Tichys Einblick: Vor der Sommerpause stellte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sein Rentenpaket vor, das im Frühherbst vom Bundeskabinett verabschiedet werden soll. Die bekannten Stichworte: Haltelinie von 48 Prozent beim Nettorentenniveau, 20 Prozent Beitragssatzgarantie bis 2025, höhere Mütterrente, Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente. Wie bewerten Sie diese Vorschläge?
Bernd Raffelhüschen: Wenn es möglich ist, einen Kreis in ein Quadrat umzuwandeln, dann versucht Hubertus Heil genau dieses Kunststück. Er versucht die Quadratur des Kreises. Tatsache ist: Angesichts des demografischen Wandels kann man das Rentenniveau nicht konstant halten bei konstanten Beiträgen, die Steuerzuschüsse an die Rente unverändert und das Renteneintritts alter da lassen, wo es heute ist. Man muss sich beim Duschen eben nass machen. Also muss man sich entscheiden, was man will: Will man den zukünftigen Steuerzahler belasten, weil man das Rentenniveau konstant hält? Will man den zukünftigen Beitragszahler eben doch noch belasten, ihm das aber erst später erzählen? Oder will man massiv ran an eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit? Aber all das steht ja nicht auf der offziellen Agenda der Regierung. Es steht auf der Agenda, dass wir den Kreis zum Quadrat umdefinieren, ohne dass wir uns in irgendeiner Weise um Mathematik scheren.
Um Adam Riese in der Rentenpolitik anzuwenden, sollte man das Umlagesystem der Renten nanzierung kapieren. Nach meinem Eindruck glauben viele Bürger, sie hätten mit ihren Beiträgen eine Art Kapitalstock aufgebaut, den sie dann im Alter aus bezahlt bekommen.
Das Geld ist weg. Man hat für frühere Rentner bezahlt. Dennoch hat Deutschland eigentlich ein sehr gutes Rentensystem. Wir haben es auch vernünftig aufgebaut. Wir haben eine Basisversorgung durch die gesetzliche Rente. Wir haben durch Gerhard Schröders Agenda 2010, die wir mit der Rürup-Kommission vorbereitet haben …
… Sie waren damals Mitglied dieser Rentenreformkommission, die nach ihrem Vorsitzenden Bert Rürup benannt war …
Ein oft gebrauchtes Argument in der Rentendebatte dreht sich um die sogenannten versicherungsfremden Leistungen. Dabei ist der Steuerzuschuss an die Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt auf dramatische Größenordnungen gestiegen. In dieser Legislaturperiode noch wird er die 100-Milliarden-Euro-Marge im Jahr übersteigen. Gut 26 Prozent der Rentenausgaben sind inzwischen durch Bundeszuschüsse gedeckt. Besteht überhaupt noch eine Lücke zwischen Versicherungsleistungen und versicherungsfremden Leistungen?
Nach meiner Auffassung ist der Bundeshaushalt am Ende der Fahnenstange angekommen. Doch der riesige Zuschuss reicht immer noch nicht. Die versicherungsfremden Leistungen sind einfach überbordend. Andrea Nahles hat in der letzten Legislaturperiode die abschlagsfreie Rente mit 63 eingeführt. Das war eine neue versicherungsfremde Leistung. Die Große Koalition hat damals die Mütterrente II eingeführt. Auch das war eine neue versicherungsfremde Leistung. Union und SPD werden jetzt eine Mütterrente III einführen. Wieder eine neue versicherungsfremde Leistung. Selbst bei der geplanten Verbesserung von Erwerbsunfähigkeitsrenten spielen versicherungsfremde Aspekte eine Rolle. Wenn wir dann noch Witwen- und Witwerrenten und die ganze Vorruhestandsregelung in den Blick nehmen, die ja im Bestand immer noch da sind, dann müssen wir einfach akzeptieren, dass wir jetzt die Quittung für all die Dinge erhalten, die in der Vergangenheit und Gegenwart falsch gemacht wurden und werden.
Können Sie die Höhe der versiche rungsfremden Leistungen quanti zieren?
Wenn man die Beiträge für die Erziehungszeiten aus dem Bundeshaus halt mitrechnet, was die offizielle Statistik ja nicht tut, dann sind wir jetzt bei etwa 30 Prozent Bundeszuschuss zu den Gesamtrentenausgaben. Wenn man Witwen- und Witwerrenten als versicherungsfremd definiert, dann würde das nicht reichen. Wenn man diese nur partiell als versicherungsfremd definiert, dann könnte das in etwa hinhauen. Aber eines ist klar: Mit dem massiven Zugang in die vorgezogene Rente mit 63, und das passiert ja fortlaufend jeden Monat, erfahren wir eine unglaubliche Ausweitung der versicherungsfrem den Leistungen. Das Gleiche gilt für die Mütterrente II und III. Dann reicht nicht einmal dieser gewaltige Bundeszuschuss, um alle versicherungs fremden Leistungen abzudecken. Die spendablen Rentenpolitiker sollten den Steuerzahlern einfach mal ehrlich erklären, warum sie jetzt noch mehr zur Rentenkasse beisteuern sollen.
