Tichys Einblick
Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus

Die Vergartenzwergung des Menschen – Über die Herkunft von Cancel Culture und Deplatforming

Das Sammelsurium „Wokismus“ hat seinen Ursprung in der modernen französischen Philosophie: im Poststrukturalismus und im Dekonstruktivismus, die als French Theory ihren Siegeszug an amerikanischen Universitäten fortsetzten, dort erweitert wurden – und nun nach Europa ungleich kraftvoller und totalitärer zurückkehren.

IMAGO / U. J. Alexander

Die Große Transformation, die nun mit aller Macht und auf allen Gebieten in Deutschland – von der Sexualität, über die Ernährung, über die Fortbewegung bis hin zur Bestimmung dessen, was man denken, äußern und träumen darf – durchgeführt werden soll und richtiger die Große Dekadenz hieße, besitzt ihre Ideologie im Sammelsack Wokismus, in den Genderismus, Klimaideologie als Klimaapokalyptik, Identitätspolitik, Geschichtsrevisionismus und Postkolonialismus geworfen wurden.

Der Ursprung dieses eklektizistischen Ensembles nun findet sich in der modernen französischen Philosophie, im Poststrukturalismus und besonders im Dekonstruktivismus, die als French Theory ihren Siegeszug an amerikanischen Universitäten absolvierten, von Theoretikern wie Judith Butler – die im Grunde die Geschlechtsbinarität dekonstruierte, also leugnete – erweitert wurden und nun nach Europa ungleich kraftvoller und totalitärer zurückkehren. Deshalb lohnt ein Blick auf die Anfänge.

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Francois Dosse, Verfasser einer kenntnisreichen Geschichte des Strukturalismus feiert den Philosophen Michel Foucault als denjenigen Denker, der „die Maskierungen, mit denen sich die Macht im Wissen tarnt“, zertrümmert. Zwar hat Foucaults Obsession, die Wirklichkeit als Maske der Macht darzustellen, unsere Kenntnisse über das Wesen der Macht nicht erweitert, dafür aber gehen aus dem Poststrukturalismus und dem Dekonstruktivismus die wirkmächtigen Ideologien der Identitätspolitik, des Genderismus, des Postkolonialismus und seine medialen Methoden als Culture Cancel und Deplatforming hervor.

Beginnen wir, um diese Wirkung zu verstehen, mit einer Erinnerung. Michel Foucault weint 1953 aus Trauer über Stalins Tod. Die Generation der kommenden Starphilosophen schwelgt am Anfang der fünfziger Jahre als Studenten der französischen Elitehochschulen in einer „terroristischen Auffassung der Geschichte“ (Vincent Descombes), die ihnen der Hegelianer Alexandre Kojève nahebringt, und im Marxismus, von dem sie bei Jean Hyppolite hören. „Kojève schrieb: es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Philosophen und dem Gewaltherrscher; allein die Kürze des menschlichen Lebens verwehrt demselben Menschen, gleichzeitig Philosoph und Tyrann zu sein“ (Vincent Descombes).

Descombes schlussfolgert, dass der Grund für die „terroristische Auffassung der Geschichte“ in der „pragmatischen Definition der Wahrheit liege.“ Die Vorstellung, die für das Handeln von Michel Foucault und Jacques Derrida bestimmend wird, zeigt sich in Kojèves Worten, die den Philosophen und den Tyrannen gleichsetzen, der Unterschied besteht nicht im Handeln, sondern lediglich im Feld des Handelns.

Von großer Bedeutung für Wesen und Erfolg jüngerer französischer Philosophie ist Descombes’ Hinweis: „Die politische Stellungnahme ist und bleibt in Frankreich der entscheidende Prüfstein, an ihr entscheidet sich letztlich der Sinn des Denkens. Es ist, als rührte man in dem Augenblick endlich an den Kern der Dinge, wo man von den Hypothesen über das Eine und das Viele oder über die Natur der Erkenntnis zur Frage der nächsten Wahl oder der Haltung der Kommunistischen Partei kommt.“

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Doch das große Problem der jungen Intellektuellen besteht in der schönen Theorie im Westen und ihrer hässlichen Verwirklichung im Osten. Die Verdrängung des Risses zwischen Ideologie und Realität und der Ausfall der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt führt die Suche dieser Intellektuellen nach einem Projekt der Emanzipation nebst revolutionärem Subjekt von der UdSSR nach China, von den Arbeitern zu den Kolonisierten, von den Männern zu den Frauen, von den Heterosexuellen zu den Homosexuellen, von den Staatsbürgern zu den Migranten. Bereits 1971 schreibt Jean Genet in einem von Derridas unterstützten Manifest: „An diesem Teil meiner Rede angelangt, rufe ich, um die Schwarzen zu retten, zum Verbrechen auf, zur Ermordung der Weißen.“

