer noch bedeutender Stimmungsmacher Einfluss auf die Parlamentswahlen nehmen wird.

Die Medien warnen lieber vor „Postfaschisten“, als zu berichten, warum diese Zulauf haben

Die Lieblingsfiguren des außenpolitischen Marionettentheaters zur Unterhaltung des in Internet-Zeiten komplett isolierten Michels sind neben dem (angeblich) angezählte Demagogen Matteo Salvini die „Postfaschisten“ von Giorgia Meloni, deren Fratelli d’Italia (FdI) im Kommen sind. „Postfaschisten“ ist sowieso eine drollige Bezeichnung in der deutschen Medienlandschaft. Er wird dem Betreffenden angefügt, damit an ihm wenigstens etwas faschistischer Ruch haften bleibt, ohne sein politisches Programm erklären zu müssen.

Nähme man die Bezeichnung wortwörtlich, bedeutete er das glatte Gegenteil: Denn post-faschistisch hieße ja gerade, dass eine solche Partei den Faschismus überwunden hat und gerade deshalb einen solchen Ruch nicht mehr erfahren dürfte. Die Ursachen, warum Parteien wie die Lega oder FdI gewinnen, werden nicht beleuchtet, und wenn, dann mit jenen linken Vorurteilen, die die Leute erst recht zur Wahlurne der Rechten treiben.

Übergriffe an Neujahr
Kölner Silvesternacht am Dom zu Mailand
Auf die Idee, die umbenannte SED in Deutschland als das zu benennen, was sie ist, käme dagegen keiner. Die eigenen unbewältigten Leichen im Ideologiekeller halten aber die Journalisten der bunten Republik nicht davon ab, ähnlich für Italien wie für Deutschland den Aufstieg des Vierten Reiches zu postulieren, wenn mal nicht die eigene Partei gewinnt. Rechte sind immer dieselben Nazis von gestern, Kommunisten und Sozialisten haben sich dagegen stets „geändert“. Dass Letzteres auch Mussolinis Wandlung vom Sozialisten zum Faschisten inkludieren könnte, so weit denkt man weder in den heimischen Redaktionsstuben noch in den Korrespondentenbüros.
Italien als hässliches Gegenbild zum woken Deutschland

Freilich geht es den Medien gar nicht um Salvini, Meloni oder Berlusconi. Es geht immer um den politischen Gegner. Ein Vertreter des Spektrums rechts der Mitte gilt als wandelnder Beelzebub, solange er erfolgreich ist. Krokodilstränen weinen die Auslandsjournale nur dann „bürgerlichen“ oder „gemäßigt rechten“ Kandidaten nach, wenn sie – etwa wie die französischen Republikaner – so zusammengeschrumpft sind, dass sie keine Bedrohung mehr darstellen. Man hält sich den ehemaligen politischen Gegner dann wie einen ausgestopften Papagei im Käfig, um ihm gönnerhaft einen Keks anzubieten, obwohl er längst tot ist. In etwa so trauern deutsche Medien um die italienische Christdemokratie, nachdem sie jahrzehntelang mit den Sozialisten liebäugelten.

Die Italienberichterstattung, insbesondere im ÖRR, aber selbst in Zeitungen wie der NZZ, hat in einigen Fällen einen ideologisch-suprematistischen Charakter. Das Südland mit seinen korrupten Politikern und ewiggestrigen Faschisten muss als Gegenbild zum mitteleuropäischen Saubermann herhalten. Der Kontrast muss umso stärker erscheinen, je schlechter die Zustände im vermeintlich besten Deutschland aller Zeiten wirklich sind.

Korrespondenten geht es nicht mehr um andere Länder, sondern um deutsche Innenpolitik

Zwar haben in jüngerer Zeit Ostdeutsche und die AfD die Lücke geschlossen, um die Aversion auch gegen inländische Feindbilder zu richten. Doch das Ausland wirkt weiterhin als Projektionsfläche, die Schreckenszeit unter Innenminister Matteo Salvini hat lediglich die Aufgabe, Fernsehzuschauer und Zeitungsleser darüber zu belehren, was los wäre, hätte die AfD das Ruder in der Hand. Der Trubel um Carola Rackete, deren Bereicherungskultur ihren Anteil an den Sommerspielen von Peschiera hatte, war eine Zelebrierung des vermeintlich woken, „schönen Deutschen“ im Gegensatz zur hässlichen Fratze des Rechtspopulisten, und damit ein Fernspiel gegen die Migrationskritiker in der eigenen Heimat.

