Tichys Einblick
Zweifache Geschichtsklitterung

Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt soll umbenannt werden

Nach der Entfernung des Kreuzes aus dem Rathaussaal in Münster, erleben wir hier wieder ein Stück Cancel Culture: eine Un-Kultur des Löschens, Annullierens, Tilgens, Ungültigmachens, Ausradierens. Culture Cancel hier eben als Geschichtsklitterung. Aber das scheint im Auswärtigen Amt jetzt Mode zu werden.

Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt, Berlin, Aufnahme aus dem Jahr 2002

IMAGO / Enters

Das Auswärtige Amt will das „Bismarck-Zimmer“ als den Raum für die allmorgendlichen Besprechungen der Abteilungsleiter umbenennen. Weil wir es nicht glauben wollten, haben wir als TE beim Auswärtigen Amt nachgefragt. Die Frage lautete: „Sehr geehrte Damen und Herren, ist es zutreffend, dass das Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt umbenannt werden soll? Oder ist dies bereits geschehen? Falls ja: Geht diese Entscheidung auf Außenministerin Baerbock selbst zurück oder auf wen sonst? Welche Gründe sprechen für diese Entscheidung?“

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Als Antwort bekamen wir folgende Zeilen: „Bereits 2018 wurde im Auswärtigen Amt über eine Umbenennung des Besprechungsraums ‚Bismarck-Zimmer‘ nachgedacht. Dieser Prozess wurde nun wieder aufgenommen und verschiedene Namensvorschläge im Nutzerkreis dieses Besprechungsraums diskutiert. Der neue Name ‚Saal der Deutschen Einheit‘ soll der historischen Bedeutung des Raums Rechnung tragen, da dort zu DDR-Zeiten das Politbüro der SED tagte.“

Apropos „Dieser Prozess … wird diskutiert“: Womöglich geht es hier um eine Rede der (damaligen) Staatsministerin Michelle Müntefering vom 25. September 2019 anlässlich der Eröffnung der „Women’s Night Out“. Sie hatte aus feministischen Gründen den Namen „Bismarck-Zimmer“ kritisiert.

Abgesehen davon, dass unsere Fragen nicht alle beantwortet wurden, sind wir nun doch ziemlich platt. Vor allem beschleicht uns das Gefühl, dass hier zweifach Geschichtsklitterung betrieben wird.

Womit wir bei der Frage sind: Was ist der Unterschied zwischen George Orwells „Wahrheitsministerium“ (Miniwahr) und dem Auswärtigen Amt der Ministerin Annalena Baerbock? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Ja, den gibt es, aber nur graduell und immer seltener.

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Die ganze Sache erinnert nämlich an Orwells „big-brother“-Regime. Die in Orwells 1984er Romanwelt vorkommenden Menschen werden manipuliert durch ein stets aktualisiertes Wörterbuch der „Neusprache“. An diesem Verzeichnis bastelt der Sprachwissenschaftler Syme. Er sagt zur Hauptfigur des Romans, zu Winston Smith: „Wir geben der Neusprache ihren letzten Schliff … Wir merzen jeden Tag Worte aus …. Es ist lediglich eine Frage der Wirklichkeitskontrolle. … Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist …“ Jetzt also wird der Name „Bismarck“ vaporisiert (Big-Brother-Diktion).

Das Auswärtige Amt liegt damit im „woken“ Trend. Seit Jahren soll es Bismarck an den Kragen gehen. Den geschätzt etwa 700 Bismarck-Denkmälern (Türme, Statuen, Gedenktafeln), die es in Deutschland gibt. Stromlinienförmige Historiker schreiben, Bismarck sei ein Kriegstreiber, ein Anti-Demokrat, ein Kolonialist, ein Monarchist gewesen. „Aktivisten“ möchten Bismarck-Statuen entfernen. In Hamburg wird in der Hansestadt über das 34,3 Meter hohe Bismarck-Denkmal gestritten. Der Afrika-Historiker Jürgen Zimmerer möchte Bismarck „entheroisieren“ und die Granitstatue oberhalb der Landungsbrücken auf den Kopf stellen, hinlegen oder halb eingraben.

