In der Stadt sieht man die Sterne nicht. In der Stadt ist es zu hell. Die Städter sind sich selbst Licht genug. Um das Licht der Sterne zu sehen, braucht es Dunkelheit. Die Sterne sind weit weg und das elektrische Licht macht die Städter kurzsichtig.
Auf dem Land sieht man die Sterne weit besser als in der Stadt. Das ist, warum Stadtbewohner die Landbewohner immer verdächtig finden werden – die Landbewohner sehen Dinge, die die Städter nicht sehen! (Klarer noch als in der Stadt sieht man die Sterne in den Bergen, und am klarsten sieht man sie auf dem Meer.)
Es wird kein Zufall sein, dass die Bewohner ländlicher Gegenden nicht nur die Sterne weit klarer sehen, als die Städter es tun, sondern dass auch ihr Sinn für Moral und Ordnung messbar ausgeprägter ist.
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt
Von den Gedanken des Philosophen Immanuel Kant haben zwei sich so tief ins öffentliche Bewusstsein eingegraben, dass man sie sogar dann kennt, wenn man Kant selbst nicht kennen sollte. Der eine Gedanke ist jener berühmte kategorische Imperativ, wonach man nur das tun soll, wovon man wollen könnte, dass es Teil eines allgemeinen würde. (Notiz: wenn man detailliert genug darüber nachdenkt, erlaubt der kategorische Imperativ alles.) Der andere Gedanke ist jener vom Himmel und der Moral.
Der erste Satz des letzten Kapitels (Titel: »Beschluß«) in Kants »Kritik der praktischen Vernunft« geht so:
»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« (Immanuel Kant, KpV, »Beschluß«)
Anders als jener kategorische Imperativ, der mehr über den Sprecher und (zustimmenden) Zuhörer als über moralische Wahrheiten aussagt, so stimme ich diesem berühmten Satz gerne zu! Der »bestirnte Himmel« steht für die Kraft der Natur, steht für »das Ganze« – und Kant setzt es brillant neben jene Kraft, die jemand einmal den moralischen Trieb genannt hat.
Was ist es?
Ich habe die Ideen dieses Textes am 25. und 27. Januar 2020 mit Elli besprochen. Als die Kinder am 27. Januar 2020 bereits schliefen, plante ich die Struktur. Ich stand am 28. Januar 2020 früh morgens auf, als das Haus noch immer schlummerte, ich prüfte noch einmal die Struktur, und dann begann ich zu schreiben. Ich schrieb bis zur Passage »die jemand einmal den moralischen Trieb genannt hat«, als es Zeit wurde, Elli mit einem Kaffee zu wecken und die Kinder mit Musik.
Jetzt arbeite ich wieder an den Zeilen, und ich habe praktiziert, wovon ich heute schreibe. Ich will es als Frage formulieren: Was ist es, das Elli und mich antreibt, unsere Kinder ins Leben zu begleiten?
Nun mögen Sie sagen, das sei doch eine Selbstverständlichkeit, und ich stimme Ihnen ohne zu Zögern zu, doch gerade die Selbstverständlichkeiten sind es, die sich zuverlässig unserem Verständnis entziehen, wenn wir genauer hinschauen, wenn wir sie zu (be)greifen versuchen. Etwa: Was ist es, das ich »Ich« nenne? Oder: Wenn zwei Menschen von »Rot« oder von »Liebe« reden, reden sie denn dann beide von demselben? Und hier entsprechend: Was ist dieses »moralische Gesetz«, das mich treibt, zu tun, was ich für »gut« halte? Was ist es, das mich früh aufstehen und spät schlafen gehen lässt? Was ist dieser »moralische Trieb«, der es mir als Selbstverständlichkeit erscheinen lässt, mein Leben zuerst um meine Familie samt Kindern herum zu ordnen? (Und als nahes Zweites um diese Texte – und damit Sie, die Leser!)
Generation Teilnahmepreis
Wer heute mit Angestellten und Arbeitern spricht, die ihr Geld in der realen Welt verdienen (also nicht etwa mit Schülern, Blabla-Studenten, Journalisten, Politik-Mitarbeitern, Agentur-Freaks oder gewissem NGO-Pack), der hört als fast-schon-täglichen Refrain die Klage, dass die erlebte Realität und die Realität, von der man sprechen darf, ohne sich um die Existenz zu reden, schmerzhaft auseinandergehen. Die Dissonanz zwischen tatsächlicher und erlaubter Wahrheit ist Grundakkord des Deutschland im Zeitalter von Staatsfunk, NGOs und politisch korrekter Lügenwelt, zumindest wenn man mit den einfachen und ehrlichen Leuten redet. – Wer dann mit den ehrlichen, aber nicht mehr so ganz einfachen Menschen redet, also mit größeren Unternehmern und wichtigen Entscheidern, der hört noch weitere Töne.
