Der parteilose ehemalige Senator für Wissenschaft und Forschung der Hansestadt Hamburg und heutige Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger, warnt unter dem Titel „Gerade in Corona-Zeiten brauchen wir Zuwanderung“ in WELT plus vom 24. Oktober, das am 1. März 2020 in Kraft getretene Fachkräfte-Einwanderungsgesetz könne aufgrund der Corona-Krise als überflüssig gelten. Aufgrund des von der Corona-Politik ausgelösten Wirtschaftseinbruchs und der damit einhergehenden Einreisebeschränkungen sei die Zuwanderung nach Deutschland fast komplett zum Erliegen gekommen. Gleichzeitig vermittle die Zunahme der Kurzarbeiter auf bis zu sechs Millionen (Juli 2020) sowie der Anstieg der Arbeitslosen auf mittlerweile rund 2,8 Millionen (September 2020) den falschen Eindruck, als habe sich nicht nur das Angebot von, sondern auch der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften so sehr verringert, dass eine Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland nicht mehr erforderlich sei. Hinzu komme, dass ausländische Arbeitskräfte viermal stärker von krisenbedingter Arbeitslosigkeit betroffen seien als einheimische Arbeitskräfte.
Alles in allem könne so die Auffassung entstehen, Zuwanderung aus dem Ausland in den deutschen Arbeitsmarkt sei obsolet, weil die Nachfrage nach Arbeit allgemein sinke und für ausländische Arbeitskräfte überproportional nachlasse. Dies gelte insbesondere für die Zuwanderung aus nicht zur EU gehörenden Drittstaaten, die mit Hilfe des Fachkräfte-Einwanderungsgesetzes erleichtert werden sollte. Diese arbeitsmarktpolitische Maßnahme könne aufgrund der andauernden Corona-Pandemie und der mit ihr einhergehenden Wirtschaftskrise als vorerst nicht mehr nötig betrachtet werden.
Nun sind Arbeitsmarktprognosen über längere Zeiträume mit ebenso großer Vorsicht zu genießen wie zum Beispiel Klimaprognosen, beeinflussen doch hier wie da so viele verschiedene, selbst wieder interagierende Faktoren die Entwicklung, dass es schlechterdings unmöglich ist, treffsichere Voraussagen über längere Zeiträume zu machen. Hinzu kommt, dass die jeweiligen Prognosen selbst zu reaktiven Handlungen führen, die deren Eintrittswahrscheinlichkeit verringern. In großen Unternehmen mit einer systematischen Personalplanung wird der Personal- und Qualifizierungsbedarf daher auch längstenfalls mittelfristig für die kommenden fünf Jahre im Voraus geplant. Mehr ist auch weder notwendig noch sinnvoll, handelt es sich bei der Arbeitskraft doch um eine Ware, die sich in aller Regel recht kurzfristig beschaffen oder selbst erzeugen lässt und über längere Zeiträume überdies kaum vorrats- und lagerfähig ist. Die meisten kleinen und mittleren Unternehmen leben vor diesem Hintergrund personalplanerisch eher von der Hand in den Mund und verlassen sich auf ihre eigene Flexibilität wie die des Arbeitsmarktes.
Wie groß die Netto-Zuwanderung aus der EU nach Deutschland im Jahr 2035 tatsächlich sein wird, weiß daher niemand, auch nicht die Bertelmann-Stiftung, deren Studie und arbeitspolitischen Empfehlungen im Übrigen auf Arbeitsmarkt-Prognosen bis ins Jahr 2060 basiert. Relevanter für die Frage, wie die Regierung die Zuwanderung aus Drittstaaten politisch weiter gestalten sollte, ist daher die derzeit für die kommenden Jahre absehbare Lage am Arbeitsmarkt für Zuwanderer. Diese zeichnet sich durch einige auffallende Strukturmerkmale aus, die in dem jährlich erscheinenden Wanderungsmonitoring des BAMF zur Bildungs- und Erwerbsmigration bestens dokumentiert sind.
