Deutschland steuert auf eine schwierige Regierungsbildung zu
Roland Springer
Nach der Wahl geht es um die Frage, welche beiden Zwanzig-Prozent-Parteien sich gegen die dritte zusammenschließen und welche Zehn-Prozent-Partei diesem Bund dann die fehlende Mehrheit verschafft. Anschließend ist nur noch die so entstandene Dreier-Koalition medial als Vollzug des Wählerwillens zu inszenieren.
Je näher der Termin der Bundestagswahl rückt, desto deutlicher wird, daß sich auch in Deutschland die politische Landschaft in einem tiefgreifenden Umbruch befindet. Für die Wähler wird es immer undurchschaubarer, welchen Parteien sie mit ihrer Wahlentscheidung in die Regierung verhelfen.
Laut den neuesten Umfragen von Forsa und Kantar vom 11. August würden, wenn am kommenden Sonntag die Bundestagswahl stattfände, nur noch 22 bis 23 Prozent der Wähler den beiden Unionsparteien CDU und CSU ihre Stimme geben. Bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017 erreichten sie zusammen noch 32,9 Prozent. Gleichzeitig rangieren die Grünen, die 2017 magere 8,9 Prozent erzielten, bei 20 bis 21 Prozent und die SPD, die 2017 noch von 20,5 Prozent der Bürger gewählt wurde, bei 19 Prozent.
Die Union wäre, gemessen am Ergebnis der Bundestagswahl 2017, mit einem solchen Wahlergebnis der große Verlierer, die Grünen der große Gewinner der Wahl, die SPD käme mit einem mehr oder weniger blauen Auge davon. Nur bedingt als Gewinner könnte sich die FDP betrachten, der in den beiden Umfragen 12 Prozent gegenüber den 10,7 Prozent des Jahres 2017 bescheinigt werden. Klare Verlierer wären die AfD mit 10 bis 11 Prozent gegenüber 12,6 Prozent im Jahr 2017 sowie die Linke mit 7 Prozent gegenüber den 9,2 Prozent von vor vier Jahren.
Rechnerisch wäre mit einem solchen Ergebnis zur Regierungsbildung keine Zweierkoalition mehr möglich, weder eine schwarz-grüne, noch eine schwarz-rote, noch eine grün-rote. Die Regierung müsste aus drei respektive vier Parteien gebildet werden, sofern die Union mit CDU und CSU überhaupt noch an einer Regierungsbildung beteiligt wäre. Unter ihrer Führung könnte den Zahlen nach eine schwarz-grün-gelbe oder eine schwarz-rot-gelbe, zusätzlich aber auch schwarz-grün-rote Koalition zustande kommen. Rechnerisch wären zudem unionsgeführte Koalitionen unter Beteiligung der AfD möglich, die jedoch nicht nur von CDU und CSU, sondern auch von den dafür in Frage kommenden zusätzlichen Koalitionspartnern (Grüne, SPD) kategorisch ausgeschlossen werden.
Rechnerisch möglich wäre aufgrund der sich aus den Prozentzahlen ergebenden Bundestagsmandate, wie WELT online vom 11. August berichtet, aber nicht nur eine von der Union, sondern auch eine von den Grünen geführte grün-rot-gelbe und selbst eine grün-rot-rote Dreier-Koalition. Annalena Baerbock darf sich angesichts dieses Umstands erneut Hoffnungen machen, trotz mangelnder Qualifikation und schlechter persönlicher Zustimmungswerte doch noch ins Kanzleramt einzuziehen. Und auch Olaf Scholz darf noch mehr als ohnehin schon vom Kanzleramt träumen, sollte es ihm mit seiner SPD bis zur Bundestagswahl wider Erwarten doch noch gelingen, die Grünen von Platz zwei oder die Union gar von Platz eins zu verdrängen.