Das Prinzip kennen wir: linke Tasche, rechte Tasche! Ausweitungen der Rentenleistungen haben ihren Preis, den jemand zu bezahlen hat.
Genau! Sonst hat man das eben statt dem künftigen Beitragszahler dem künftigen Steuerzahler in die Schuhe geschoben. Doch das werden die künftigen Alten eben nicht sein, weil die als Steuerzahler für den Staat bekanntlich weniger ergiebig sind als die aktive Generation. Die Zeche zahlen also die Jüngeren, als Steuer wie auch als Beitragszahler.
Wie aussagekräftig ist eigentlich das vor allem von der SPD so stark in den Fokus genommene Rentenniveau? Bedeutet ein sinkendes Rentenniveau automatisch auch nominal weniger Rente?
Nein, das Rentenniveau sagt aus, wo der künftige Rentner mit seinem Einkommen im Verhältnis zum künftigen Erwerbstätigen steht. Das war bisher ein Wert, der Lebensstandardsicherung im Alter gewährleistet hat. Das können wir allerdings in der Zukunft nicht mehr finanzieren. Deshalb ist 2003 mit der damaligen Rentengesetzgebung der Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt worden, der auch die Finanzkraft der Beitragszahler berücksichtigt. Da die Demografie zu weniger Beitragszahlern, aber mehr Rentnern führt, müssen die Konsequenzen eben auch die Rentner auslöffeln – mit einem sinkenden Rentenniveau. Trotzdem ist die Basisversorgung durch die gesetzliche Rente nach wie vor gewährleistet. Sie allein sichert allerdings den Lebensstandard nicht mehr. Das steht in jeder Renteninformation, die alle Versicherten, die mindestens 27 Jahre alt sind und mindestens fünf Jahre Beiträge bezahlt haben, jährlich erhalten. Für die Lebensstandardsicherung muss man selber auch etwas tun, egal ob man betrieblich und zusätzlich privat vorsorgt.
In den vergangenen Jahren hat der Nachhaltigkeitsfaktor sogar den gegenteiligen Effekt bewirkt. Weil die Zahl der Erwerbspersonen schneller stieg als die Zahl der Rentner, erhöhten sich die Renten stärker. Deshalb liegt das aktuelle Nettorentenniveau mit knapp über 48 Prozent höher als nach früheren Berechnungen.
Das ist aber bewusst so gewollt. Denn wenn die Zahl der Beitragszahler im
Verhältnis zu den Rentnern steigt, dann soll sich das natürlich auch für die aktuellen Rentner positiv auswirken. Eine sinkende Arbeitslosigkeit führt ebenso zu einem steigenden Rentenniveau.
Es gibt vier Stellschrauben in der Rentenversicherung: das Renteneintrittsalter, die Höhe des Beitragssatzes, das Rentenniveau und die Höhe des Steuerzuschusses. Oder gibt es noch andere Indikatoren?
Nein, das ist absolut korrekt. Mit den Reformen unter Gerhard Schröder und der stufenweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters in der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel, die vor allem von SPD-Arbeitsminister Müntefering gepusht wurde, hatten wir drei Viertel der notwendigen Reformschritte für eine demografiefeste Rente zurückgelegt. Doch seither haben wir nur Rückschritte erleben müssen, im Wesentlichen durch Andrea Nahles und jetzt durch Hubertus Heil. Dadurch haben wir uns ohne große Not wieder einen Gutteil der alten Probleme eingehandelt. Die Regierung hätte rentenpolitisch Ruhe bewahren müssen statt dieser aktionistischen Leistungsausweitungen. Für die Zeit nach 2030 hätte aber auf der Agenda in jedem Fall die weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters stehen müssen. Denn das wissen wir doch alle: Die Lebenserwartung steigt auch nach 2030 weiter. Längere Lebenserwartung bedeutet aber eine längere Rentenbezugsdauer. Die erfordert längere Beitragszahlungen, also einen späteren Renteneintritt.
Die Krux besteht darin, dass es keine gesellschaftspolitische Debatte über die Notwendigkeit eines späteren Renteneintritts gibt. Die Politiker haben schlicht Angst vor den Wählern bei diesem unpopulären Thema. Dass die Rentenbezugsdauer seit Jahrzehnten massiv gestiegen ist, nehmen viele gar nicht als Rentenerhöhung wahr. Das strukturelle Problem der Rentenversicherung aufgrund der säkularen Alterung wird ohnehin gern negiert. Die politischen Parteien – von der AfD bis zur Linkspartei – streiten unisono für ein höheres Rentenniveau. Nur die FDP und der Wirtschaftsflügel der Union thematisieren gelegentlich noch ein versicherungsmathematisch notwendiges späteres Renteneintrittsalter.