Nimmt man die Zahlen des Jahres 2019, dann wurden im letzten Jahr an Ausländer insgesamt 1,26 Millionen Aufenthaltstitel und knapp 157.000 Niederlassungstitel erteilt. Von den 1,26 Millionen befristeten Aufenthaltstiteln ergingen rund 938.000 an Asylbewerber und Familiennachzügler. Nur rund 295.000 Aufenthaltstitel wurden hingegen Zuwanderern erteilt, die als Erwerbstätige oder für eine Ausbildung ins Land gekommen sind. Ähnlich verhält es sich mit den 157.000 unbefristeten Niederlassungstiteln, von denen rund 133.000 an Asylbewerber und Familiennachzügler und nur rund 18.000 an Erwerbstätige gingen. Bei den Zuwanderern aus Drittstaaten handelt es sich also weit überwiegend um Asylbewerber und deren Familienangehörige, davon allein rund 492.000 Syrer, Iraker und Afghanen, und nicht um Erwerbs- oder Ausbildungsmigranten. Zwei Drittel bis drei Viertel dieser Asylzuwanderer sind arbeitslos. Von den insgesamt rund zwei Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigten Drittstaatsangehörigen stammen daher auch nur rund 357.000 aus den Asylherkunftsländern.
Diese Zahlen zeigen, dass die Zuwanderung aus Drittstaaten nach Deutschland derzeit über zwei Wege erfolgt: den der Asyl- und Familiennachzugsmigration und den der Erwerbs- und Ausbildungsmigration. Während der eine zunächst in die Arbeitslosigkeit und in vertretbarer Zeit allenfalls für eine Minderheit in Beschäftigung oder Ausbildung führt, führt der andere unmittelbar dorthin. Der Weg in die Arbeitslosigkeit übertrifft dabei zahlenmäßig bei weitem den Weg in Beschäftigung oder Ausbildung. Bei der in Deutschland praktizierten Zuwanderung aus Drittstaaten handelt es sich offenkundig um eine Fehlallokation. Sie beseitigt vorrangig nicht bestehende Mängel an (Fach-)Arbeitskräften, sondern erhöht vor allem das Angebot an arbeitslosen Arbeitskräften.
Nicht nur ihnen würde die Regierung sicher keinen Gefallen tun, wenn sie jetzt angesichts steigender Arbeitslosigkeit mit Verweis auf mögliche Arbeitskräfteengpässe im Jahr 2060 die Zuwanderung aus Drittstaaten massiv beförderte. Helfen würde die Regierung ihnen in ihrer prekären Lage vor allem, wenn sie die Asylzuwanderung aus Drittstaaten mit Hilfe von Artikel 16a des Grundgesetzes soweit drosselte, dass der bestehende Arbeitskräfteüberschuß in der Rezession nicht noch weiter steigt, sondern sinkt. Im Jahr 2019 lag der Zuzug aus dem Ausland mit rund einer Million Asylzuwanderern und Familiennachzüglern jedenfalls weit über den 260.000 ausländischen Zuwanderern, die die deutsche Wirtschaft laut der Bertelsmann-Studie bis zum Jahr 2035 jedes Jahr netto mindestens benötigt.
Erst wenn diese Überversorgung beseitigt wäre, ließe sich in Erwägung ziehen, die Erwerbs- und Ausbildungszuwanderung aus Drittstaaten zu forcieren, sofern Bedarfe nicht national oder aus anderen EU-Ländern gedeckt werden können. Daran scheint dem Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung indes nicht viel gelegen zu sein. Ihm geht es wohl nur um das Interesse der Unternehmen an einem möglichst großen, über Deutschland und die EU hinausgehenden, gering regulierten Arbeitskräftereservoir, egal wie es zustande kommt. Dessen Notwendigkeit begründet er ohne Rücksicht auf die aktuelle Lage sowie die kurz- und mittelfristige Entwicklung des Arbeitsmarktes mit Langfrist-Prognosen, die aufgrund der Komplexität und Dynamik von Arbeitsmärkten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit spätestens bis zu den in den Prognosen avisierten Jahren Makulatur sein werden.