Wer die politische Entwicklung in Großbritannien verfolgt, konnte den Nachrichten entnehmen, dass die dortige konservative Partei dem Untergang entgegen geht. Wenn kein Wunder geschieht – und für Wunder ist der britische Premier Sunak, der ansonsten durchaus seine Meriten hat – wohl doch nicht ganz der Richtige, dann wird die konservative Partei bei den nächsten Parlamentswahlen nahezu ausgelöscht werden – von den über 350 Sitzen, die sie 2019 gewann, würde sie kaum mehr als 100 verteidigen können.
Sicher, es gäbe, wenn diese Katastrophe eintritt, viele Gründe für einen solchen Niedergang: Die Wirtschafts- und Energiekrise, die Großbritannien zurzeit noch härter trifft als viele Länder des Kontinents, der Umstand, dass die Tories zum Zeitpunkt der nächsten regulären Wahl seit 14 Jahren an der Macht wären, aber auch die innere Zerstrittenheit der Partei und das schwierige Erbe, das Boris Johnson ihr mit seinem eher frivolen Politikstil hinterlassen hat, all dies sind natürlich Faktoren, die den Niedergang der Konservativen mitbedingen.
In Österreich stellt die ÖVP zwar noch den Kanzler, aber die Umfragewerte sind katastrophal, was auch an dem Trümmerfeld liegen mag, das der Illusionskünstler Sebastian Kurz hinterlassen hat. In Italien ist die Democrazia Cristiana, die zum Schluss freilich eher wie die CDU unter Merkel eine Mitte-Links-Partei war, schon längst von der Bildfläche verschwunden. Seitdem wird das politische Feld rechts der Mitte von diversen Volkstribunen beherrscht, unter denen sich Meloni, die jetzige Ministerpräsidentin, im Vergleich zu ihren Vorgängern Berlusconi und Salvini sogar noch durch eine relative Seriosität auszeichnet, trotz der nicht unproblematischen Geschichte ihrer eigenen Partei.
In Deutschland wirkt die CDU weiterhin orientierungslos
Eine solche Entwicklung zeichnet sich in Deutschland jedoch nicht ab. Faktisch gelingt es dem linksliberalen oder auch linken Lager, die Diskurshoheit, die es in den Merkel-Jahren erlangte, weiter durchgehend zu behaupten. Das mag miterklären, warum die Union nach ihrer vernichtenden Wahlniederlage von 2021 auch jetzt nur bescheidene Ergebnisse in den Meinungsumfragen erreicht, jedenfalls dann, wenn man in Rechnung stellt, dass auch in Deutschland wie in Großbritannien der Lebensstandard deutlich fällt und die Regierung nicht den Eindruck macht, der Krise wirklich gewachsen zu sein, was wohl auch die meisten Bürger so empfinden.
Aber die Probleme liegen natürlich tiefer. Der CDU ist das Milieu, das früher eine feste Stammwählerschaft von 30 bis 35 Prozent stellte, schlechterdings weggebrochen, eine Entwicklung, der sich die SPD freilich schon etliche Jahre früher stellen musste. Diese Stammwählerschaft rekrutierte sich aus einem kulturell leidlich homogenen Bürgertum unterschiedlicher Einkommensgruppen, das oft noch kirchlich geprägt war und meist einem eher traditionellen Modell von Familie und Lebensgestaltung anhing. Dieses Bürgertum ist vor allem in den Großstädten verschwunden oder zumindest marginalisiert worden. Säkularisierung, Immigration und die langfristigen Wirkungen der Kulturrevolution von 1968 haben es aufgelöst. Das sind soziale und kulturelle Entwicklungen, die man nicht einfach zurückdrehen kann und die Wahlresultate wie in den 1980er und frühen 1990er Jahren nur noch in seltenen Ausnahmesituationen wie 2013 zulassen.
Die Krise bürgerlicher Parteien ist auch eine Krise des Liberalismus
Aber jenseits dieses sozialen Wandels bleibt die Frage, warum es bürgerlichen Parteien rechts der Mitte auch intern so schwerfällt, eine eigene Position zu finden. Sicher, Programmparteien waren sie nie, aber ein gewisses Profil besaßen sie früher schon, sie standen gewissermaßen für einen bestimmten Lebensentwurf. Das ist heute, wie angedeutet, schwieriger geworden. Aber die Probleme hängen auch mit der Widersprüchlichkeit bürgerlicher Politik in den Nachkriegsjahrzehnten zusammen. Dass der traditionelle Konservativismus des 19. Jahrhunderts mit seinen stark demokratiekritischen oder auch antidemokratischen Tendenzen, soweit er den Ersten Weltkrieg überhaupt überlebt hatte, nach 1945 weitgehend diskreditiert war und nirgendwo stärker als in Deutschland, versteht sich von selbst. Von daher war es kein Wunder, dass die CDU, aber auch andere bürgerliche Parteien in Europa sich politisch eher an der Vorstellungswelt des Liberalismus orientierten, dies aber versuchten, mit einem eher vagen konservativen Lebensgefühl ohne explizite Programmatik konservativen Zuschnitts zu verbinden.
Der französische Philosoph Pierre Manent hat diese Entwicklung mit der Bemerkung kommentiert, heute habe sich die Auffassung durchgesetzt, die einzige Aufgabe des Staates sei es, eine gesellschaftliche Ordnung zu garantieren, in der jeder Einzelne ganz ohne höheres Gesetz – wenn unter Gesetz ein System von Regeln für ein „gutes“ Leben zu verstehen ist – leben kann. Das mag zugespitzt sein, beschreibt aber sicher eine Tendenz des heutigen kulturellen Liberalismus, dem es vor allem um den Schutz von Minderheiten oder Minderberechtigten jeder Art geht, egal ob dies nun sexuelle Minderheiten sind oder nicht-dominante ethnische Gruppen oder wer auch immer. Um diese Schutzbefohlenen vor jeder Form von Kritik zu schützen, scheinen dann auch Einschränkungen der Meinungsfreiheit legitim, da Kritik an solchen Gruppen ja, wie man meint, per se „verletzend“ sei, eine Art von verbaler Gewalt.
