Es gibt viele Fotos von Gerhard Schindler vor dem Gebäude des Bundesnachrichtendienstes in Pullach bei München und dem Neubau in Berlin. So, wie sich der frühere BND-Präsident dort ins Bild setzte – schmaler Mund, konzentrierter Blick, Andeutung eines angedeuteten Lächelns – erinnert er etwas an John le Carrés Spion George Smiley beziehungsweise dessen Filmverkörperung Alec Guinness. Der Geheimdienstler a. D. in dem Restaurant am Potsdamer Platz, in dem wir uns schon einige Zeit vor dem Fall Kabuls trafen, wirkt entspannter als auf den offiziellen Bildern. An dem Achtundsechzigjährigen im hellen Sommeranzug fällt der federnde Gang auf, wie ihn viele Profisportler und Elitesoldaten bis ins Alter beibehalten.
Wir wollen über die Frage sprechen, wie eine Behörde arbeitet, die von Deutschland aus spionieren, überwachen, den Mail- und Telefonverkehr ausfiltern, vor gefährlichen Entwicklungen im Ausland warnen soll – deren Mitarbeiter aber immer weniger klassisches Smiley-Handwerk anwenden dürfen. Für das Thema gibt es kaum einen besseren Fachmann als Gerhard Schindler. Fast sein ganzes Berufsleben verbrachte er im Sicherheitsapparat. Nach seiner Armeezeit als Fallschirmjäger ging er zum Bundesgrenzschutz, arbeitete als Referatsleiter im Inlandsgeheimdienst, als Unterabteilungsleiter für Terrorismusbekämpfung im Innenministerium, als Chef der Abteilung öffentliche Sicherheit und schließlich als Präsident des Bundesnachrichtendienstes, einer Superbehörde mit 6.500 Mitarbeitern und gut einer Milliarde Euro Jahresetat.
Im Oktober 2020 erschien Schindlers Buch: „Wer hat Angst vorm BND?“, ein Ersatz für die Memoiren, die er eigentlich verfassen wollte. Deren Manuskript lag länger als ein Jahr zur Prüfung im Kanzleramt. Anfang 2020 untersagte ihm der Kanzleramtschef die meisten Passagen. Wozu, fragt der oberste Agent in dem Debattenbuch rhetorisch, das er stattdessen schrieb, braucht Deutschland noch seinen Auslandsgeheimdienst, wenn ihm Politiker und Richter immer weniger erlauben? Wäre es dann nicht ehrlicher, die teure Behörde einfach aufzulösen? Als „Wer hat Angst vor BND?“ schon im Druck war, entschied das Bundesverfassungsgericht, der BND dürfe im Ausland nicht mehr so einfach abhören.
Nach Ansicht der Karlsruher Richter gilt jeder der sieben Milliarden Menschen weltweit als Grundrechtsträger, der vor deutschen Gerichten dagegen klagen kann, dass der Dienst aus Berlin sein Telefon anzapft. Auch dann, wenn er damit von Afghanistan aus eine Terrorzelle in Europa steuert. Eine flächendeckende Telekommunikationsüberwachung, wie sie ein westlicher Geheimdienst typischerweise in einem Land wie Afghanistan durchführt, kann es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gar nicht mehr geben. Und ein gezieltes Abhören nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen, aber, siehe oben, mit großzügigen Klagemöglichkeiten. Bis Ende 2021 soll der Bundesnachrichtendienst diese Vorgaben vollständig umgesetzt haben.
Als er mit Parlamentsabgeordneten diskutiert habe, sagt Schindler, sei ihm nach und nach immer deutlich geworden, wie sehr sich deren Verständnis von Geheimdienstpraxis, das sich für professionelle Spione von selbst versteht, mittlerweile von der Auffassung von deutschen Politikern unterscheidet. Parlamentarier, erzählt er, hätten ihn in Hintergrundgesprächen ab und zu gefragt: Aber der Bundesnachrichtendienst hält sich doch an das Recht, oder? „Nein, sagte Schindler dann, „wenn wir im Ausland arbeiten, brechen wir natürlich Gesetze, die dort gelten. Wir hören ab. Wir bestechen, um an Informationen zu kommen.“ Dann sei die Reaktion oft gewesen: aber das können sie doch nicht so offen sagen.