Italienische Ukraine-Politik
Salvini: Im Auftrag Gottes nach Moskau?
Ähnlich wie Tacitus‘ „Germania“ weniger die Zustände in Germanien beschrieb, denn eher die Zustände in Rom kritisierte, arbeiten daher deutsche Journalisten, wenn sie aus Rom und Paris (oder Warschau und Budapest) berichten. Sie sind das exakte Gegenteil dessen, was echte Auslandsexperten vom Schlage eines Titanen wie Peter Scholl-Latour ausmachte. Der Weltreisende hatte stets eine abendländische Perspektive eingenommen, weil er sich seiner abendländischen Identität bewusst war und diese nicht verhehlte; er hat aber selbst die fernsten und exotischsten Länder ihrer selbst willen bereist, erklärt und dargestellt.

Dagegen überwiegt heute der deutschlandfixierte Auslandsbericht. Die Korrespondenten verharren geistig in Berlin, selbst wenn sie sich auf einer römischen Piazza oder einem Pariser Boulevard bewegen, weil sie sich in der eigenen Blase zumeist auch nur mit Gesinnungsgenossen treffen, die ihr jeweiliges Landesbild stärken. Bevor ein deutscher Journalist ein ehrliches Gespräch mit einem Lega-Politiker oder FdI-Wähler sucht, redet er lieber mit 100 „Sardinen“, einem linken Alternativprotest, der ein Sturm im linksliberalen Wasserglas war, aber eben auch nicht mehr. In Deutschland berichtete man einst darüber, als handelte es sich um die Proteste auf dem Maidan in Kiew. Alles zugunsten eines Anti-Salvini-Narrativs.

Die Kaprizierung auf Erregungsmomente wie Salvini lässt keinen Platz für das große Bild

Zu welchen Kapriolen und Falschdarstellungen eine solche Berichterstattung führt, zeigt das Beispiel der Kommunalwahlen vom Sonntag. In den Medien wird jetzt so getan, als habe Meloni Salvini abgelöst. Das ist eine Entwicklung, die für jeden, der sich halbwegs mit italienischer Politik auskennt, spätestens seit einem Jahr absehbar war, als die Römerin mit ihrer Partei alle Rivalen – auch die Linken – in den Umfragen hinter sich ließ. Die FdI rangieren seit einem Jahr bei fast 20 Prozent. Die Kaprizierung auf Salvini bringt mit sich, dass das Phänomen FdI in Deutschland kaum behandelt wurde. Jetzt kommen sie wie „plötzlich“ um die Ecke. Was aber noch weit drastischer für die Qualität der Italienberichterstattung ist: Das Phänomen M5S und dessen Zusammenbruch – es handelt sich immerhin um die größte Partei des italienischen Parlaments – hat höchstens den Stellenwert einer Randnotiz.

Dass der sozialdemokratische Partito Democratico davon profitiert und bei den Kommunalwahlen besser abgeschnitten hat, ist damit ein Fakt. Ein Fakt ist aber auch, dass ihm ohne M5S der strategische Koalitionspartner abhandenkommt. Das rechte Lager gewinnt dazu, das linke stagniert. Bis auf die linken Hochburgen haben rechte Bündnisse die Bürgermeisterwahlen dominiert. Dass es im traditionell konservativen Verona der linke Kandidat als erster in den zweiten Wahlgang schaffte, hängt nur daran, dass auf dem zweiten und dritten Rang sich zwei populäre Rechte die Stimmen streitig gemacht haben.

Für solche Nuancen ist sich die deutsche Medienlandschaft jedoch zu schade. Wäre ja noch schöner, wenn bei der nächsten Wahl mit Giorgia Meloni jemand in Rom an die Macht käme, der rechts von Salvini steht – und den wieder zum Innenminister ernennen könnte. Politisch unangenehme Wechsel sind immer unerklärlich und überraschend, wenn sie sich am Wahlabend „fassungslos machend“ präsentieren. Das Einzige, worauf Sie in den nächsten Wochen bei der Italienberichterstattung der etablierten Medien zählen können, ist die Hasswelle gegen Meloni.

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