Eine Melodie, die man von Chefs und Unternehmern hört, ist heute jene vom Wegbrechen der deutschen Wirtschaftskraft, von Auftragskündigungen, Entlassungen und ins Ausland ziehenden Produktionen (aktuell etwa: Bosch verlagert Produktion nach Ungarn, bild.de, 26.1.2020). Eine andere Melodie ist die von dem gruseligen Bildungsstand der nachwachsenden Generation.
Da wäre einmal die formale Bildung. Unternehmern fällt es heute ohnehin schwer, Lehrlinge zu finden (siehe etwa welt.de, 22.7.2019). Zu oft fehlen jenen, die sich dann zumindest zur Aufnahme einer Lehre durchringen, grundlegende Schreibfähigkeiten oder Kenntnisse über die Welt jenseits ihrer Smartphones und Social Media Accounts. (Es hilft nicht, wenn grüne Populisten behaupten, man solle »nach Gehör« schreiben, oder wie jüngst ein grüner Ministerpräsident, in Zeiten von Autokorrektur-Software sei Rechtschreibung nicht mehr so wichtig.)
Noch verbreiteter und auf gewisse Weise noch erschreckender als Mängel in formaler Bildung sind die Mängel an der Bildung des Charakters. Letztes Jahr brachte der Kinderpsychologe Michael Winterhoff sein Buch »Deutschland verdummt« heraus, es fand weit mehr Echo als durchschnittliche Sachbücher es sonst tun; der Auftritt des Autors im Staatsfunk etwa war tagelang Gesprächsthema.
In einem aktuell erschienenen Interview sagt Winterhoff:
»Wenn wir nicht gegensteuern, gerät unsere Gesellschaft in eine katastrophale Schieflage. Unsere Kinder wachsen zu Narzissten und Egozentrikern heran, die nicht auf Andere achten, sich nur um sich selbst drehen und lustorientiert in den Tag leben.« (Winterhoff in focus.de, 26.1.2020)
Die Mahnung des Kinderpsychiaters ist weit mehr als nur Zweck-Alarmismus eines Autors, der sein Buch verkaufen möchte. Es sind Klagen, die man seit nun Jahren hört, man hört es immer lauter auch von Unternehmern, Ausbildern und Personalern: Jugendlichen und jungen Menschen, die neu ins Leben einsteigen, fehlen grundlegende Lebens-Fähigkeiten. Die »Generation Teilnahmepreis« wächst auf in der Überzeugung, jedes Gehirnlüftchen sei eine großartige Idee, aus jeder Begierde erwachse ein Anspruch, und es sei die Aufgabe der Welt, sie zu versorgen. Wer gelernt hat, schon durch eine charismatische Pose auf einem Social-Media-Foto die Anerkennung der Welt zu erlangen, wem seine Kindheit und Jugend lang vorgelogen wurde, die Welt schulde es ihm, seinem Quengeln zu gehorchen, der wird sich schwertun mit Charaktertugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Durchhaltevermögen der Sache wegen und, ja, streckenweiser Selbstaufgabe auf ein lohnendes Ziel hin.
Man könnte es »soft skills« nennen, »Lebensweisheit« oder Charakterbildung – oder einfach: Erziehung. Während amerikanische Social Media Konzerne und Parteien wie die Grünen sich ihre eigenen Konsumenten »erziehen«, indem sie die seelischen Schwächen und Neigungen des Menschen zu ihrem finanziellen Vorteil nutzen, sind produzierende Unternehmen und die Gesellschaft darauf angewiesen, dass Eltern ihre Kindern zu bestimmten Charakter-Eigenschaften hin erzogen haben.
Mehr als Szenenapplaus
Ich wage heute eine These: Jene Kraft, die Eltern antreibt, ihre Kinder zu erziehen und zu charakterfesten Menschen zu machen, und das, was uns antreibt, dem Regierungshandeln und den Propagandalügen zu widersprechen, ist im selben Trieb begründet, und es ist das, was Kant »das moralische Gesetz in mir« nannte.
Wenn ich in politischen Dingen heute mit dem (Öko-)Strom schwimmen und billigen Applaus finden wollte, würde ich tun, als ob der Staatsfunk die ganze Wahrheit sagte, und ich würde laut »politisch korrekt« das fordern, was zu fordern der Karriere förderlich ist. Wenn ich in Erziehungsangelegenheiten von meinen Kindern billigen Applaus erhalten wollte, würde ich ihnen Tablets und Smartphones statt Bücher und Instrumente geben, würde ihnen stundenlanges Social-Media-Surfen erlauben, statt sie zum Lesen, zum Erlernen von Instrumenten und natürlich zur sportlichen Betätigung anzuleiten.
