Es kommt selten vor, dass das Oberste Gericht der Bundesrepublik die „unverzügliche Umsetzung“ eines Urteils der Verfassungsrichter anordnet. Normalerweise wird dem Gesetzgeber eine Zeitspanne von bis zu zwei Jahren eingeräumt. Doch diesmal geht es im wirklichen Sinne um Leben oder Tod!
Geklagt hatten neun behinderte Menschen, die die Sorge umtrieb, im Falle nicht ausreichender Ressourcen – wie Intensivbetten oder Operationskapazitäten – aufgrund ihrer Beeinträchtigungen von der Behandlung ausgeschlossen werden zu können. Eigentlich hätte man davon ausgehen müssen, dass Karlsruhe diesen Antrag von vornherein als nicht „realitätsrelevant“ abweisen würde. So hätte allein der Artikel 1 des Grundgesetzes, der die „Würde des Menschen für unantastbar“ erklärt, ein solches Vorgehen ausschließen müssen. Denn was verletzt die Würde mehr als die Verweigerung medizinischer Hilfe – gerade für Behinderte? Eine körperliche Behinderung gilt allgemein nicht als Krankheit.
Mehr Schutz für behinderte Menschen notwendig
Doch siehe da, das Verfassungsgericht bewertete dies anders. Es forderte den Gesetzgeber auf, unverzüglich die Rechte der Behinderten entsprechend des Gleichheitsgrundsatzes (Artikel 3 GG) der Verfassung zu stärken.
Auch während der zwei Jahre andauernden Corona-Krise in Deutschland ist dieser Zustand noch nie eingetreten. Plötzlich aber entfaltete sich eine makabere Debatte. Es wurde gefragt, ob Impfverweigerer, die sich unsolidarisch gegenüber der Gemeinschaft verhielten, bei einer Erkrankung nicht ihr Recht auf Behandlung verlieren sollten. Im konkreten Falle käme dies einem Todesurteil wegen Nicht-Inanspruchnahme von staatlichen Impfleistungen gleich. Denn bekanntlich existiert in der Beachtung des Rechts auf Selbstbestimmung des Einzelnen, auch über seinen Körper, hierzulande keine gesetzliche Impfpflicht – noch bis vor Kurzem wurde eine solche auch konsequent ausgeschlossen!
Aufgrund zu geringer Impfbereitschaft wird jetzt jedoch erwogen, eine solche Pflicht einzuführen. Dabei wird Wert darauf gelegt, dass auch diese noch keinen Impfzwang mit sich bringen werde. Verfahren dieser Art sind gerade ins Karlsruhe aufgrund der Bedeutung kompliziert und meist sehr umstritten.
Kritik an „Ungeimpften“ überschreitet ethische Grenzen
Uns alle erschrecken muss aber die Tatsache, dass allein das Nicht-Befolgen staatlicher Aufforderungen zur Verweigerung von Hilfe in der Not ernsthaft in der öffentlichen Debatte erwogen wurde. Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte werden wach, in denen während des Nationalsozialismus geistig und körperlich Behinderte als „minderwertige und unnütze“ Existenzen eingestuft wurden. Dies galt auch für politische Gegner.
Manches ist so ungeheuerlich, dass man es gar nicht für möglich hält – und dann ist es plötzlich da. Die in Karlsruhe geklagthabenden Behinderten haben mit diesem Urteil auch einen Erfolg für uns alle erzielt!