Zurück zu Bismarck und zum Kaiserreich – Ein wenig Nachhilfe

Wir erleben hier wieder ein Stück „Cancel Culture“. Eine Un-Kultur des Löschens, Annullierens, Tilgens, Ungültigmachens, Ausradierens. Culture Cancel hier eben als Geschichtsklitterung. Aber das scheint im Auswärtigen Amt jetzt Mode zu werden. Als sich Außenamtschefin Baerbock im Rahmen des G7-Außenministertreffens Anfang November in Münster im historischen Rathaussaal traf, ließ ihr Amt zuvor das große Kruzifix entfernen.

Nun ist im „wokesten“ Deutschland der Geschichte allein schon die Erinnerung an die Reichsgründung von 1871 igittigitt. Als es im Jahr 2021 darum ging, zur 150. Wiederkehr an dieses wichtige Datum zu erinnern, wurde das Thema nur mit sehr spitzen Fingern angefasst. Deshalb, bevor es in Vergessenheit gerät, seien ein paar Fakten festgehalten.

Erstens: Mit der von Bismarck maßgeblich initiierten Reichsgründung wurde Deutschland ein einheitlicher Rechtsstaat. Das Deutsche Reich steht zudem für das Bürgerliche Gesetzbuch, bereits ab 1869 für die Gleichberechtigung der rund 500.000 in Deutschland lebenden Juden, für die Zivilehe und für die Sozialgesetzgebung (mit der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1884 und der Alters- und Invalidenversicherung 1889).

Zweitens: Das Deutsche Reich erfuhr ab 1871 eine gewaltige Dynamik in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur – im Eisenbahnwesen, im Automobilbau, im Maschinenbau, in der Elektrotechnik, in der Optik, im Bergbau, in der Pharmazie (Deutschland als „Apotheke der Welt“). Und es gab einen Gründerboom. Aus einem Agrarland mit 40 Millionen Bewohnern wurde ein führendes Industrieland mit 65 Millionen Menschen. Basis für den Aufschwung und den Wandel waren auch Bildungsreformen: Neben den Gymnasien etablierten sich Realgymnasien, Oberrealschulen, Realschulen und Fachschulen sowie die Gründung von Forschungsgemeinschaften wie vor allem der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ (der Vorgängerin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft). Vor 1914 ging jeder dritte naturwissenschaftliche Nobelpreis nach Deutschland.

Die nachfolgenden Punkte übernehmen wir gerne aus einer Kolumne von Theo Sommer vom 14. Juli 2020.

Drittens: Bismarck war nicht antidemokratisch, denn er verstand sich durchaus auf die parlamentarische Auseinandersetzung der Parteien. Allerdings war er gegen die Sozialistische Arbeiterpartei und gegen Gewerkschaften; von 1878 bis 1890 verboten seine Sozialistengesetze deren politische Betätigung, obwohl einzelne Politiker – etwa August Bebel – im Reichstag saßen und durchaus eine Rolle spielten.

Viertens: Halblang müssen wir es auch mit dem Vorwurf machen, dass der Reichsgründer Bismarck ein Kolonialist war. Nicht von ungefähr ist er ein „widerwilliger Gelegenheitskolonialist“ genannt worden. Als ihm die Franzosen 1870 Kolonien in Nordafrika anboten, wenn er dafür auf Elsass-Lothringen verzichte, beschied er sie abschlägig: „Wir sind nicht reich genug, um uns den Luxus von Kolonien leisten zu können.“ Bei der Berliner Kongo-Konferenz von 1887 setzte er durch, dass „die Rekrutierung von Negertruppen für europäische Kriege“ verboten wurde; auch wurde das Verbot des Sklavenhandels festgelegt. Und sehr lange widersetzte er sich den Ansinnen des Kolonialvereins und dem Drängen besonders der Bremer und Hamburger Kaufmannschaft, in Afrika und Asien deutsche „Schutzgebiete“ einzurichten. Noch 1885 notierte er: „Die Begehrlichkeit unserer Kolonialjingos ist viel größer als unser Bedürfnis und unsere Verdauungsfähigkeit.“


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