Meine politische Motivation (um das verbrannte Wort »Haltung« zu vermeiden) ähnelt meiner Einstellung zur Erziehung unserer Kinder: Tue, was richtig ist, nicht was dir Szenenapplaus einbringt!
Pflicht und Sterne
Wir, die wir es wagen, der Regierung und dem Staatsfunk zu widersprechen, wir sind wie die Eltern, die ihr Kind nach alten Werten erziehen, die dem Kind widersprechen und nicht selten »Nein!« sagen, weil wir das Kind lieben, weil sein Bestes unser Höchstes ist.
Wenn ich dem Kind »Nein!« sage, dann tue ich das doch nicht aus Hass! Und: Anders als die Propaganda es heute weismachen will, ist es nicht »Hass« und gewiss nicht unmoralisch, der Regierung zu widersprechen, ihr und unseren Mitbürgern die Folgen politischer Irrtümer aufzuzählen, und zu Ende zu denken, wie Regierung und Staatsfunk uns Angst machen, selbst zu denken.
In der Stadt sieht man die Sterne nicht. Die Politik und der Journalismus unserer Zeit sind eine Stadt-Politik und ein Stadt-Journalismus.
In der Stadt sieht man den bestirnten Himmel nicht, und auch die Stimme des moralischen Gesetzes in unseren Seelen droht in der Stadt übertönt zu werden von dummem Lärm und lärmender Dummheit.
Der Tag ist vorangeschritten. Unsere Kinder sind in der Schule. Elli und ich werden gleich einkaufen gehen, um Sachen fürs Abendessen zu kaufen und ein paar weitere Details zu erledigen. Die Tochter braucht Bastelsachen für ein Geschichts-Projekt. Dem Sohn ist es gelungen, an seiner Trainingshose beide Knie aufzureißen. Nein, es bereitet mir keine Euphorie, diese Dinge zu regeln, ich tue es aus einer tiefsitzenden Pflicht, aus der Gewissheit heraus, dass es das ist, was richtig ist.
Es beschert mir keine Euphorie, linksgrünem Wahn zu widersprechen – ich tue es aus der tiefsitzenden Pflicht, aus der Gewissheit, dass es »das ist, was richtig ist«.
Wahrlich nicht jeder Mensch muss die Aufzucht, pardon: die Erziehung von Kindern zu seiner Lebensaufgabe erklären – wer in seiner diesbezüglichen Entscheidung schwankt, dem würde ich sogar abraten, ich würde ihm von durchwachten Nächten und vielen Sorgen erzählen (und nur heimlich hoffen, dass er oder sie es dennoch tut). Den anderen Trieb aber, diese Kraft, die mich sagen und denken lässt, was ich für richtig und notwendig halte, wohl wissend, dass es mir keinen Applaus einbringen wird, die würde ich gern in meinen Mitmenschen wecken.
Kant sprach von »Bewunderung und Ehrfurcht« – es sind nicht falsche, aber gewiss sehr große Worte. Vielleicht wird es weniger angsteinflößend, wenn wir von Freude reden!
Es bereitet mir Freude, wenn Menschen auf den Szenenapplaus verzichten, wenn sie lieber anecken, um sich nicht vor sich selbst zu schämen. Es bereitet mir Freude, wenn Menschen nicht »Haltung« annehmen, weil die Obrigkeit es will, wenn Menschen sich nicht zur politisch korrekten Seelenbrezel verbiegen. Es bereitet mir Freude, wenn Menschen die Aufgabe auf sich nehmen, ihre Kinder nicht nur an Körperhöhe wachsen zu lassen, sondern auch am Charakter.
In der Stadt ist zu viel künstliches Licht und zu viel dummer Lärm, um die Sterne über uns zu sehen oder das moralische Gesetz in uns zu hören. Es freut mich, wenn ich selbst die Gelegenheit finde, in mich hineinzuhören, und die Kraft, dem Erkannten zu folgen. Es gibt mir Hoffnung, wenn Menschen den Mut aufbringen, das Richtige zu tun und die Wahrheit zu sagen, was auch der Preis sein mag.
Es wird nun Zeit, dass Elli und ich aufbrechen, um zu erledigen, was zu erledigen ansteht, Obst, Bastelkram und eine Sporthose kaufend – schnell noch und rechtzeitig, bevor die Kinder aus der Schule kommen, diese gesetzlosen Rabauken.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.