Sollten sich die Wahlergebnisse am 26. September in etwa so bestätigen wie in den beiden aktuellen Umfragen ermittelt, dann würden die politische Landschaft in Deutschland nach der Bundestagswahl von drei Zwanzig-Prozent-Parteien (Union, Grüne, SPD), zwei Zehn-Prozent-Parteien (FDP, AfD) und einer (Linke), gegebenenfalls aber auch von zwei Fünf-Prozent-Plus-Parteien geprägt sein, sollten die Freien Wähler (FW) ihren Einzug in den Bundestag schaffen. In den beiden Umfragen erreichen die sonstigen Parteien, darunter die FW, zusammen immerhin 8 bis 9 Prozent, ohne dass aus den präsentierten Umfrageergebnissen ersichtlich wird, wie sich diese Stimmen auf welche Parteien verteilen.
Eine stabile Regierungsbildung wird vor diesem Hintergrund sehr schwer werden, es sei denn, die Wähler entscheiden sich doch noch für klare Mehrheitsverhältnisse in die eine oder andere Richtung. Dafür müssten diese aber auch klar erkennbar sein. Genau dies ist durch die Weigerung von Union, Grünen und SPD, sich vor der Wahl auf bestimmte Koalitionen festzulegen, aber nicht möglich. Niemand kann heute mehr sicher sein, daß er mit seiner Wahlentscheidung für CDU, CSU, Grüne, SPD und FDP nicht genau derjenigen Partei mit in die Regierung verhilft, die er dort auf keinen Fall haben will.
Dies ist dem in Deutschland praktizierten, personalisierten Verhältniswahlrecht geschuldet, das zu Koalitionen zwingt, solange keine Partei dazu in der Lage ist, die absolute Mehrheit zu erringen. Von dieser Fähigkeit entfernen sich die bisherigen Volksparteien zusehends mehr, zunächst die SPD, inzwischen aber in Riesenschritten auch die Union. Um trotzdem die Führung einer Regierung übernehmen zu können, waren sie lange auf einen Koalitionspartner angewiesen, mittlerweile sind es aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon zwei. Da Koalitionsbildungen dadurch schwerer vorhersehbar und kalkulierbar werden, legen sich die Parteien vor Wahlen in Koalitionsfragen nicht mehr fest.
Durch entsprechende Profillosigkeit versuchen sie vielmehr, ihre Regierungschancen zu erhöhen. Wenn die Wähler sie schon nicht mehr in sehr großer Zahl wählen, dann sollen sie vor einer Wahl auch nicht mehr erfahren, welche der Zwanzig-Prozent-Parteien mit welcher anderen Zwanzig-Prozent-Partei (nicht) koalieren will. Wahlen werden deswegen in Hinblick auf ihre anschließenden Regierungsbildungen und die daraus folgende Politik immer schwerer durchschaubar; einer von mehreren Gründen, weshalb sich auch immer weniger Wähler an ihnen beteiligen.
Wie auch immer das tatsächliche Ergebnis am 26. September aussehen wird, die Umfragen deuten zunehmend darauf hin, daß die Regierungsbildung dieses Mal noch schwieriger werden und länger dauern könnte als nach der letzten Bundestagswahl. Die politische Landschaft in Deutschland befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch mit offenem Ausgang. Am sichtbarsten wird dies derzeit anhand des Niedergangs der Union.
Nach vier Legislaturperioden unter der Führung von Angela Merkel droht insbesondere die ehemalige Kanzlerpartei CDU zusammen mit der CSU zu einer von drei Zwanzig-Prozent-Parteien zu schrumpfen, die sich nach dem 26. September mühsam auf die Suche nach Koalitionspartnern machen müssen, um nicht auf den Oppositionsbänken zu landen.
Dabei wird es vorrangig um die Frage gehen, welche beiden Zwanzig-Prozent-Parteien sich gegen die dritte zusammenschließen und welche Zehn-Prozent-Partei diesem Bündnis dann die fehlende Mehrheit verschafft. Anschließend kommt es dann darauf an, die so entstandene Dreier-Koalition medial als Vollzug des Wählerwillens zu inszenieren.
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