Es war wie ein Befreiungsschlag für das Links-Establishment. Endlich, sieben Tage nach Silvester, hatten Presse und die in Parteien organisierte Migrationslobby ihr Exempel. Auch außerhalb der Multikulti-Viertel der deutschen Großstädte sollte es Randale an Silvester gegeben haben – ob nun vereinzelt oder nicht, ganz egal. Ein Artikel über Borna machte den Anfang, andere Beispiele aus dem näheren wie weiteren Umfeld waren schnell gefunden. Hauptsache Ostdeutschland. Ein Medientrend war geboren und vervielfältigte sich.
Aber war es wirklich dasselbe, wenn ein paar Jugendliche etwas über die Stränge schlugen? Sind Vorfälle wie in Borna, sicher auch anderswo, auch nur entfernt vergleichbar mit den Ausschreitungen, den Straßenkämpfen und regelrechten Hinterhalten, die in den Problemvierteln Berlins in den ersten Stunden des neuen Jahres gelegt wurden und vor denen die Einsatzkräfte – um Selbstschutz bemüht – zurückweichen mussten? Man darf seine Zweifel haben.
Noch zweifelhafter war nur das „rechtsextreme“ Framing, das bestimmte Medien und – ihnen folgend – Politiker den Vorfällen gaben. Zu diesen Medien gehörte sicher die Süddeutsche Zeitung, die aus einem einzelnen Facebook-Kommentar über rechte Parolen die Berichte gleich mehrerer Anwohner machte: „Anwohner berichten von lauten ‚Sieg Heil‘-Rufen“. Vom SPD-Oberbürgermeister Oliver Urban von Borna erfuhr die SZ am Telefon: „Wir haben hier ein Problem mit jungen Männern, die aus Verachtung für den Staat aufs Rathaus schießen.“ Aha, so so, doch wer sind diese jungen Männer? Deutsche oder vielleicht nicht? Meint Urban etwa Rechtsextreme, traut sich aber nicht, das Wort in den Mund zu nehmen? Das legt die SZ nahe, und so wird sie gelesen. Aber ist da was dran? Den Schaden an seinem Amtssitz bezifferte Urban später im Spiegel auf eine fünfstellige Summe, was ziemlich hochgegriffen scheint. Die nach Borna gereiste Leipziger Zeit-Korrespondentin findet am Montag „allerlei kleine schwarze Flecken“ an der frisch sanierten Rathausfassade, nicht mehr.
Der FAZ-Korrespondent in Dresden begnügte sich derweil mit der Zeitungslektüre und schrieb von „Ausschreitungen … auch in der Provinz“. Er übernahm wie so viele andere auch die falsche Angabe von t-online, wonach 200 Menschen auf dem Marktplatz „randaliert“ hätten. Dabei war das nur die Gesamtzahl der am Bornaer Markt Versammelten, wie die Polizeimeldung eindeutig besagt: „Als Einsatzkräfte am Ort eintrafen, befanden sich knapp 200 Personen am Ort. In der weiteren Folge kam es aus der Gruppierung heraus zum Abfeuern von pyrotechnischen Erzeugnissen in Richtung der Beamten.“
Bei ntv heißt es in der ersten Meldung noch immer unkorrigiert: „200 Personen wüten in Borna“. Und noch am 11. Januar, vier Tage nach dem t-online-Artikel, trägt der Nachrichtensender in einer TV-Kritik die Meinung weiter, dass „vor allem rechtsradikale Deutsche für Unruhen verantwortlich“ seien. Davon gehe die Polizei aus. TE erfuhr schon am Montag anderes aus erster Hand von der Leipziger Polizei. Danach existierte, wenn überhaupt, nur ein einziger Hinweis auf rechte Umtriebe am Bornaer Neujahrstag: Es war der besagte, inzwischen gelöschte Kommentar einer Facebook-Nutzerin über „‚Sieg…‘-Rufe“ vor ihrem Fenster.
Fast die Hälfte der 200 hatten Migrationshintergrund
Der Witz hinter dem verqueren t-online-Bericht, der die ganze Sache ins Rollen brachte, geht im Grunde um die Vornamen der Täter. So präsentierte schon Autor Andreas Raabe, der Leipzig-Redakteur des Portals, seinen höheren Facebook-Aufguss mit Spuren einer Polizeimeldung: „Ein Mob von 200 #Sachsen attackiert an Silvester Rathaus und Polizei mit Raketen und Böllern. Wollen den Bornaer Weihnachtsbaum anzünden. Sehr unchristlich und dem Staat gegenüber respektlos. Vielleicht hier auch mal nach Vornamen fragen …“
Das war schon sehr grob geschnitzt und zeugt eher nicht von der guten „Vernetztheit“ des Autors in der Region. Ob es einen Mob gab, ist unklar. Aber auch „Sachsen“ im umgangssprachlich gebräuchlichen Sinn müssen es keineswegs gewesen sein. Die Recherche der sächsischen Zeit-Korrespondentin Anne Hähnig zeigte ein anderes Bild: Knapp die Hälfte der Anwesenden hatten laut Hinweisen von Bürgern und Anwohnern Migrationshintergrund. Insgesamt – so Hähnig – haben sich „die Dinge“, so wie sie die Bornaer beschrieben, „eher anders zugetragen als bisher berichtet“. Einer der wichtigsten Punkte: „Eine zusammenhängende Gruppe von 200 Randalierern, die rechtsextreme Parolen skandierten, kann hier niemand bestätigen.“
Es ist also nichts mit dem angeblich „monokulturellen“ Bornaer Marktplatz, der ein so schönes Gegenbeispiel für die unübersichtlichen Verhältnisse in Berlin, Hamburg, Essen, Hagen, Garbsen oder Vechta darstellen sollte. Nein, auch Sachsens Klein- und Mittelstädte taugen inzwischen nicht mehr zu diesem Simpel-Exempel. Man muss es nur noch den Hauptstadtbüros und SPD-Präsidien mitteilen, die ihre Stories und politischen Nutzanwendungen immer noch nach diesem Schema stricken. Dank Königsteiner Schlüssel ist Deutschland heute in allen seinen Regionen auch von „Migranten“ besiedelt, die allermeistens nicht um der Arbeit willen ins Land gekommen sind.