Wir müssen uns einfach mal vor Augen führen, dass unsere Großelterngeneration für ein Jahr Rentenbezug noch vier Jahre arbeiten musste. Jetzt sind wir bei gut zwei Jahren für ein Jahr Rentenbezug. In Zukunft würden wir unter zwei Jahre für ein Jahr Rente rutschen. Das ist schlicht und einfach unverhältnismäßig und finanziell überhaupt nicht zu stemmen. Deshalb müssen wir dieses Verhältnis über die Zeit konstant halten – entweder mit dem skandinavischen Modell, wo das Renteneintrittsalter mit steigender Lebenserwartung automatisch analog der amtlichen Sterbetafeln steigt. Oder durch eine sukzessive Erhöhung der Regelaltersgrenze in Tippelschritten auf dann 68, 69 oder gar 70 Jahre.
Wolfgang Schäuble hatte sich als Finanzminister schon mal für eine solche automatische Koppelung an die Lebenserwartung starkgemacht, erntete aber überwiegend Kritik.
Die Politik orientiert sich – nicht nur beim Thema Rente – gern an der wichtigen Wählergruppe der Älteren und Alten. Der Medianwähler ist ja inzwischen bereits in einem Alter, in dem er die Rente absehen kann. Schäubles Vorschlag kam übrigens nicht aus dem Bundesfinanzministerium, sondern diese Indexierung gibt es in Schweden und Norwegen bereits seit Jahrzehnten. Und beide Länder fahren damit recht gut.
Hubertus Heil sieht sein Rentenpaket explizit auch als Mittel gegen „Populismus und Schutz gegen wachsenden Radikalismus“. Im Herbst 2015, als im Land die Willkommenskultur noch hochgehalten wurde, haben Sie in einem Gutachten für die Stiftung Marktwirtschaft die langfristigen Kosten der „Asyl-Zuwanderer“ auf einen Gegenwartsbetrag von 900 Milliarden Euro hochgerechnet. Gibt es dazu neuere Zahlen?
Diese Vorstellung ist aber völlig absurd.
Wir werden den Bezug von Sozialhilfe im Alter künftig an Haut und Haarfarbe erkennen können. Das wird zu einer Segregation in unserer Gesellschaft führen, die wir in Deutschland so bisher nicht kannten und die unerträglich ist. Gleichzeitig sind viele dieser Unterqualifizierten langfristig überhaupt nicht in der Lage, über ihre Kassenbeiträge jene Gesundheitsleistungen zu erwirtschaften, die sie in Anspruch nehmen. Wobei diese Feststellung natürlich nicht nur für Zuwanderer gilt, sondern
auch für inländische HartzIV-Empfänger. Auch sie zahlen nur einen geringen Teil dessen, was sie kosten. Wir brauchen also den Steuerzahler, um querzusubventionieren, was in den sozialen Sicherungssystemen jenen Leuten Gutes getan wird, die gar keine Chance haben, das, was sie bekommen, auch zu erwirtschaften.
Wenn ich diese nüchtern-brutalen Erkenntnisse mit den Aussagen führender Politiker und Wirtschaftsvertreter aus dem Herbst 2015 vergleiche – „Mit jungen Flüchtlingen den demografischen Wandel gestalten!“ – dann war das damals ein teurer Selbstbetrug.
Die anerkannten Asylbewerber sind nicht das Problem, die Quote ist ja nicht sonderlich hoch. Problematisch ist die hohe Zahl der Geduldeten, denen der Asylantrag faktisch einen Bleiberechtsstatus verschafft hat. Deshalb brauchen wir einen Umbau unseres Sozialsystems, damit jene eben Sachleistungen bekommen, wenn sie auf ihre Asylentscheidung warten. Wobei die Asylentscheidungen sinnvollerweise schon vor den europäischen Außengrenzen getroffen werden sollten, um eben zu verhindern, dass Menschen, die überhaupt keine Chance auf Asylgewährung haben, ins Land kommen und dann hunderttausendfach langfristig geduldet werden. Wir haben ohnehin schon zu viele Unterqualifizierte im Land, sodass wir an weiteren Kostgängern des Sozialstaats überhaupt keinen Bedarf haben. Unser hochindustrialisiertes Land braucht qualifizierte Zuwanderung. Deshalb müssen wir uns über ein Einwanderungsgesetz gezielt die Menschen aussuchen, die wir für den Arbeitsmarkt brauchen.
Solche klaren Ansagen werden im politisch korrekten Justemilieu der Politik und der Medien sofort mit dem „Rechtspopulist“-Verdikt belegt. Stört es Sie, wenn Sie gelegentlich in eine bestimmte Ecke gestellt werden?
Seit 20 Jahren bin ich jetzt schon in unserem Land als „Neoliberaler“ beschimpft und verschrien worden. Dazu stehe ich und werde weiterhin penetrant fröhlich mit diesem Kompliment leben.
Herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.