Am 13. Januar 2022 ließ sich Karl Lauterbach im Deutschen Bundestag zu einem moralphilosophischen Exkurs verleiten. Wörtlich sagte er: „Wer sich dem Impfangebot verweigert, verletzt sogar das moralische Gebot des kategorischen Imperativs im Sinne von Immanuel Kant. Eine solche Verweigerung könnte nie die Maxime des Handelns für uns alle sein.“
Hier kommt wohl die bei vielen Impfdogmatikern derzeit grassierende Hybris ins Spiel, ein Ungeimpfter könne nur ein solcher Mensch sein, der nicht genügend über die Vorteile des Impfens aufgeklärt wurde. Das erinnert an das seit Jahrzehnten in der Ärzteschaft bekannte Bonmot, gesund sei nur, wer nicht ausreichend untersucht worden sei.
Tatsächlich handelt es sich bei der Corona-Impfung mit mRNA-Impfstoffen um die Injektion eines künstlich hergestellten genetischen Codes, der im Körper munter Proteine herstellt, die vor einer Infektion schützen sollen. Noch vor weniger als zwei Jahren bezweifelte die Mehrheit der Wissenschaftler, dass so etwas überhaupt funktionieren könne. Heute soll es ethisch verwerflich sein, einen solchen Eingriff in den Körper abzulehnen.
Auch der immer wieder bemühte Vergleich zwischen den Folgen einer Impfung und einer Erkrankung kann nicht überzeugen. Denn die Komplikation einer Erkrankung setzt eine tatsächliche Infektion voraus, die aber bei diesem Patienten vielleicht niemals eintritt. Mit der Komplikation einer Impfung dagegen muss der Patient immer rechnen, sobald er geimpft wurde. Letztlich gibt es also durchaus nachvollziehbare und somit „vernünftige“ Gründe für die individuelle Ablehnung einer Impfung, selbst wenn eine große Mehrheit diese Gründe gegenüber den möglichen Vorteilen einer Impfung für sich selbst als vernachlässigbar ansieht.
Dies führt von den Patientenrechten zum von Lauterbach bemühten kategorischen Imperativ, den Immanuel Kant in der 1785 erschienenen Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ formuliert hat. In der heute vielleicht am besten verständlichen Universalisierungsformel lautet dieser kategorische Imperativ wie folgt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
Bereits jetzt lehnt mehr als ein Drittel der Deutschen eine allgemeine Impfpflicht kategorisch ab. Das ist weit mehr als die Zahl der Ungeimpften. Zu diesen Ablehnenden gehören nämlich auch diejenigen, die – wie der Autor dieses Beitrags – doppelt geimpfte und zusätzlich geboosterte Impfbefürworter sind, aber gleichwohl höchsten Respekt vor der aufgeklärten Entscheidung des Individuums haben.
Eine gesetzliche Impfpflicht könnte stets nur aufgrund eines konkret bekannten Virus und eines konkret bekannten Impfstoffs formuliert werden. Zum Zeitpunkt der jetzigen Impfpflicht-Diskussion haben wir es jedoch mit einer Virusvariante zu tun, die erstens mit den verfügbaren Impfstoffen nur ungenügend bekämpft werden kann, die zweitens hinsichtlich der Gefährlichkeit nur noch im Bereich der Virusgrippe angesiedelt ist und die drittens den Betroffenen einen komfortablen natürlichen Immunschutz verschafft, der sogar gegen weitere Virusvarianten schützt. Mit anderen Worten: Nie war die Diskussion einer allgemeinen Impfpflicht unsinniger als gerade jetzt.
Zu warnen ist daher insbesondere vor einem allgemeinen „Vorratsgesetz“, das bei Auftauchen irgendeines Virus und irgendeines Impfstoffs auf dem Verordnungswege eine Impfpflicht auslösen würde. Diese Version, die manchen Impfpflicht-Fanatikern vorschwebt, um angesichts des Omikron-Paradoxons konkreten Festlegungen entgehen zu können, würde einem Albtraum jenseits Orwell’scher Dimensionen gleichkommen. Wie schnell hier Missbrauch betrieben werden könnte, hat der unverfrorene Druck gezeigt, den genuin autoritäre Politiker wie Markus Söder auf die Ständige Impfkommission ausgeübt haben. Ein solches Gesetz – so viel ist sicher – wäre der Tod der Präventivmedizin in Deutschland.
Dr. Lothar Krimmel ist Facharzt für Allgemeinmedizin und hatte über 20 Jahre leitende Positionen in Gesundheitspolitik und Gesundheitswirtschaft inne.