„Ja, soll ich’s denn heimlich sagen?“, fragte Schindler zurück.
Die Grenzen für die deutsche Spionage, meint er, seien schon vor dem Urteil sehr viel enger gewesen als für andere westliche Dienste. „Wir können die Telekommunikation von Rakka nach Damaskus überwachen“, sagt Schindler. Rakka – das war einmal die Hauptstadt des Islamischen Staates. „Aber eben nicht die von Rakka oder von Damaskus nach Stuttgart.“ Das ginge nur, wenn der Nachrichtendienst schon den Namen und den Hintergrund der Zielperson kennt. „Wenn ich aber schon weiß, dass der dort ein Terrorist ist, der Anschläge plant“, er zeigt auf einen Mann am Nebentisch, „dann könnte ich den Fall an die Polizei abgeben.“
Aber um überhaupt schon vorher einzelne Punkte zu erkennen, verbunden oder nicht, muss jemand wenigstens viel von dem Rauschen abfangen, um es dann mühsam filtern zu können.
Dass die Politik dem Geheimdienst in der Bundesrepublik dafür die Grenzen enger und enger zieht, führt zu einem Paradox: Ausländische Geheimdienste überwachen in Deutschland die grenzüberschreitende Telekommunikation sehr gründlich. Vielleicht sogar gründlicher, als es ihre deutschen Kollegen tun würden, wenn sie dürften. Die fremden Dienste brechen damit deutsches Recht, falls sie auf deutschem Boden operieren, so, wie es der BND im Ausland tut. Oder sie arbeiten zumindest in einer Grauzone außerhalb der politischen Kontrolle. Was sie sich im Äther, in Glasfaserleitungen und Datenspeichern holen, dringt höchstens dann dosiert in die Öffentlichkeit, wenn es ein Leck gibt, etwa durch die Veröffentlichungen des amerikanischen Ex-Geheimdienstler Edward Snowden.
Bis 2004 unterhielt die NSA noch sein elektronisches Riesenohr in Bad Aibling mit 1.800 Mitarbeitern, mit dem sie sich in den weltweiten Funkverkehr einklinkte, auch in den deutschen. Dann übergaben die Amerikaner die Anlage an den BND, der sie weiter betreibt, allerdings nach deutschem Recht. An anderen Stellen greifen ausländische Dienste nach wie vor auf deutsche Datenströme zu. Diesen Zustand akzeptieren deutsche Politiker nicht nur stillschweigend. Sie kalkulieren ihn mehr oder weniger in ihre Sicherheitsplanung ein.
Die sogenannte „Sauerland-Gruppe“ konnten die deutschen Behörden nur überwachen und 2007 verhaften, weil die NSA den Funkverkehr zwischen Deutschland und Pakistan überwachte und ihre Erkenntnisse via CIA nach Deutschland weiterreichte. Vier Mitglieder der „Islamischen Dschihadistischen Union“, darunter zwei türkischstämmige Deutsche, hatten sich damals Material zum Bombenbau besorgt, und bereiteten von der sauerländischen Provinz aus einen großen Anschlag vor.
Dafür, den eigenen Spionen zu misstrauen, gibt es in Deutschland historische Gründe, die anderen Ländern erspart blieben: Die Erfahrungen mit allmächtigen Geheimpolizeien im NS-Staat und der DDR. Einen einzelnen zentralen Dienst sollte es deshalb nie geben, dafür eine strikte Trennung von Inlands- und Auslandsaufklärung, hohe Hürden für das Abhören, dichte parlamentarische Kontrolle. Dazu kommt noch der institutionelle Argwohn linker Politiker gegen die Staatsmacht.
Dass amerikanische Dienste mit großer Sicherheit auch in deutsche Unternehmen hineinhören, ist Teil des stillschweigenden Arrangements. Ab und zu traf und trifft es auch die Kommunikation deutscher Politiker, zeitweise sogar die Mobilfunkgespräche der Kanzlerin. „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“, meinte Merkel 2013, als sie im Zuge der NSA-Affäre jedenfalls offiziell vom Lauschangriff auf ihr Handy erfuhr. Geheimdienstler in Deutschland und im Ausland lächelten damals milde. Erstens weiß jeder in der Branche, dass auch verbündete Länder einander ausforschen. Nach einem Bonmot von Charles de Gaulle haben Staaten keine Freunde, sondern Interessen. Und wer von Hinweisen anderer Dienste leben muss, weil er seinen eigenen Diensten lieber rote Linien zieht, der dürfte sich eigentlich nur ganz leise darüber beklagen, dass sich Partnerdienste nur an ihre eigenen Regeln halten.