Wie entscheidend der autobiographische Aspekt ist, hat Michel Foucault verdeutlicht: „Jedesmal, wenn ich versucht habe, eine theoretische Arbeit zu leisten, ist sie von Elementen meiner eigenen Existenz ausgegangen: immer in Beziehung zu Prozessen, die ich in meiner Umgebung sich abspielen sah. Weil ich in den Dingen, die ich sah, in den Institutionen, mit denen ich zu schaffen hatte, in meinen Beziehungen zu anderen tiefe Risse und Brüche, Dysfunktionen zu erkennen glaubte – gerade deshalb habe ich eine solche Arbeit unternommen, eine Art autobiographisches Fragment.“ 1991 offenbart Derrida einem amerikanischen Journalisten die Motivation seiner Arbeit, die sich in seiner Biographie findet, in der Geschichte „eines kleinen Juden von Algier, der sich weder als Franzose noch als Jude fühlte; die eines mittellosen Studenten, der sich bemühte, die psychologischen und sozialen Barrieren der Welt der Pariser Intellektuellen zu überspringen.“

Foucaults und Derridas Hauptfeind stellt die Realität dar, die es als Akt persönlicher Befreiung theoretisch aufzulösen galt. Häufig wird der wichtige Antrieb von Foucault und Derrida, der sie für den Marxismus empfänglich macht, übersehen, der in dem eisernen Willen zu finden ist, Frankreichs wichtigster Intellektueller zu werden, Diskursmacht auszuüben. In Hermann Hesses „Demian“ heißt es nach Nietzsche, den Foucault und Derrida verehren, dass, wer geboren werden will, eine Welt zerstören muss.

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Michel Foucault, der aus einer Arztfamilie stammt, entkommt zwar dem Zwang des Vaters, der ihn mit allen Mitteln zum Studium der Medizin zu zwingen sucht, nicht aber der Erbschaft des medizinischen Blicks, mit dem er die Gesellschaft betrachtet. Dabei fesseln die Ränder und dunklen Seiten der Gesellschaft sein Interesse, fühlt er sich aufgrund seiner Homosexualität doch selbst ausgegrenzt, interessieren ihn die Themen der Sexualität, des Verbrechens und des Wahnsinns. Foucault sucht das Außergewöhnliche, den Anderen. Im Anderen will er seine Andersheit als Norm und die bisherige Norm außer Kraft setzen. Michel Foucault erhöht die gesellschaftliche Minorität zur öffentlichen Majorität auf Kosten der tatsächlichen Majorität. Damit demontiert er den Grundkonsens der Gesellschaft, das, was erst Gesellschaft Gesellschaft sein lässt.

Wenn aber nun die Majorität im Diskurs nicht mehr abgebildet und in der Öffentlichkeit zur Quantité negligiable wird, die Bürgerrechte, die Freiheitsrechte zugunsten von Minderheitsprivilegien geschleift werden, befindet sich die Gesellschaft auf der schiefen Ebene, an deren Fußpunkt die Diktatur der Minderheiten als Minderheit über eine Mehrheit wartet. Das emanzipatorische Projekt erweist sich in dem Moment, in dem es verwirklicht wird, als repressiv. Die Demokratie taumelt in die Oligarchie. Das große Projekt Foucaults läuft darauf hinaus, die Herrschaftsverhältnisse umzukehren, die Mehrheit den Vorstellungen einer Minderheit zu unterwerfen. Foucault benötigt in der Tradition des ‚poete maudit‘ nunmehr als ‚philosophe maudit‘ das Andere, um letztlich die Gesellschaft auszuhebeln: „Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien.“

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Der Kern des Poststrukturalismus findet sich in der „Unterwerfung des Menschen unter die Zeichensysteme“, unter die Struktur, in dem der Begriff der Sprache unzulässig ausgeweitet wird, letztlich des Menschen unter die Ideologie, wodurch der Poststrukturalismus anschlussfähig für den Marxismus wird. Die Stoßrichtung des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus besteht in der Auflösung der Wirklichkeit zum Zwecke der Konstruktion einer neuen Wirklichkeit aus dem Geist der Utopie. Nirgends kommt das besser zum Ausdruck als in Derridas Buch „Marx’ Gespenster“. Darüber, was der Marxismus und wer Karl Marx ist, erfährt man im Buch wenig, dafür allerdings alles über Jacques Derrida. Bereits auf den ersten Seiten wird die reaktionäre Wendung deutlich, wenn Derrida gegen die Friedliche Revolution in Osteuropa ausgerechnet eine Zeile aus der Nationalhymne der DDR („und der Zukunft zugewandt“) in Stellung bringt.