Dieser Tendenz stehen traditionelle bürgerliche Parteien eher hilflos gegenüber, denn der linke Ultraliberalismus, der immer neue Sonderrechte für Minderheiten fordert, hat seine Wurzeln zumindest zum Teil in einer Weltanschauung, die auch die Politik von Mitte-Rechts-Parteien in Europa über Jahrzehnte geprägt hat, zumal auch der ausgeprägte Wirtschaftsliberalismus, der lange ein Erfolgsrezept bürgerlicher Parteien zu sein schien, in der Praxis mit der Verteidigung kultureller Traditionen oder auch nur des Nationalstaates an sich kollidieren muss. Es genügt hier, das Schlagwort Globalisierung zu nennen.
Sicher gibt es Länder in Europa, in denen in Reaktion auf diese Umbrüche dezidiert antiliberale Gegenbewegungen heute erfolgreich sind oder sogar die Regierungsgewalt ausüben wie in Italien, Polen oder Ungarn, aber das kann für Länder wie Deutschland oder Großbritannien aus vielen Gründen kaum ein Vorbild sein.
Im Prinzip ginge es für bürgerliche Parteien, die noch eine Politik rechts der Mitte verfolgen wollen, nicht zuletzt darum, stattdessen die Werte des Liberalismus selbst neu zu definieren, etwa indem das Leistungsprinzip gegen die Forderung einer „equality of outcome“ (jeder muss gleich erfolgreich sein unabhängig von seinen Voraussetzungen und Begabungen) verteidigt wird. Auch müsste man sich wieder darauf besinnen, dass gerade eine freiheitliche Gesellschaft ein Minimum sozialer Konventionen benötigt, die ein friedliches Zusammenleben auch ohne ständige staatliche Interventionen ermöglichen, denn sonst verliert eines solche Gesellschaft die Kraft zur Selbstregulierung.
In diesem Sinne müsste man unter anderem dem Prinzip wieder zur Anerkennung verhelfen, dass ein hohes Maß kultureller Diversität für ein Land eher ein Problem als eine Bereicherung darstellt, auch weil das gesellschaftliche Vertrauen, das ein wichtiges Fundament freiheitlicher Gesellschaften ist, zwangsläufig erodiert, wenn eine Gesellschaft sich tribalisiert. Über solche Fragen sinnvoll zu diskutieren, kann jedoch nur gelingen, wenn die Diskurshoheit der politischen Linken überwunden werden kann, was zurzeit fast unmöglich erscheint.
Die Diskurshoheit der politischen Linken muss ein Ende finden – dafür ist die Bildungspolitik von zentraler Bedeutung
Diese Diskurshoheit der Linken haben bürgerliche Parteien aber zum Teil selbst mit gefördert, indem sie daran mitwirkten, durch die immer weitere Expansion der akademischen Ausbildung in den letzten Jahrzehnten und die unsichere Stellensituation an den Universitäten ein großes geisteswissenschaftliches Prekariat zu schaffen, das schon wegen der eigenen persönlichen Lebenssituation kaum konservative Positionen vertreten wird. Die Tendenz, die Universitäten zu ökonomisieren und etwa bei der Drittmittelforschung den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, hat ebenfalls dazu beigetragen, traditionelle Vorstellungen vom intrinsischen Wert der Bildung zu unterminieren. Das hat den Verfechtern linker Wertvorstellungen in die Hände gespielt, zumal es die Sozial- und Geisteswissenschaften für eher konservativ veranlagte Geister unattraktiv gemacht hat, die eher Karrieren in der Wirtschaft anstreben.
Wenn bürgerliche Mitte-Rechts-Parteien eine Zukunft haben wollen, werden sie daher sehr genau über ihre Bildungs- und Universitätspolitik nachdenken müssen, statt diese Politikfelder einfach linken Koalitionspartnern zu überlassen, weil man ja hier wenig wirklichen Schaden anrichten könne, wie man fälschlicherweise meint, oder Bildung nur unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten, wie das heute oft üblich ist, gerade bei bürgerlichen Politikern.
Aber vielleicht muss man auch einfach darauf warten, dass eine weitere Zuspitzung der gegenwärtigen Krisen auch die politischen Koordinaten verändert. Wer hätte gedacht, dass ein Eintreten für militärische Wehrhaftigkeit in Deutschland noch einmal konsensfähig werden könnte, was angesichts des Ukraine-Krieges jetzt ansatzweise doch der Fall ist, zumindest in der Theorie und der offiziellen Rhetorik – in der Praxis vielleicht weniger. Möglicherweise kommt es auch in anderen Bereichen zu einem solchen Meinungsumschwung.
Bis dahin gilt es freilich, der Versuchung zu widerstehen, Zeittendenzen einfach nur hinterherzulaufen, wie es die CDU unter Merkel stets getan hat, auch wenn dies kurzfristig der bequemere Weg zu sein scheint, und daher von den Günthers und Wüsts der CDU auch weiter favorisiert wird. Dieser Weg jedoch führt mit Sicherheit in den Abgrund, so kritisch man die oft eher unbeholfenen Versuche eines Friedrich Merz, einen Neuanfang zu wagen, auch sehen mag.