Die erste EU-Wahl fand 1979 statt. Spitzenkandidat der Sozialdemokraten war niemand Geringeres als Willy Brandt. Einer der größten Politiker, den die Bonner Republik hervorgebracht hat. 65,7 Prozent der Berechtigten gingen laut Statista seinerzeit in Deutschland wählen. So hoch war die Wahlbeteiligung danach nie wieder.
Mit 64,8 Prozent lag die Wahlbeteiligung dieses Mal dafür fast wieder so hoch wie zu Brandts Zeiten. Ein erfreulicher Fakt. In der Berichterstattung und in den Analysen kam der überraschend kurz weg. Wobei. Eigentlich nicht überraschend. Denn die zweithöchste Wahlbeteiligung aller Zeiten passt nicht in die Erzählung von „unserer Demokratie“, die in Gefahr sei. Im Gegenteil. Sie demaskiert eben diese Sprachregelung als das, was sie wirklich ist: der Versuch, den Wert der Demokratie vorzuschützen, um dahinter eigene Pfründe, eigene Interessen und eigene Machtinteressen durchzusetzen.
Wenn Politiker sagen, „unsere Demokratie“ sei in Gefahr, meinen sie damit ihren Posten und ihre Aussicht auf eine Regierungsoption. Dann meinen sie ihr schlechtes Wahlergebnis. Wenn Journalisten sagen, „unsere Demokratie“ sei in Gefahr, dann meinen sie die Sorge um die Politiker, mit denen sie klüngeln. Sei es, um an Storys ranzukommen, selbst mal die Seiten zu wechseln oder eine Erhöhung der Rundfunkgebühr durchzusetzen, die immer mehr Bürger am liebsten ganz abschaffen würden.
Das alles liefert die Bundesregierung nicht. Und daran, dass das alles im Argen liegt, haben CDU und CSU durch ihr Verhalten in den Jahren von Angela Merkel nicht zu einem geringen Teil beigetragen. Als Reaktion darauf suchen sich die Wähler andere Parteien. Damit ist „unsere Demokratie“ in Gefahr. Aber nur aus Sicht der bisher Regierenden. Aus der Sicht der anderen tun sie etwas, das demokratischer nicht sein könnte: Die amtierenden Politiker funktionieren nicht, also werden neue gewählt. Das unterscheidet Demokratien von sozialistischen Diktaturen. Sie können nicht funktionierende Regierungen abschütteln.
Die AfD hat bisher diejenigen bedient, die unzufrieden waren. Doch die Menge der Unzufriedenen war derart divers, dass sich nicht alle in der AfD wiedergefunden haben. Also gründen sich neue Parteien. Zum Beispiel das Bündnis Sahra Wagenknecht. Manche haben sich schon in die Verschwörungstheorie verstiegen, das BSW sei nur als U-Boot gegründet worden, um der AfD Stimmen abzunehmen. Die Zahlen zur EU-Wahl erweisen diese Theorie als lächerlich. Gerade mal vier Prozent der BSW-Wähler kamen von der AfD, 34 Prozent hingegen von den Nichtwählern. Rund 750.000 Wahlberechtigte haben dank Sahra Wagenknecht zurück zur Wahlurne gefunden – damit hat sie der Demokratie einen großen Dienst erwiesen. Völlig egal, wie man inhaltlich zu Sahra Wagenknecht stehen mag.
Es sind die, die „unsere Demokratie“ in Gefahr sehen, die „die Demokratie“ tatsächlich gefährden: durch Schauveranstaltungen wie Bürgerräte. Durch Polizeistürme auf Partys, auf denen Jugendliche die falsche Musik hören. Durch anlasslose Kontrolle privater Kommunikation. Durch Schwabbelbegriffe wie „Hass und Hetze“, über die es zu einer Straftat wird, die Regierung zu kritisieren. Durch Paragrafen, die Kritik an Politikern zur Majestätsbeleidigung machen. Durch einen außer Kontrolle geratenen Verfassungsschutz, der mit der gebeugten Presse Bande spielt, um Kritiker der Regierung gesellschaftlich zu vernichten.
Immer mehr spüren die Gefahr, die von denen ausgeht, die „unsere Demokratie“ als Schlagwort im Mund führen. Sie holen sich die Demokratie zurück. Indem sie wählen gehen. Indem sie sich für Parteien entscheiden, die nicht zum bisherigen Machtkartell gehören. Sei es die AfD, das Bündnis Sahra Wagenknecht oder Volt. Sogar die Tierschutzpartei kommt auf 1,4 Prozent. Weil sich 570.000 sagen, dass sie lieber ihre Liebe zu Tieren ausdrücken, als die weiter zu dulden, die „unsere Demokratie“ im Mund führen. Das mag den „Unsere Demokratie“-Akteuren nicht gefallen. Aber es ist gelebte Demokratie. Und ein gutes Zeichen dafür, dass es um „Die Demokratie“ nie so gestanden hat wie heute.