Der Sicherheitsapparat, in dem Schindler von den Achtzigern an arbeitete, stammt noch aus der Zeit des kalten Krieges, der Blöcke und der sauberen Aufteilung zwischen In- und Ausland. Das galt schon in Schindlers Zeit als BND-Chef nicht mehr. „Die Unterscheidung zwischen drinnen und draußen“, sagt er, „ergibt heute keinen Sinn.“ Der aus Syrien stammende Rucksackbomber Mohammed Daleel etwa, der im Juli 2016 einen Sprengsatz vor einem Weinlokal im bayerischen Ansbach zündete und damit 15 Menschen verletzte, handelte nicht nur als „Soldat des IS“, er stand auch bis wenige Minuten vor der Explosion im Mobilfunkkontakt zu seinen Auftraggebern im Nahen Osten, die ihm Anweisungen gaben und ihn buchstäblich steuerten wie eine Drohne. Umgekehrt reisten zu Hochzeiten des IS dutzende Deutsche ins Kampfgebiet nach Syrien.
Die einzige vernünftige Lösung, meint Schindler, bestünde darin, die Terrorabwehr bei einer Behörde zu bündeln, am besten beim Verfassungsschutz, der dann überall spähen und lauschen dürfte, wo sich eine Gefahr abzeichnet.
Der Geheimdienstpräsident a. D. klingt in manchen Sätzen wie ein professioneller Überwacher, der sich so wenig Grenzen und Regeln wie möglich wünscht. Wer ihm länger zuhört, der bekommt ein etwas anderes Bild von ihm. Er gehört nicht zu den Sicherheitstechnokraten, die jeden Bürger als eine Art biologischen Datenträger oder gleich als Sicherheitsrisiko sehen. Schindler zählt zu einer ziemlich seltenen Spezies, den Altliberalen. In die FDP trat er vor Jahrzehnten wegen der Streitschrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ von Karl Hermann Flach ein. „Das Buch liegt heute noch bei mir zu Hause.“
Wie geht es jetzt weiter mit dem deutschen Auslandsgeheimdienst unter der neuen Rechtsprechung? Es wird weniger abgehört werden, jedenfalls von den Deutschen, glaubt er. Und hofft, dass seine Ex-Kollegen dann wenigstens die Qualität halten, also aus dem viel kleineren Ausschnitt trotzdem noch das eine oder andere Muster herausfiltern. Alles in allem sorgt das Urteil der Verfassungsrichter dafür, dass die Sicherheit der Deutschen in Zukunft noch mehr von dem guten Willen fremder Dienste abhängt.
Es gebe noch ein zweites Gebiet, sagt Schindler, auf dem der deutsche Geheimdienst zumindest zur Hälfte gelähmt sei: der Abwehr von Cyberangriffen. Er darf nach geltender Rechtslage in Deutschland zwar abgewehrt, aber nicht mit einem so genannten Gegenhack beantwortet werden, der den feindlichen Server trifft. Wer einen Server in Deutschland angreift, handelt also mit begrenztem Risiko. Der Grund für die Selbstfesselung ist der gleiche wie für die Restriktionen beim Abhören: Der Wunsch einer Politikermehrheit nach einem Geheimdienst, der sich möglichst nicht wie ein Geheimdienst benehmen soll.
„Es wird immer wieder angeführt, dass wir bei einem Gegenschlag einen Server zerstören könnten, an dem beispielsweise auch ein Krankenhaus hängt. Es gibt Bedenken über Bedenken“, sagt Schindler. „Wir diskutieren jetzt seit Jahren über den Hack back. Der Geheimdienst in der Schweiz hat diese Möglichkeit ganz offiziell. Keine von den Vorbehalten, die hier immer wieder angeführt werden, ist dort bestätigt worden.“
„Von der Schweiz lernen“, sagt Schindler, „heißt siegen lernen.“