Tichys Einblick
Neun Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges

Kanzleramt lädt zum „Munitionsgipfel“ ein

Die Bundeswehr ist nach wie vor nur bedingt einsatzbereit. Exakt 44 Wochen nach der „Zeitenwende“-Rede von Olaf Scholz lädt das Kanzleramt am heutigen Montag Vertreter der Rüstungsindustrie und mehrerer Ministerien zu Gesprächen über die Rahmenbedingungen für die Munitionsproduktion ein. Immerhin.

Bundeskanzler Olaf Scholz besucht die Ausbildungs- und Lehrübung des Heeres (ALÜ LandOp) am 17. Oktober 2022 auf dem Truppenübungsplatz Bergen.

IMAGO / Björn Trotzki

Man ist schier überrascht von dieser „Dynamik“: Am 27. Februar 2022, drei Tage nach Putins kriegerischem Einfall in die Ukraine, hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) seine allseits hochgejubelte „Zeitenwende“-Rede gehalten. Er wollte die Bundeswehr zu der „am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“ machen. „Mindestens zwei Prozent“ des Bruttoinlandsprodukts (derzeit sind es 1,5 Prozent) sollten für die Verteidigung bereitstehen. Ein mit 100 Milliarden dotiertes „Sondervermögen“ (vulgo: Sonderschulden) sollte dabei helfen. Am 15./16. September sagte Scholz unter Hinweis auf diese nach wie vor ziemlich vagen Pläne auf einer Führungskräftetagung in Berlin: „Das ist mein Anspruch als Bundeskanzler. Daran können Sie mich messen.“

Das aber ist die wahre „Dynamik“: Die Bundeswehr steht heute immer noch nicht besser da als vor dem 27. Februar 2022. Mehr noch: Der reguläre Etat der Bundeswehr wird von 50,4 Milliarden im Jahr 2022 gar um 300 Millionen auf 50,1 Milliarden im Jahr 2023 gekürzt. Aus dem 100-Milliarden-Paket sollen rund 8 Milliarden zusätzlich einfließen.

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Aber es bleibt dabei: Die Bundeswehr ist nach wie vor nur bedingt einsatzbereit. Sie hat im wahrsten Sinn des Wortes fast nichts im Regal. Heeres-Chef Alfons Mais (60) hatte – ohne das Munitionsproblem explizit zu benennen – in einem Interview für die „Süddeutsche“ vom 11. November 2022 gesagt: „Wir könnten keinen Kampf über mehrere Wochen führen.“ Grund: „Wir verfügen derzeit über keine komplette deutsche Brigade, die sofort und ohne längere Vorbereitungszeit in der Lage wäre, einen Kampfauftrag über mehrere Wochen durchzuführen.“

Und weiter: „Das Heer, so wie es heute dasteht, verfügt noch über vier Artilleriebataillone, etwa 100 Panzerhaubitzen und knapp 40 Raketenwerfer Mars. Von denen ist tagesaktuell immer nur ein Teil einsatzbereit.“ Verteidigungsministerin Lambrecht (SPD) mögen diese klaren Aussagen gar nicht gefallen haben, denn vor wenigen Tagen hat sie die Chefs der Teilstreitkräfte zum Schweigen verdonnert. Und auch dem Bundestag gegenüber hüllt sie sich unter anderem in Sachen Munition in Schweigen. Immerhin freut sich SPD-Kollegin und Wehrbeauftragte Eva Högl: „Bei einigen Soldaten kommen zumindest warme Socken an.“

Der „Munitionsgipfel“ – der aber nicht so heißen soll

Nun aber die Überraschung: Exakt 44 (!) Wochen nach der „Zeitenwende“-Rede lädt das Kanzleramt (!) an diesem Montag, 28. November, Vertreter der Rüstungsindustrie und mehrerer Ministerien zu Gesprächen über die Rahmenbedingungen für die Munitionsproduktion ein. „Munitionsgipfel“ soll das Treffen indes offiziell nicht heißen. Im Terminkalender des Kanzlers steht dieser Termin (Stand: 26.11.) auch nicht. Nimmt Scholz also selbst gar nicht teil? Oder macht er jetzt auf Chef und nimmt die Sache der überforderten Verteidigungsministerin Lambrecht aus der Hand? Man darf rätseln.