Wie sich ein schmissiger Tweet im Blätterwald verselbständigte
Aber die Erzählung vom aggressiven „Mob von 200 Sachsen“, der nicht im Artikel selbst erwähnt wurde, wohl aber in seiner Twitter-PR, war zu schön, als dass ihn sich die Haltungsblätter der Republik entgehen ließen. Besonders gut konnte man sich auf den Braten stürzen, solange die Vorwürfe zum Stichwort „Borna“ noch nicht überprüft waren und man einen – ziemlich dürftigen – Artikel auf dem Nachrichtenportal t-online kopieren konnte. Für die gegen Ostdeutschland noch immer subtil voreingenommene West- und Hauptstadtpresse galt die Kombination aus dem oberflächlich gelesenen Polizeibericht und einigen Nutzer-Kommentaren auf Facebook als neuester Stand der Wahrheit über diese fremde Landesgegend.
So stieg auch der Spiegel in seinen „Bericht“ ein, den man hier exemplarisch für dieses komische „Wirklichkeitsverständnis“ vieler Blätter zitieren kann: „Der Mob hinterließ ein Bild der Verwüstung. Lädierte Fenster und Briefkästen, ein beschädigtes Polizeiauto, kaputte Verkehrsschilder in zahlreichen Straßen der Umgebung. Etliche Randalierer hatten die Gegend unsicher gemacht, seither fragen sich viele in der Stadt: Warum passiert so etwas hier immer wieder in der Silvesternacht, was soll diese entfesselte Gewalt?“
Unnötige Sachbeschädigungen, zweifellos, aber wie normal ist so etwas eigentlich mittlerweile in (nicht nur westdeutschen) Großstädten? In Borna kann man noch von der „guten Stube“ sprechen, die hier beschädigt wurde. In größeren Städten ist diese Beschädigung längst Normalzustand geworden. Nun sollen nicht nur Sachen, sondern auch Polizisten mit Raketen beschossen worden sein. Laut Polizeibericht verfehlten sie eine Kollegin knapp. Am Ende war diese „entfesselte Gewalt“ aber doch nur ein matter Abglanz dessen, was sich an Silvester in der Neuköllner High-Deck-Siedlung und anderswo zutrug.
Daneben wird bei dieser Skandalisierung der angeblich so „deutschen Provinz“ eine zentrale Tatsache vergessen, die auch der Spiegel bemerken muss. In der Menschenmenge gab es einige, die den Weihnachtsbaum zu Fall bringen wollten und deshalb – so Oberbürgermeister Oliver Urban – „die Stützkeile am Ständer“ entfernt haben. Auch das ist kein Kavaliersdelikt, zumal es schon in anderen Jahren geschehen war. Aber wer diese Täter sind, ist „bislang unklar“. Es könnten also durchaus auch die fast 100 Migranten gewesen sein, die laut Anwohnern auf dem Marktplatz versammelt waren.
Politiker-Tweets als Credentials? Eher nicht
Übrigens schreibt auch der Spiegel schlicht den in der Haltungspresse herausdestillierten „Common Sense“ ab. Die Stimmen von Politikern werden dabei als Glaubwürdigkeitserzeuger (neudeutsch Credentials), fast schon Belege, genutzt. So wird der Tweet der CDU-Politikerin Serap Güler zustimmend zitiert, die pauschal von „200 jungen Männern – diesmal wohl ohne Migrationsgeschichte (wichtiges Detail)“ geschrieben hatte – um von den (immer noch unbewiesenen) Sieg-Heil-Rufen zu schweigen. Doch genau das ist eben nicht mehr sicher, seit Anne Hähnig in Borna mit Bürgern und Polizisten sprach.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh fragte wiederum nach den „Vornamen dieser Integrationsverweigerer“, griff also den Dreh des t-online-Schreibers auf und kam so auch in den Spiegel. Der Vergleich der Ostdeutschen mit zu integrierenden Zuwanderern ist aus älteren Debatten bekannt. Die umstrittenen Kommentare eines Ostbeauftragten Marco Wanderwitz gehörten ebenfalls in dieses Genre.
— Helge Lindh ?? (@helgelindh) January 8, 2023