Die Große Transformation, die nun mit aller Macht und auf allen Gebieten in Deutschland – von der Sexualität, über die Ernährung, über die Fortbewegung bis hin zur Bestimmung dessen, was man denken, äußern und träumen darf – durchgeführt werden soll und richtiger die Große Dekadenz hieße, besitzt ihre Ideologie im Sammelsack Wokismus, in den Genderismus, Klimaideologie als Klimaapokalyptik, Identitätspolitik, Geschichtsrevisionismus und Postkolonialismus geworfen wurden.
Der Ursprung dieses eklektizistischen Ensembles nun findet sich in der modernen französischen Philosophie, im Poststrukturalismus und besonders im Dekonstruktivismus, die als French Theory ihren Siegeszug an amerikanischen Universitäten absolvierten, von Theoretikern wie Judith Butler – die im Grunde die Geschlechtsbinarität dekonstruierte, also leugnete – erweitert wurden und nun nach Europa ungleich kraftvoller und totalitärer zurückkehren. Deshalb lohnt ein Blick auf die Anfänge.
Beginnen wir, um diese Wirkung zu verstehen, mit einer Erinnerung. Michel Foucault weint 1953 aus Trauer über Stalins Tod. Die Generation der kommenden Starphilosophen schwelgt am Anfang der fünfziger Jahre als Studenten der französischen Elitehochschulen in einer „terroristischen Auffassung der Geschichte“ (Vincent Descombes), die ihnen der Hegelianer Alexandre Kojève nahebringt, und im Marxismus, von dem sie bei Jean Hyppolite hören. „Kojève schrieb: es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Philosophen und dem Gewaltherrscher; allein die Kürze des menschlichen Lebens verwehrt demselben Menschen, gleichzeitig Philosoph und Tyrann zu sein“ (Vincent Descombes).
Descombes schlussfolgert, dass der Grund für die „terroristische Auffassung der Geschichte“ in der „pragmatischen Definition der Wahrheit liege.“ Die Vorstellung, die für das Handeln von Michel Foucault und Jacques Derrida bestimmend wird, zeigt sich in Kojèves Worten, die den Philosophen und den Tyrannen gleichsetzen, der Unterschied besteht nicht im Handeln, sondern lediglich im Feld des Handelns.
Von großer Bedeutung für Wesen und Erfolg jüngerer französischer Philosophie ist Descombes’ Hinweis: „Die politische Stellungnahme ist und bleibt in Frankreich der entscheidende Prüfstein, an ihr entscheidet sich letztlich der Sinn des Denkens. Es ist, als rührte man in dem Augenblick endlich an den Kern der Dinge, wo man von den Hypothesen über das Eine und das Viele oder über die Natur der Erkenntnis zur Frage der nächsten Wahl oder der Haltung der Kommunistischen Partei kommt.“
Wie entscheidend der autobiographische Aspekt ist, hat Michel Foucault verdeutlicht: „Jedesmal, wenn ich versucht habe, eine theoretische Arbeit zu leisten, ist sie von Elementen meiner eigenen Existenz ausgegangen: immer in Beziehung zu Prozessen, die ich in meiner Umgebung sich abspielen sah. Weil ich in den Dingen, die ich sah, in den Institutionen, mit denen ich zu schaffen hatte, in meinen Beziehungen zu anderen tiefe Risse und Brüche, Dysfunktionen zu erkennen glaubte – gerade deshalb habe ich eine solche Arbeit unternommen, eine Art autobiographisches Fragment.“ 1991 offenbart Derrida einem amerikanischen Journalisten die Motivation seiner Arbeit, die sich in seiner Biographie findet, in der Geschichte „eines kleinen Juden von Algier, der sich weder als Franzose noch als Jude fühlte; die eines mittellosen Studenten, der sich bemühte, die psychologischen und sozialen Barrieren der Welt der Pariser Intellektuellen zu überspringen.“
Foucaults und Derridas Hauptfeind stellt die Realität dar, die es als Akt persönlicher Befreiung theoretisch aufzulösen galt. Häufig wird der wichtige Antrieb von Foucault und Derrida, der sie für den Marxismus empfänglich macht, übersehen, der in dem eisernen Willen zu finden ist, Frankreichs wichtigster Intellektueller zu werden, Diskursmacht auszuüben. In Hermann Hesses „Demian“ heißt es nach Nietzsche, den Foucault und Derrida verehren, dass, wer geboren werden will, eine Welt zerstören muss.