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Immerhin hat man nach langen Monaten ein zentrales Problem der Bundeswehr jetzt hoch oben angesiedelt. Denn die Bundeswehr leidet nicht nur an nicht einsatzfähigen Panzern, Hubschraubern, Jets, Schiffen, sondern unter einem dramatischen Munitionsmangel. Die CDU/CSU-Fraktion hatte in Sachen Munition kürzlich nachgebohrt. Denn Generalinspekteur Eberhard Zorn hatte errechnet, dass bis 2031 rund 20 Milliarden Euro allein für Gefechtsmunition investiert werden müssten. Tatsächlich wurden für 2023 ganze 1,25 Milliarden Euro bewilligt. Und das in einer Situation, in der die Munitionsvorräte der Bundeswehr allenfalls für zwei Tage reichen und damit weit vom Nato-Standard einer Bevorratung für 30 Tage entfernt sind. Obendrein fehlt es an weiteren Munitionslagern. Deren Planung steht ebenfalls immer noch aus.

Man darf jedenfalls gespannt sein, was am 28. November herauskommt. Der große Wurf wird es nicht werden, denn es geht um viele verschiedene Munitionstypen: Artilleriegeschosse, Mörser, Panzergeschosse, Panzerabwehrwaffen, Munition für großkalibrige Waffen, Munition für Handwaffen, Handgranaten usw.

Indes tut sich auf der Firmenebene wenigstens etwas. Rheinmetall hat Mitte November 2022 mit der spanischen MaxamCorp.-Holding einen Kaufvertrag über 1,2 Milliarden zum Erwerb sämtlicher Anteile an Expal Systems geschlossen, einem weltweit renommierten Munitionshersteller. Der Vollzug der Transaktion wird bis Sommer 2023 angestrebt.

Grundsatzfrage: Ist die deutsche Rüstungsindustrie überhaupt hinreichend leistungsfähig?

Damit eines klar ist: Keine deutsche Rüstungs- und Sicherheitsfirma gehört zur Weltspitze. Die weltweit 15 führenden Firmen setzen pro Jahr rund 320 Milliarden um, im Schnitt also mehr als 20 Milliarden – angeführt von Lockheed mit fast 60 Milliarden. Von Airbus abgesehen, rangiert die Rheinmetall AG auf Platz 2 innerhalb Deutschlands mit 5,6 Milliarden des Jahres 2021 – global aber weit hinten. Es folgen innerhalb Deutschlands dann ThyssenKrupp, Krauss-Maffei-Wegmann, Diehl, MTU, MBDA, Jenaoptik, sodann Heckler-Koch und Dynamit Nobel Defence. Es geht aktuell auch gar nicht nur um deutsche Großfirmen, sondern um insgesamt 162 rüstungs- und sicherheitstechnisch einschlägige Firmen, also auch um den Mittelstand, der hier wichtige Produkte beisteuern kann.

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Es ist Skepsis jedenfalls angebracht, ob die deutsche Rüstungsindustrie, die ja über Jahrzehnte hinweg politisch, medial und gesellschaftlich mit militant-pazifistischer Distanz betrachtet wurde, leisten kann, was jetzt nötig ist. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) am 15. August 2022 in einer 29-Seiten-Expertise dargelegt. Titel: „Zeitenwende für die Verteidigungswirtschaft? Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit nach der russischen Invasion der Ukraine.“ Folgt man der IW-Analyse, so wird es für die Jahre 2026 und folgende zappenduster für die Bundeswehr. Denn ab dann ist die Finanzierung zur Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels völlig unklar. Bis dahin nämlich könnte das Sondervermögen, wenn es denn in den regulären und nicht für sich erhöhten Haushalt hineingebuttert werde, aufgebraucht sein.

Angesichts der oft auf mehrere Jahre zu veranschlagenden Rüstungsprojekte wird in dem IW-Papier nicht zu Unrecht auch betont, dass die Rüstungsindustrie Planungssicherheit braucht und die Gelder „nur nachhaltig sicherheitspolitisch wirksam werden, wenn die Möglichkeiten der Industrie zur Lieferung neuer Waffensysteme und die Möglichkeiten der Bundeswehr zur Nutzung und Instandhaltung dieser Waffen in Einklang gebracht werden.“

Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), hatte bereits im April-Heft 2022 der Zeitschrift „Europäische Sicherheit & Technik“ (S.26-31) in einem Namensbeitrag mit Blick auf das 100-Milliarden-Sonderprogramm geschrieben, es stelle sich die „Frage, wie diese Steigerungen denn sowohl auf Seiten der Beschaffungsverwaltung als auch auf Seiten der Industrie abgearbeitet werden können.“ Atzpodien dachte dabei auch an den gerade in Corona-Zeiten gebeutelten Mittelstand, dem die Bundesregierung unter die Arme greifen müsse. Denn schließlich habe Rüstungsindustrie ja nicht nur mit Großgerät, sondern eben auch mit Ersatzteilen und mit Munition zu tun. Letztere wiederum muss ja nicht in jedem Fall von der Großindustrie vorgehalten werden.


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