Der magische Begriff in Derridas Totenbeschwörung des Marxismus ist der Begriff der Gerechtigkeit. Ist die Gerechtigkeit überhaupt ein Begriff? Derrida sagt es selbst: Gerechtigkeit ist nicht dekonstruierbar – und damit sie es auch nicht wird, entzieht er sie von vornherein jeder Begrifflichkeit, denn die Gerechtigkeit darf sich nicht „auf Regeln, Normen oder juristisch-moralische Vorstellungen … beschränken.“ Dass sich hinter der schillernden Fassade der Dekonstruktion der altbekannte Marxismus versteckt, ist keine böswillige Unterstellung, sondern wird von Derrida zugegeben: „Ohne das wird es keine Zukunft geben. Nicht ohne Marx, keine Zukunft ohne Marx.“ Er will davon erzählen, was der Marxismus „für mich und meine Generation gewesen ist, die Erfahrung des Marxismus, die wir ein ganzes Leben lang geteilt haben, die gleichsam väterliche Figur von Marx … die Lektüre der Texte und die Interpretation einer Welt, in der das marxistische Erbe absolut und durch und durch bestimmend war, noch ist und also bleiben wird.“

Und das, obwohl das Klima an den Elitehochschule in den Fünfzigern die terroristische Seite des Marxismus deutlich genug gezeigt hat: „Das gesamte Leben an der École ist von der Politik ‚getränkt‘, die Auseinandersetzungen werden hitzig und scharf geführt. Das Klima ‚intellektuellen Terrors‘, das die Mitglieder der Kommunistischen Partei verbreiten, ist mehr als drückend.“ So, als würde Foucaults Biograph Cancel Culture und Deplatforming beschreiben, setzt er fort: „Natürlich findet sich noch eine ‚Handvoll‘ von normaliens, die der anderen Richtung angehören, nämlich der verunglimpften Rechten … Sie spielen ein wenig die Rolle von ‚komischen Vögeln‘ und werden von allen anderen systematisch als ‚Faschisten‘ behandelt.“

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Der Beginn von dem, was man im eigentlichen Sinn Cancel Culture und Deplatforming nennt, kann terminiert werden. Im Juli 1993 unterstützt Derrida den „Aufruf zur Wachsamkeit“. Dass der Begriff „Wachsamkeit“ den blutigen ‚basso continuo‘ des Großen Terrors in der Sowjetunion abgibt, dem 20 Millionen Menschen zum Opfer fallen, ist Derrida bestens bekannt. Er hat die „Wachsamkeit“ sogar in Prag am eigenen Leib erfahren. Das alles hindert ihn nicht daran, dem Akt der „Wachsamkeit“ eine hohe Wirksamkeit zu verschaffen. Der Aufruf schüchtert Schriftsteller und Intellektuelle wie Maurice Blanchot ein, mit Publikationsorganen weiter zusammenzuarbeiten, die von den Linken als „rechts“ markiert werden.

Derridas Biograph, Benoit Peeters, schreibt über die Vorstellung derjenigen, die den Boykottaufruf initiieren: „Es erscheint ihnen wesentlich, eine rote Linie zu ziehen, die nicht überschritten werden darf.“ Damit ist das Ende des Diskurses über die ideologischen Lager hinaus besiegelt. Mit Kritik vermag Derrida nicht umzugehen, er benötigt Gläubige, die er in der „Derrida-Internationale“ findet. Im Osten Europas hat man hingegen hinreichend Erfahrungen mit den „roten Linien“ gemacht, die schnell blutrot werden.

Der Dekonstruktivismus ermöglicht durch den Jahrmarkt der Lesbarkeiten die methodische Aufwertung des Relativismus, indem er das Subjekt auflöst, das nur eine Konstruktion der Kultur sei: „Die Kultur ist immer kolonial, insofern sie sich durch ihre Macht, die Welt zu benennen und Verhaltensregeln, aufzwingt. Niemand lebt in einer Kultur von Natur aus. Keine Kultur ist definitionsgemäß natürlich. Wir sind alle Exilanten“ (Catherine Belsey). Heute würde der letzte Satz lauten: „Wir sind alle Flüchtlinge.“

Vielleicht ist das die furchtbarste Erbschaft der Philosophien von Foucault und Derrida, dass Tatsachen nichts bedeuten, dass der Mensch beliebig konstruiert werden kann und für die „klimaneutrale Gesellschaft“ auch werden muss. An die Stelle des Bürgers tritt dann der Mensch in einer pädagogischen Diktatur, an die Stelle der Tatsachen die Haltung, die jener Mensch nun einzunehmen hat.

Doch wie formulierte einmal ein alter Schauspieler während einer Probe? – Haltungen haben nur Gartenzwerge.


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