Es ist die denkbar unfeierlichste Regierungsübernahme, die Olaf Scholz an diesem Mittwoch antritt. Als er im Bundestag mit 395 Stimmen gewählt wird, antwortet er auf die symbolträchtige Frage, ob er die Wahl denn annehme, mit einem schnellen, schlichten „Ja“, ohne aufzustehen. Leicht hektisch fährt er mit seinem Rollsessel einmal zurück und wieder vor und setzt seine schwarze FFP2-Maske wieder auf. Hat er gerade den Regierungsauftrag für die nächsten vier Jahre angenommen oder die Frage beantwortet, ob er auf seine Pommes gerne Mayo hätte?
Er lässt in diesen Sekunden keinen Zweifel: Auch als Bundeskanzler wird er keine der zwei Masken, die er übereinander trägt, ablegen – weder die medizinische noch die menschliche. Seine Gesichtszüge werden starr bleiben, genau wie die Pandemie-Politik. Es scheint, als wisse er selber nicht so ganz, was er hier eigentlich soll. Er will die Rolle des Regierungschefs offenbar nicht annehmen. – Will er denn überhaupt regieren?
Der Übriggebliebene
Dass Olaf Scholz Kanzler geworden ist, ist erstmal unerklärlich. Als Bürgermeister von Hamburg hatte er das G20-Desaster zu verantworten, in der Partei fuhr er eine desaströse Niederlage gegen Esken und Walter-Borjans ein, ließ sich selbst von Kevin Kühnert demütigen und startete in einen Wahlkampf bei 15 Prozent, ohne rhetorisches Talent, ohne inhaltliche Ideen und mit vielen Skandalen im Nacken. Die Privilegierung der Warburg Bank durch den hanseatischen Fiskus etwa fällt in eine Zeit, in der sich der Aufsichtsratsvorsitzende der Privatbank mehrmals mit dem damaligen Bürgermeister Scholz traf. Und dann erhielt der Kreisverband Hamburg-Mitte der SPD auch noch eine großzügige Spende der gleichen Bank. Doch auch mehrere Razzien im Finanzministerium und bei Hamburger Behörden konnten Olaf Scholz nichts anhaben. An die Vorgänge kann sich Scholz nach eigener Aussage nicht mehr erinnern. Kein Wunder: Das kollektive, politische Gedächtnis hat all das ja auch längst vergessen.
Annalena Baerbock exponierte sich als Frau, all ihre Fehler brannten sich in der öffentlichen Wahrnehmung direkt in ihr Gesicht ein, sofort schloss man auf ihre Charaktereigenschaften. Das Gleiche bei Laschet: Das Lachen charakterisierte ihn, die rheinische Frohnatur, tollpatschig, unangemessen – man dachte nun immer an die Zunge zwischen seinen Schneidezähnen und seinen roten Kopf, wenn er von Verantwortung und Vertrauen sprach. Scholz hingegen existiert gar nicht als Person. Keiner hat ihn je gesehen, er schwebte nur in entfremdeten Schwarz-Weiß-Bildern über den Köpfen der Menschen auf den leuchtroten Wahlplakaten dieses Sommers.
Olaf Scholz verlor jede Wahldebatte – argumentativ, rhetorisch, er kam überhaupt nicht in den Raum. Und doch wird die Mehrheit der Befragten ihn als Sieger sehen. Denn sie sahen vor allem Laschets Lacher und Baerbocks Blamagen – Scholz blieb einfach übrig.
Leise gewinnt er weiter
Wer Olaf Scholz ist, weiß wahrscheinlich keiner so recht. Er wirkt wie ein Phantom, jenseits von weltlichen Dimensionen, ohne Vergangenheit und Gegenwart. Eigentlich startete er ja mal beim marxistischen Stamokap-Flügel der Jusos, trat auf einer FDJ-„Friedenskundgebung“ auf; im Bundestag schloss er sich der Parlamentarischen Linken an, dem linken Flügel der SPD. Doch das ist längst vergessen. Als Innensenator in Hamburg führte er den Zwangseinsatz von Brechmitteln zur Beweissicherung bei Drogendealern ein. Später wurde er Gesicht der „Bürgerlichen“ in der SPD und Hassobjekt der parteiinternen Linken. Und jetzt schließlich steht er da, durch alle unüberwindbaren Mauern hindurch diffundiert: Bundeskanzler Olaf Scholz.
Seine Talente liegen offensichtlich nicht an der Oberfläche. Auch nach der Wahl aber gewinnt er unscheinbar weiter: Esken, Walter-Borjans, Kühnert – keiner von ihnen wird Minister. Durch die Ampel-Verhandlungen ging er durch – jedenfalls, was die Posten angeht und seine sozialpolitischen Wahlgeschenke.
Die erste Probe verschlafen
Er hat die Fähigkeit, unentdeckt zu wirken. Das ist im Merkel-Zeitalter des politischen Berlins eine Gabe. Doch er ist auch Gefangener seiner selbst, seine Hülle lähmt ihn, wenn es darauf ankommt, nicht hintergründig und langsam zu handeln, sondern schnell und entschlossen in einer unsicheren Lage.
Aber wahrscheinlich weiß Scholz auch gar nicht, wo er sonst hin sollte. Das „Reformbündnis“ ist doch nur Show, die Vergleiche zur sozialliberalen Koalition sind maßlos überzogen. Er ist kein Reformer, er ist Rationalisierer. Er will durch entpolitisierte Phrasen Seriosität und Vertrauen gewinnen, den Wähler mit wenig innovativen Sozialprogrammen wie der Erhöhung des Mindestlohns locken. Er will einem leise funktionierenden, wenig Aufsehen erregenden Apparat vorsitzen. Beim Ende der Koalitionsgespräche stand Scholz etwas ratlos vor den Kameras und begann schließlich, für die Fotografen eine visionäre Pose zu produzieren – der ausgestreckte Zeigefinger in die Ferne. Schauspielerisch sah das so aus:
Wohlwollend formuliert: Olaf Scholz nimmt den Bummelzug zur Macht. Nicht durch die Medien, nicht durch Aufwiegelung der revolutionären Massen will er ein starker Kanzler werden, sondern langsam, kaum merklich, indem er Posten um Posten besetzt, Gelder um Gelder verteilt. Er stellt sich damit mehr in die Tradition der institutionellen Macht von Kohl und Merkel, als dass er in die Fußstapfen der wortgewandten populären, aber doch am Ende ausgebooteten drei vorherigen SPD-Kanzler tritt. Natürlich hat er von der Meisterin des So-Tuns, als täte sie was, gelernt und gedenkt genauso weiterzumachen.
Olaf Scholz kann sich schon durchsetzen und er kann dafür sorgen, dass das Regierungsgetriebe immer geölt, der Motor gewartet und der Tank ausreichend gefüllt ist. Nur auf die Richtung, in die das Land fährt, auf die großen Linien der Politik, wird er wenig Einfluss haben. Aber das will er auch gar nicht. Bloß nicht.