Wenn aber nun die Majorität im Diskurs nicht mehr abgebildet und in der Öffentlichkeit zur Quantité negligiable wird, die Bürgerrechte, die Freiheitsrechte zugunsten von Minderheitsprivilegien geschleift werden, befindet sich die Gesellschaft auf der schiefen Ebene, an deren Fußpunkt die Diktatur der Minderheiten als Minderheit über eine Mehrheit wartet. Das emanzipatorische Projekt erweist sich in dem Moment, in dem es verwirklicht wird, als repressiv. Die Demokratie taumelt in die Oligarchie. Das große Projekt Foucaults läuft darauf hinaus, die Herrschaftsverhältnisse umzukehren, die Mehrheit den Vorstellungen einer Minderheit zu unterwerfen. Foucault benötigt in der Tradition des ‚poete maudit‘ nunmehr als ‚philosophe maudit‘ das Andere, um letztlich die Gesellschaft auszuhebeln: „Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien.“
Der magische Begriff in Derridas Totenbeschwörung des Marxismus ist der Begriff der Gerechtigkeit. Ist die Gerechtigkeit überhaupt ein Begriff? Derrida sagt es selbst: Gerechtigkeit ist nicht dekonstruierbar – und damit sie es auch nicht wird, entzieht er sie von vornherein jeder Begrifflichkeit, denn die Gerechtigkeit darf sich nicht „auf Regeln, Normen oder juristisch-moralische Vorstellungen … beschränken.“ Dass sich hinter der schillernden Fassade der Dekonstruktion der altbekannte Marxismus versteckt, ist keine böswillige Unterstellung, sondern wird von Derrida zugegeben: „Ohne das wird es keine Zukunft geben. Nicht ohne Marx, keine Zukunft ohne Marx.“ Er will davon erzählen, was der Marxismus „für mich und meine Generation gewesen ist, die Erfahrung des Marxismus, die wir ein ganzes Leben lang geteilt haben, die gleichsam väterliche Figur von Marx … die Lektüre der Texte und die Interpretation einer Welt, in der das marxistische Erbe absolut und durch und durch bestimmend war, noch ist und also bleiben wird.“
Und das, obwohl das Klima an den Elitehochschule in den Fünfzigern die terroristische Seite des Marxismus deutlich genug gezeigt hat: „Das gesamte Leben an der École ist von der Politik ‚getränkt‘, die Auseinandersetzungen werden hitzig und scharf geführt. Das Klima ‚intellektuellen Terrors‘, das die Mitglieder der Kommunistischen Partei verbreiten, ist mehr als drückend.“ So, als würde Foucaults Biograph Cancel Culture und Deplatforming beschreiben, setzt er fort: „Natürlich findet sich noch eine ‚Handvoll‘ von normaliens, die der anderen Richtung angehören, nämlich der verunglimpften Rechten … Sie spielen ein wenig die Rolle von ‚komischen Vögeln‘ und werden von allen anderen systematisch als ‚Faschisten‘ behandelt.“
Derridas Biograph, Benoit Peeters, schreibt über die Vorstellung derjenigen, die den Boykottaufruf initiieren: „Es erscheint ihnen wesentlich, eine rote Linie zu ziehen, die nicht überschritten werden darf.“ Damit ist das Ende des Diskurses über die ideologischen Lager hinaus besiegelt. Mit Kritik vermag Derrida nicht umzugehen, er benötigt Gläubige, die er in der „Derrida-Internationale“ findet. Im Osten Europas hat man hingegen hinreichend Erfahrungen mit den „roten Linien“ gemacht, die schnell blutrot werden.
Der Dekonstruktivismus ermöglicht durch den Jahrmarkt der Lesbarkeiten die methodische Aufwertung des Relativismus, indem er das Subjekt auflöst, das nur eine Konstruktion der Kultur sei: „Die Kultur ist immer kolonial, insofern sie sich durch ihre Macht, die Welt zu benennen und Verhaltensregeln, aufzwingt. Niemand lebt in einer Kultur von Natur aus. Keine Kultur ist definitionsgemäß natürlich. Wir sind alle Exilanten“ (Catherine Belsey). Heute würde der letzte Satz lauten: „Wir sind alle Flüchtlinge.“
Vielleicht ist das die furchtbarste Erbschaft der Philosophien von Foucault und Derrida, dass Tatsachen nichts bedeuten, dass der Mensch beliebig konstruiert werden kann und für die „klimaneutrale Gesellschaft“ auch werden muss. An die Stelle des Bürgers tritt dann der Mensch in einer pädagogischen Diktatur, an die Stelle der Tatsachen die Haltung, die jener Mensch nun einzunehmen hat.
Doch wie formulierte einmal ein alter Schauspieler während einer Probe? – Haltungen haben nur Gartenzwerge.